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FAS "Mein Adoptivsohn hat das Fetale Alkoholsyndrom – und niemand wusste davon"

Monika Reidegeld
Monika Reidegeld
© Anna Spindelndreier
BRIGITTE.de-Leserin Monika Reidegeld, 71, hatte zwei Jungs adoptiert und wunderte sich, was mit dem einen los ist. Erst 32 Jahre später kam die entlastende Diagnose.

Als ich heiratete, hatte ich klare Vorstellungen davon, wie unser Leben verlaufen würde: Wir würden zwei Kinder haben und später zwei Enkelkinder. Ein Haus hatten wir in jungen Jahren schon gekauft. Was sollte noch schiefgehen? Die 70er-Jahre waren orangebunt, es herrschte der Fortschrittsglaube. Ich musste also nur noch schwanger werden. Wurde ich aber nicht.

Wir dachten an eine Laune der Natur

Ein Leben ohne Kinder war für uns undenkbar. Wir sahen uns kurz an und sagten: "Dann adoptieren wir eben." So kam Stefan zu uns. Es war, als wäre dieser kleine Kerl für uns gebacken worden.

So ermutigt, entschlossen wir uns, ein weiteres Kind zu adoptieren. Aber schon zu Anfang zeigte sich: Dieses Kind war ein Sorgenkind. Mit seinen drei Wochen war er nur 45 cm klein, 2.400 Gramm leicht, sehr schwach und hatte einen viel zu kleinen Kopf. Kein Mützchen passte. Doch wir betrachteten das als eine Laune der Natur.

Beängstigend war aber, dass Tim kaum auf mich reagierte. Er nahm keinen Augenkontakt auf, freute sich nicht, wenn ich morgens ins Kinderzimmer kam. Ich bekam kaum Zugang zu ihm. Stefan war so anders gewesen. Fröhlich, freundlich, anschmiegsam und lustig. Bei einer Familienfreizeit stellte Stefan sich während eines Abendessens unvermittelt auf einen Stuhl und verkündete: "Ja ja, mal essen, mal trinken. So ist das Leben." Der kleine Tausendsassa gewann Herzen im Handumdrehen.

Sein Bruder blieb stumm und verschlossen. Wir ahnten nicht, dass Tim eine schwere Hypothek auf seinen Schultern trug.

Es begann, Zitronen zu regnen

Völlig unerwartet begann unsere Ehe zu schlingern. Sie zerbrach und damit auch die Vorstellung, wie mein Leben zu verlaufen hatte. Ich zog mit den Kindern in eine Wohnung. Zum ersten Mal in meinem Leben stellte ich mein Schicksal zur Rede. Es zuckte mit den Schultern und sagte nur grinsend: "Warte ab."

Mein Rückhalt in der Zeit nach der Trennung war Stefan, mein Sonnenschein. Das ging vier Jahre lang gut. Dann erklärte Stefan: "In der Wohnung ist es wie im Gefängnis. Ich will zum Papa ziehen." Und das tat er.

Meine Seele verkroch sich in den Keller und weigerte sich, wieder hervorzukommen. Und Tim machte mir immer mehr Sorgen. Ich rätselte über sein fehlendes Zahlenverständnis, war irritiert über seinen eingeschränkten Realitätsbezug und konnte mir seine mangelnde Reife nicht erklären.

Ich war empört, dass er sämtliche Vereinbarungen brach und auf soziale Regeln pfiff. Ich war entsetzt über seine riskante Vertrauensseligkeit gegenüber Fremden. Ich legte mich mit ihm an, weil er sein Geld nicht zusammenhielt und geriet in Rage, wenn er "mein" und "dein" nicht unterschied.

Dass er sprachlich trotz allem über eine große Ausdrucksfähigkeit verfügte, trug dazu bei, dass ich ihm mehr zutraute, als er tatsächlich leisten konnte. Aus Überforderung und aufgrund unserer Fehleinschätzungen verhielt ich mich ihm gegenüber oft ungerecht. Ich ahnte nicht, dass all dies Symptome eines Fetalen Alkoholsyndroms sind. FAS entsteht, wenn Schwangere Alkohol trinken.

Als er mich bestahl, konnte ich nicht mehr

Jahre später, nachdem Tim gegen meinen Willen ausgezogen war, brach er Ausbildungen ab, verwahrloste und flog zweimal fast aus seiner Wohnung. Als er mich bestahl, konnte ich nicht mehr und brach den Kontakt ab. Das Leben verlor seine Leuchtkraft. Von orangebunt konnte keine Rede mehr sein. Ich war eine Loserin, meine Erziehungskompetenz war erodiert, mein Leben schien ruiniert. Heulend schrie ich mein Schicksal an: "Warum bewirfst du mich mit Zitronen?" und bewarf es meinerseits mit Fäkalausdrücken. Es zuckte nur mit den Schultern und sagte: "Wer weiß, wozu das gut ist …". Bitte? Wozu sollte das gut sein?

Erst mit 32 Jahren bekam Tim in der Charité in Berlin seine Diagnose bei Professor Dr. Hans-Ludwig Spohr, nachdem er straffällig geworden war. Vertrauensselig wie Menschen mit FAS häufig sind, war Tim nicht bewusst gewesen, dass er an einem Autodiebstahl beteiligt gewesen war. Professor Spohr sagte zu meinem Sohn: "Du hast keine Schuld." Und dann wandte er sich an mich mit dem schicksalhaften Satz:

"Hiermit entlaste ich Sie von sämtlichen vermeintlichen Erziehungsfehlern."

Unfassbar. Einfach unfassbar. Seit diesem Moment hat mein Leben wieder Farbe. Meine Seele traut sich wieder ans Tageslicht.

Heute geht es uns gut

Tim geht es heute gut. Er besucht die Tagesstätte "EigenArt" des Sozialwerks St. Georg und ist Redakteur der hauseigenen Zeitschrift. Außerdem ist er Ensemble-Mitglied einer inklusiven Impro-Theatergruppe … und glücklich.

Die Aufklärung über FAS ist meine Lebensaufgabe geworden. Denn wer weiß schon, dass jede Stunde ein Kind mit einer Fetalen Spektrumstörung geboren wird? Dass oft schon ein Glas Alkohol reicht, um einem Kind einen irreparablen Hirnschaden anzutrinken? Dass es in Deutschland 850.000 Menschen mit FAS gibt – mehr als Frankfurt Einwohner hat? Als Erfahrungsexpertin mache ich nun Schulungen zu diesem Thema, und mit Tim habe ich ein Buch über sein Leben geschrieben. Das Besondere daran ist, dass wir die Ereignisse abwechselnd erzählen, denn Tim hat seine ganz eigene Sichtweise.

Mit meinen beiden wunderbaren Söhnen Stefan und Tim verbindet mich heute ein sehr herzliches, liebevolles Verhältnis. Ich weiß jetzt auch, wofür das alles gut war: Ich habe jede Menge Limonade aus den vielen Zitronen gemacht, mit denen das Leben mich beworfen hat.

FAS: "Mein Adoptivsohn hat das Fetale Alkoholsyndrom – und niemand wusste davon"
© EditionBlaes

Die Autorin: Die ehemalige Verwaltungsangestellte und Trainerin für Autogenes Training engagiert sich in Recklinghausen beim Familienunterstützenden Dienst, beim FASD Deutschland e.V., bei Selbsthilfegruppen und gibt Schulungen über das Fetale Alkoholsyndrom; außerdem ist sie beim Aktionsbündnis AufbruchKlimaVest und bei EsREicht (Bündnis gegen Rechts) aktiv. Privat mag sie Line Dance, Impro-Theater, Singen, Fahrradfahren und schreibt Kurzgeschichten. Gemeinsam mit ihrem Sohn Tim schrieb Monika Reidegeld das Buch "TIM – Ein Leben mit dem Fetalen Alkoholsyndrom" (EditionBlaes, 14,90) .

Brigitte

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