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Isst eigentlich niemand mehr normal?

Früher brauchte man für ein Grillfest nur Würstchen, Nudelsalat und Bier. Heute isst der eine Gast nur vegan, der nächste darf kein Gluten und der dritte boykottiert Großbrauereien. Ulrike Holzner fragt sich: Wann ist Essen eigentlich so anstrengend geworden?

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Seit wir ein altes Haus mit einem schönen großen Garten gekauft haben, nutzen wir jeden sonnigen Anlass für ein Grillfest. Bis vor kurzem war das keine große Sache: Man brauchte Thüringer Bratwürste, ein paar Steaks, Schafskäse, Salat, Getränke - fertig war die Laube.

Diese Zeiten sind wohl vorbei - wie ich nun feststellen musste, als wir die Idee hatten, alte Freundschaften aufzufrischen und ehemalige Kollegen, Nachbarn und sonstige Bekannte zum Grillen einzuladen.

Ich kaufte das übliche ein, plus ein paar Dinge für meinen Lebensgefährten, der vegetarisch isst, und für drei, vier weitere mögliche Vegetarier. Ich selbst bin übrigens Flexitarier, das heißt, ich esse auch manchmal Fleisch (meist Bio, um mein schlechtes Gewissen zu beruhigen).

Zwischen Rohkost und Lactoseintoleranz

Was passierte? Bei der Party stürzten sich auch die Fleischesser zuerst auf den Schafskäse, die vegetarisch gefüllten Champignons und den Kräuterquark. Elisabeth, bis vor kurzem noch Vegetarierin erklärte lässig, dass sie inzwischen Veganerin geworden sei. Außerdem trinke sie nur noch Wasser ohne Kohlensäure. Ob ich welches da hätte?

Bettina hingegen ernährt sich nur noch rohköstlich. "Und ich habe auch eine Lactoseintoleranz!", schleuderte sie mir noch triumphierend hinterher. Ich bemühte ein freundliches Lächeln und fragte: "Was passiert denn, wenn Du lactosehaltige Nahrung zu dir nimmst?" "Och, beim ersten Mal eigentlich noch nichts, aber dann kriege ich Bauchschmerzen, da meine ich, es zerreißt mich". Wäre ja mal eine Alternative, dachte ich inzwischen angesäuert und entsprechend gehässig.

Außerdem erfuhr ich, dass Sabine sich mittlerweile nach einer bestimmten Stoffwechseldiät ernährt, um ihre äußerst ansehnliche Figur zu erhalten. Als ich ihr den Brotkorb reichte, zuckte sie zusammen, als hätte ich ihr illegale Drogen angeboten. Kohlehydrate am Abend, das ginge gar nicht. Schweinfleisch auch nicht. Ob ich nicht etwas Geflügel hätte?

Zwischenzeitlich bezichtigte mich mein Lebensgefährte der Ignoranz. Als Gastgeberin hätte ich mit so etwas rechnen müssen. Wie bitte? Vielleicht muss ich mal die Auswahl meiner Gäste überdenken. Und die meines Lebensgefährten am besten gleich mit.

Wie hältst du es mit der Ernährung?

Resigniert schlich ich in den Keller und suchte stilles Wasser und Bier (alkoholfrei und naturtrüb selbstverständlich, Andreas trinkt jetzt nichts mehr anderes). Gott sei Dank fand ich dabei eine gut gekühlte Flasche Grauburgunder. Mit der setzte ich mich an den Teich und dachte über den Abend nach. Offenbar lautet die moderne Gretchenfrage: Wie hältst du es mit der Ernährung?

Während des zweiten Weltkriegs und in den ersten Nachkriegsjahren erlebten die Menschen lange Phasen des Hungerns. Danach folgte die "Fresswelle" der Wirtschaftswunderjahre. Es wurde gegessen und geschlemmt, man hatte vieles nachzuholen. Das hinterließ irgendwann Spuren, also folgte die Diätwelle in den 70ern.

Gleichzeitig gab es erstmals Tiefkühlkost und vermehrt Fertiggerichte. Irgendwann war die Nouvelle cuisine angesagt, eine leichtere frische Küche, später setzte sich immer mehr der Trend zu ausländischem Essen durch - Gyrosteller, Lasagne und Döner. Auch Fast Food aller Art fand vermehrt Anhänger.

Und heute? Propagiert ständig irgendjemand eine spezielle Ernährungsform - kein Wunder bei dem riesigen Angebot an Nahrungsmitteln. Oft ist das auch nachvollziehbar: etwa wenn jemand aus reiner Tierliebe ganz auf Fleisch verzichtet. Auch bei bestimmten Erkrankungen wie Rheuma ist der Verzicht auf Fleisch angeblich ja hilfreich und in Kulturen, die sich überwiegend vegetarisch ernähren, soll Studien zufolge die Rate an Krebserkrankungen sehr viel geringer sein als hierzulande. So weit, so gut.

Die Selbstoptimierung macht auch vor den Tellern nicht halt

Ich erinnere mich noch gut daran, als die Grünen vor einiger Zeit den Veggieday vorschlugen. Einen Tag in der Woche sollte auf Fleisch verzichtet werden, auch in bundesdeutschen Kantinen. Welch ein Aufschrei ging da durch die Massen! Einen Tag ohne Fleisch, ich fand das geradezu lächerlich. Gesundheitspolitisch sinnvoll hätte der Vorschlag lauten müssen: zwei Tage mit Fleisch, die restlichen Tage ohne. Aber das wäre wohl politischer Selbstmord gewesen.

Es gibt also durchaus extreme Ansichten zum Thema Ernährung. Die einen konsumieren bedenkenlos und auch im Übermaß, die anderen suchen nach einer immer bewussteren und verfeinerten Ernährung. Was versprechen sich die Menschen von diesem Kult um die Ernährung? Die Vermeidung gesundheitlicher Probleme bei Unverträglichkeiten sehe ich ein, auch wenn ich mich manchmal frage, ob diese eigentlich gefühlt oder gesichert sind. Was ich nicht so recht verstehe, ist, wie viel Wind darum oftmals gemacht wird.

Wir sind eben zu Selbstoptimieren geworden, auch bei der Ernährung. Wir möchten jung und lange gesund bleiben und möglichst lange leben. Und weil wir im Gegensatz zu früheren Zeiten gut informiert sind, wissen wir auch, was wir dafür tun müssen. Dadurch ist ein neues Krankheitsbild im Bereich der Essstörungen entstanden, die sogenannte Orthorexie. Die Betroffenen beschäftigen sich geradezu zwanghaft und mit missionarischem Eifer mit gesunder Ernährung; teilweise schränken sie den Kreis der "erlaubten" Nahrungsmittel sehr stark ein und haben Schuldgefühle, wenn sie vom Ernährungsplan abweichen. Kurz: Ihre Gedanken kreisen ständig ums Essen.

Ich plädiere für Ausgewogenheit

Was könnte dahinterstecken, wenn das Essen zur Religion wird? Sich optimal zu ernähren, vermittelt ein Gefühl von Kontrolle. Und wer sich mit einer speziellen Ernährungsform in den Mittelpunkt stellt, hebt sich von der Masse ab. Das stärkt die Individualität.

Dabei wird oft aber einfach vergessen, dass wir nicht nur unseren Körper pflegen sollten, sondern auch unsere Seele. Und die verlangt ab und zu auch Genuss und Gelassenheit. Deshalb plädiere ich für Ausgewogenheit. Die Dosis macht das Gift.

Vielleicht bin ich insgeheim aber auch ein bisschen neidisch. Ich wäre gerne ein disziplinierterer Mensch. Und schlanker. Doch das mit dem Belohnungsaufschub funktioniert bei mir nicht so gut. Bislang jedenfalls.

Nach dem Grillen gab es noch Kaffee. Den Kuchen dazu vertrugen seltsamerweise alle, plötzlich konnte man offenbar ein Auge zudrücken. Der Kaffee war übrigens ein ganz normaler aus der Glaskanne. Ohne Schaum und ohne Latte. Und nein, ich hatte auch keine Sojamilch da, sondern nur die mit dem Bären drauf. Basta.

Bald gehen wir wieder mit lieben Freunden essen. In ein veganes Restaurant. War übrigens meine Idee, ich möchte einmal vegane Küche erleben, die von Profis gekocht wurde. Im Internet schaute ich mir die Speisekarte an. Lecker, vielseitig, es gab sogar eine Dessertkarte. Als ich die Getränkekarte studierte, fiel mir auf, dass es keinen Wein gibt und das Bier alkoholfrei ist. Bei der Tischreservierung fragte ich nach. Wir dürften gerne unseren eigenen Wein- oder Bierflaschen mitbringen, sagte man mir. "Sie bekommen auch Gläser. Wir wollen eben nur selbst keinen Alkohol verkaufen."

Na, dann geh ich jetzt schon mal in den Keller und suche den Grauburgunder.

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