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Wie ein Flüchtlingskind mein Leben bereichert

Madeleine Hensel wollte das Thema Flüchtlinge nicht den Medien überlassen. Sie wollte etwas tun - und übernahm eine Patenschaft für die kleine Lulu aus Syrien. Die Geschichte einer bereichernden Begegnung.

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Ich bin nervös. Zum ersten Mal gehe ich durch diese Tür - in eine Notunterkunft, auf dem Gelände der Karl-Bonhoeffer-Klinik, eine ehemalige Nervenheilanstalt in Berlin. In einem der Gebäude hat man hunderte Flüchtlinge einquartiert. Ein karger Zweck-Bau.

Ich steige die Treppen nach oben. Überall Kinder. Wo früher Aktenordner hin- und hergeschoben wurden, sitzen sie, wie Vogelschwärme, auf allen Gängen. Ganz kleine sind dabei, die gerade laufen können, und größere. Lautes Sprachengewirr. Ich verstehe kein Wort. Ich gehöre nicht hierher. Durchatmen. Ich wollte es so.

Ich muss an den Kreißsaal denken, an meinen kleinen schreienden Sohn. Das ist lange her - 26 Jahre. Ab heute werde ich mich also wieder um ein Kind kümmern. Der Gedanke war schon eine Weile in meinem Kopf, hockte da und wartete auf den Absprung. Zufällig hörte ich vom Verein "Kein Abseits", der sich zum ersten Mal um syrische Flüchtlingskinder kümmern wollte und Mentoren suchte. Damit musste ICH gemeint sein. Allerdings - was für ein sprödes Wort: "Mentor". Kann ich überhaupt ein Mentor sein? Vielleicht eine Patin, eine Schwester - dass wir für alles Begriffe brauchen...

Nach langen intensiven Gesprächen im Verein bin ich nun hier. Wir sind 20, die meisten Studenten, die meisten junge Frauen. 20 Menschen in einem Flüchtlingsheim mit über 200 Kindern.

Lulu findet meine kurzen Haare eigenartig

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Dann der Kennenlern-Raum. Ich bin nervös, noch immer, und gehe, wie alle anderen, auf die Suche mit einer zerschnittenen Berlin-Postkarte in der Hand. Wer passt zu mir? Wir halten unsere beiden Teile aneinander. Ich hab sie gefunden. Riesige Augen, die gerade so in das kleine Gesicht passen. "Hallo, ich bin Lin."

, von allen Lulu genannt, ab heute bin ich da für dich. Hol Dich für ein paar Stunden aus dem engen Zimmer, in dem du wohnst mit deinen Eltern und deinen beiden vierjährigen Geschwistern. In Deiner Erinnerung kommt Quamischli, Deine syrische Heimatstadt, nicht mehr vor. Die Hälfte Deines Lebens hast Du in Flüchtlingsheimen verbracht. Vom IS-Terror weißt Du zum Glück nichts.

Ab da an reisen die große und die kleine Schwester in fremde Welten. Ich in ihre, sie in meine. Manche Dinge findet sie eigenartig: meine kurzen Haare, dass mein Gott keinen Namen hat, die harten deutschen Wörter, die mir im Berliner Stadtverkehr rausrutschen und die ich Lulu lieber nicht erkläre...

Zeig mir, was Du magst, Lulu!

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Sie hat nie Hunger. Bis ich begreife, dass sie nicht versteht, was ich ihr vorschlage. Gut, dann gehen wir in den Supermarkt. Lulu, zeig mir, was Du magst! Pizza ja, Nudeln nein, Paprika unbedingt, Möhren nie. Eierkuchen mit Schokolade - jaaa!

Ich würde sie gern so vieles fragen. Doch sie ist erst acht Jahre alt. Wir wurden von einer Psychologin auf mögliche Traumata vorbereitet. Manchmal spüre ich etwas, wenn sie von ihrer Lieblingstante spricht, die sie so lange nicht gesehen hat und von ihrer Freundin aus dem letzten Flüchtlingsheim und ihre große Angst, bloß nicht zu lange weg zu sein von Nisrin und Riad, ihren Eltern. Lulu wischt ihre Traurigkeit weg, weil sie gerade eine Rutsche hinaufklettern muss oder will, dass ich sie fange.

Wir sind Schwestern - für immer

Die ersten Pegida-Demos... ich schäme mich zutiefst und hoffe, dass Lulus Familie nichts davon mitbekommt. Ich habe keine Lust, ausgerechnet ihnen erklären zu müssen, was diese Leute antreibt. Währenddessen: wieder tote Flüchtlinge im Mittelmeer.

Syrien ist kein fremdes fernes Land mehr, Syrien ist Lulu. Und Lulu mag, was die meisten Kinder mögen. Sie liebt es, sich zu verstecken und das Spiel mit dem Holzlöffel: Topfschlagen, sie rennt und singt und tanzt. Kaum im Auto, wirft sie meine HipHop-Kinder-CD an. Sie kann inzwischen jedes Lied mitträllern. Und - versucht mir, erfolglos, arabisch beizubringen.

Sie hat in kurzer Zeit Deutsch gelernt. Wir können in meiner Sprache sehr gut reden, in ihrer Sprache kann ich mir geradeso "Ei" merken. Lulu liebt Spiegelei. Allein damit komme ich nicht weit, ich weiß.

Außer Eier in die Pfanne zu hauen, backen wir Plätzchen, schauen uns Prinzessinnen im Kino an, schwimmen, grasen die Spielplätze ab, streicheln Ziegen auf dem Bauernhof, klettern auf Felsen, malen unsere Träume auf. Jede Woche ein Tag nur für sie - und für mich.

Unser "Tandem" ist fast angekommen, die Patenschaft endet jetzt im Juni. Lulus Familie hat eine Aufenthaltsgenehmigung von drei Jahren. Was auch immer passiert, Lulu. Wir sind Schwestern für immer.

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