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"Meine Träume nimmt mir keiner - auch der Tumor nicht"

Mit 30 erfuhr Simone Seydler, dass sie einen Hirntumor hat. Erst dachte sie, mit der OP sei das Schlimmste überstanden. Doch der Tumor hinterließ Spuren in ihrem Körper. Bei denen oft nur eins hilft: Humor.
Simone Seydler, 32, lebt in Zürich und liebt das Weltenbummeln. Im Moment ist sie aber hauptsächlich mit Therapien, der Tagträumerei und dem kreativen Schreiben beschäftigt, unter anderem auf dr-simmel.blogspot.ch ? und der Hoffnung, eines Tages wieder große Pläne schmieden zu können.
Simone Seydler, 32, lebt in Zürich und liebt das Weltenbummeln. Im Moment ist sie aber hauptsächlich mit Therapien, der Tagträumerei und dem kreativen Schreiben beschäftigt, unter anderem auf dr-simmel.blogspot.ch - und der Hoffnung, eines Tages wieder große Pläne schmieden zu können.
© privat

Hirntumore braucht kein Mensch. Oder? Der Hirntumor wäre da sicher anderer Meinung und würde seine Daseinsberechtigung für sich beanspruchen. Hätte ich doch nur vorher von meinem "Glück" gewusst, dass mit 30 diese Diagnose auf mich wartet, ich hätte mich vielleicht ein bisschen darauf vorbereitet.

Aber nein, warum auch? Ich war ja viel zu beschäftigt damit, Spaß zu haben und die Welt auf den Kopf zu stellen. Leben nennt man das, glaube ich, und davon hatte ich reichlich und viel.

Mein Kopf war anscheinend schon eine Weile ziemlich beschäftigt mit dem Tumor, denn so ein Verbrecher wächst bekanntlich nicht von heute auf morgen. Ich hatte aber weder Zeit noch Lust auf ihn, also rein und raus aus dem Spital, dachte ich. Schmerzen und Erbrechen lassen sich sicherlich ertragen, wenn draußen vor der Türe die Sonne scheint und das Leben auf einen wartet.

Bis es eben nicht mehr ging, hatte man mir später berichtet, denn den letzten Notfallbesuch kann ich nur anhand von Erzählungen wiedergeben. Da schlug der Mistkerl nämlich richtig zu und man schaute mir doch mal in den Kopf. Und ich fuhr mit 200 Sachen gegen die Wand: "Bitte alle aussteigen, hier ist erst einmal Endstation."

Ich brauchte Hilfe bei den einfachsten Dingen

Der Tumor ist weg, die Probleme sind es nicht. Wie kann man nur so Banane sein. Also metaphorisch meine ich, im Kopf, denn zu Obst bin ich noch nicht mutiert. Da wacht man auf der Intensivstation mit den verrücktesten Diagnosen auf, versteht erstmal gar nichts, ist halb blind und merkt trotzdem erst langsam, dass man ein bisschen plemplem ist: Wie durch einen Schleier nahm ich all das anfangs war und fast schon mit Desinteresse.

Vielleicht lag es an den Schmerzmitteln, dem Schock und daran, dass man mir gerade erst acht Stunden am Gehirn herumgeschnippelt hatte. Dass ich aber plötzlich bei allen möglichen Dingen Hilfe brauchte, irritierte mich dann doch ein wenig.

Die Diagnosenliste ist lang: Wortfindungs-, Gleichgewichts- und Koordinationsstörungen, Gesichtsfeldausfall rechts, räumliche Wahrnehmungs- und Kurzzeitgedächtnisstörungen und so weiter und so fort. Das wird einem so nebenbei erklärt, als wäre es der Wetterbericht von morgen.

Wegen des Gesichtsfeldausfalles sah ich alles, als wäre ich in einem leichten Rausch, die rechte Seite hatte sich in ein schwammiges Etwas aufgelöst. Und dann teilte man mir auch noch mit, dass ich nun schielen würde. Halleluja, das reichte wirklich erst einmal an Informationen.

Ich fühlte mich wie dauerverkatert - nur ohne den Samstagabend-Spaß

Simone Seydler in der Klinik
Simone Seydler in der Klinik
© Privat

Bevor ich mich überhaupt fragen konnte, was eigentlich passiert war, ging auch schon die Reha los. Sollte ja alles wieder werden, irgendwie.

Treppen laufen mit den Physiotherapeuten, Sprechtraining mit der Logopädin, Lese- und Schreibstunde in der Ergotherapie oder Kochen, nur um zu sehen, dass ich das totale Chaos bin und nicht einmal eine Gurke schneiden kann, ohne zu verbluten oder überhaupt den Namen dieses Gemüses zu wissen. So wurde ich von einer Therapie zur anderen geschleppt - zwischendurch ein kleiner Schmerzcocktail, damit es dann auch weitergehen konnte.

Nächster Programmpunkt: Krankheitsbewältigung bei der Psychotherapeutin, die aber viel spannender fand, wie ich nur meine französische Lovestory beenden könnte. Der Charmeur, der sich seit der letzten Australien-Reise bei mir eingenistet hatte, lebte dort wie eine Made im Speck.

Da mir zu meiner Krankheit sowieso die Worte fehlten und ich den Typen wirklich nicht loswurde, weil er in seiner Weisheit der Meinung war, ich sei hirntumorverwirrt, kam mir dieses abschweifende Thema gerade recht.

Weiter im Plan mit Gedächtnis- und Sehtraining bei den Neuropsychologen und frustrierenden Rechenaufgaben, weil man ja schon vorher kein Mathegenie war. Das interessierte in der Reha aber keinen und ab jetzt kannten einen sowieso alle besser als man sich selbst.

Es war zum Haareraufen - und dann auch noch diese Schmerzen. Sollten die nicht eigentlich weg sein? Nein, jetzt waren sie ständig da! Nicht nur, dass ich den geraden Gang verlernt hatte und stattdessen durch die Gegend torkelte, nun fühlte ich mich auch noch, als hätte ich einen Dauerkater, bloß ohne Samstagabend-Spaß.

Spinnen die eigentlich alle um mich rum?

Ab und zu mal aufmunternde Worte. "Sie dürfen jetzt auch allein in den Speisesaal." Toll! "Treppenlaufen geht ja schon prima." Na super! "Haben sie Geduld." "Denken sie um." "Alles wird gut."

Anscheinend bekam jeder Mitarbeiter einen Prospekt mit Mutmach-Standardsätzen in die Hand gedrückt. Hatte der Neurochirurg nicht gesagt: "In einem Monat sind sie wieder die Alte"? Na, war ja auch egal, und zum Glück kann man mit einer Banane im Kopf einem Gedanken nicht länger als zehn Sekunden nachhängen. Ein Vorteil in so einer Situation.

Dann wird man nach über drei Monaten nudelfertig nach Hause entlassen, möchte sein eigenes Reich zurückerobern und bekommt prompt sein erstes blaues Auge, weil die Wohnung für einen Gesichtsfeldausfall einfach zu klein ist. Diese verdammten Türrahmen! Aber auch damit lässt sich leben, und daher denkt sich die Banane im Kopf: Das reicht noch nicht!

So habe ich nur ein paar Tage später den ersten epileptischen Anfall, der nicht der einzige bleiben soll, bis heute. Es ist eben nicht alles wieder herstellbar. Heißt: Da will man nur mal eben los, um Milch zu holen für sein Käffchen, steigt ahnungslos in den Zug und wacht plötzlich in der nächsten Stadt auf, weil man einen Epianfall hatte.

Immerhin muss man die Fahrt nicht zahlen, weil der Schaffner sich denkt: "Die arme, crazy Tumortante." Das Geld für die Milch hat man auch gespart. Kaffee gibt's diesmal nur schwarz. "Lieber mal ins betreute Wohnen", denken sich da die Ärzte. "Epi-Helm", denken sich die Neurologen. "Spinnen die?", denke ich mir.

Meine Traumwelt kann mir keiner nehmen

Fluch und Segen der Spitzenmedizin: Mit der Lebensverlängerung steigt nicht immer auch die Lebensqualität. Gangunsicherheit, Gesichtsfeldausfall, Epilepsie, chronische Kopfschmerzen, täglicher Tablettencocktail inklusive Nebenwirkungen und auch das Kurzzeitgedächtnis scheint im Spitalabfall geblieben zu sein, wie so manch anderes auch aus meinem Gehirn, und alles braucht nun so endlos viel Zeit. Es gibt noch Schlimmeres, aber man braucht schon ein dickes Fell.

Die Welt da draußen, die muss noch auf mich warten und so lange reiße ich einfach die Herrschaft meiner Traumwelt an mich. Dort gibt es keine Therapien oder Kopfschmerzen, keine Übelkeit, keine Angst vor Hirntumoren oder Epianfällen und keine Invalidenrente. Dort liege ich mit einem eisgekühlten Wein unter einer Palme am weißen Sandstrand und jammere über meinen Sonnenbrand, weil ich nämlich sonst keine Probleme habe.

Diese Welt kann auch kein Hirntumor mir nehmen.

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