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"Was willst Du denn auf dem Gymnasium?" Mein Weg vom Arbeiterkind zur Professorin

Die Geschichte einer ungewöhnlichen Bildungskarriere: Vater Gastarbeiter, Mutter Hilfsarbeiterin, die Brüder im Gefängnis - in der Biographie von Rosa Maria Puca war vieles vorgesehen, nur keine Hochschulkarriere. Wie sie es trotz widriger Umstände zur Professorin geschafft hat, erzählt sie in der Leserkolumne "Stimmen".

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"Du? Was willst Du denn auf dem Gymnasium? Du kannst doch noch nicht einmal richtig Deutsch!" Das war die Reaktion meiner ehemaligen Deutschlehrerin auf meine Aussage, nach dem Realschulabschluss zum Gymnasium wechseln zu wollen. Sie hatte mich nach meinen Plänen gefragt. Diese Verbalkeule weckte nun Zweifel in mir. Die Deutschnote war tatsächlich ein Schandfleck auf meinem Zeugnis und unberechtigt war sie auch nicht. Trotzdem haben die Worte mich tief getroffen, hießen sie doch in meiner Übersetzung: "Lass es! Du hast eh keine Chance!" Heute leite ich in Motivationsförderungsseminaren Lehramtsstudierende zur Reflexion darüber an, welche Wirkung solche Äußerungen auf junge Menschen haben können. Eine Rückmeldung, die die Botschaft birgt, ein Defizit sei nicht behebbar, ist ein Frontalangriff auf das Selbstwertgefühl. Um das ist es im Jugendalter ohnehin oft nicht zum Besten bestellt. Sie weckt zudem wenig Zuversicht für die Zukunft und raubt einem jegliche Motivation, die Situation zu ändern. "Das werden wir ja sehen," habe ich dennoch mehr trotzig als resigniert gedacht, und so bin ich im Sommer 1982 als chancenloser Underdog ins Gymnasium eingetreten.

Dies war die zweite Stufe meines Bildungswegs. Bereits für die Aufnahme in die Realschule waren einige Hürden zu überwinden gewesen. Als Tochter einer Hilfsarbeiterin und eines Gastarbeiters war ich, bei nur durchschnittlicher Leistung, selbstverständlich für die Hauptschule vorgesehen. Leider neigte meine Mutter dazu, Meinungsverschiedenheiten mit dem Lehrkörper zuweilen drastisch zu lösen. Die Ohrfeige, die sie dem Mathelehrer meines Bruders verpasste, hatte meine Chancen auf einen Bildungsaufstieg wahrscheinlich nicht gerade erhöht.

Meine Eltern haben beide die Schule ohne Abschluss verlassen, mein Vater, weil man in Italien damals eine vierjährige Grundschulausbildung für ausreichend hielt, meine Mutter, weil ihre Pflegeltern fanden, dass es für eine Vierzehnjährige an der Zeit war, ihr eigenes Geld zu verdienen.

Ich weiß bis heute nicht, was mir damals eigentlich an der Vorstellung, zur Hauptschule zu gehen, so missfallen hat. Ich weiß aber noch genau, dass ich am letzten Tag der Anmeldefrist so bitterlich geweint habe, dass meine Eltern schließlich nachgegeben und mich in der Realschule angemeldet haben. Meine Mutter, sonst von eher rustikalem Charme, hat im Aufnahmegespräch nicht aufgehört, sich für ihr Ansinnen zu entschuldigen. Sie war etwas beruhigter, nachdem der Rektor ihr versichert hatte, dass die Kinder seine Schule nicht deshalb besuchten, weil sie schon so viel wüssten, sondern weil sie dort etwas lernen sollten.

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Das Lernen hat mir immer Spaß gemacht. Meine Noten, überwiegend im guten bis durchschnittlichen Bereich, haben allerdings zu Hause wenig Beachtung gefunden. Dort war man zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt. Die Schule war für meine Eltern ein notwendiges Übel. Für mich war sie eine Rettungsinsel, auf die ich aus unserer schwierigen familiären Situation entkommen konnte. Einige Lehrer wussten um diese Situation. Ihr Verständnis hat mir damals sehr geholfen, in der Spur zu bleiben.

Meine Eltern ließen sich scheiden, als ich 11 Jahre alt war. Mein Vater hat sich von vornherein der Unterhaltszahlung entzogen und sich bald darauf in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ins Ausland abgesetzt. Illegale Geschäfte. Er wäre sonst festgenommen worden. Meinen älteren Bruder hat er mitgenommen. Der Abschiedsgruß war eine verwaiste Wohnung mit einer halbvollen Tasse Kaffee und einem angebissenen Brötchen auf dem Küchentisch.

Meine Mutter, die schon genauso bald ein Kind von ihrem „bald darauf Ex-Lebensgefährten“ bekam, musste nun sich selbst und zwei Kinder mit ihrem geringen Hilfsarbeiterlohn beziehungsweise ihrem Arbeitslosengeld ernähren. Das Geld hat nie gereicht. Oft konnten wir Strom und Heizkosten nicht bezahlen, mussten uns mit Möbeln vom Sperrmüll und abgelegter Kleidung von Bekannten zufrieden geben. Manchmal hatten wir auch nicht genug zu essen. Dass ich nicht den in der Schule angesagten Modestandards entsprach, hat mich am wenigsten belastet. Wir hatten ganz andere Sorgen.

Mit 18 bin ich von zu Hause ausgezogen, auch weil ich dort nicht für die Schule lernen konnte. Meinen Lebensunterhalt habe ich durch Schüler-BaföG, Nachhilfestunden in Französisch und Latein, sowie kleine Nebenjobs bestritten. Während der Gymnasialzeit wurde mir klar, dass ich studieren wollte. Ich wollte mehr, vor allem mehr Wissen. Dieses Gefühl ist mir bis heute geblieben. Nach dem Abitur und einem Jahr Arbeit in einer Werkzeugfabrik begann mein Psychologiestudium. Durch die Fabrikarbeit hatte ich mir eine finanzielle Grundlage für das Studium geschaffen. Und als geübte "Plastikgriffe-an-Schraubendreher-Anbringerin" konnte ich später mit einem Nebenjob in dieser Fabrik gut mein BaföG aufbessern.

Den Schraubendreherjob habe ich irgendwann nicht mehr gebraucht, da mir eine der begehrten Stellen als studentische Hilfskraft angeboten wurde. Dabei ging es um das Thema Motivation - ein Thema, für das ich von Anfang an gebrannt habe. Bald war mir klar, dass ich Wissenschaftlerin werden wollte. Also trat ich den Weg an, den man in Universitätskreisen auch die Ochsentour nennt - Diplom, Promotion, Habilitation. Und dann kam eine lange Durststrecke auf dem Weg zur Professur. Das bedeutete, sich mit Vertretungsstellen, verbunden mit genauso viel Frust wie Ortswechseln, über Wasser zu halten. 2010 wurde ich zur Universitätsprofessorin ernannt. Nun hatte ich endlich eine unbefristete Stelle, die weit über das hinausging, was ich mir zu Beginn meines Bildungswegs je erhoffen hätte.

Meinen beiden inzwischen verstorbenen Brüdern ist leider eine ähnliche Entwicklung verwehrt geblieben. Ohne Schulabschluss und Berufsausbildung waren sie zeitlebens auf staatliche Unterstützung angewiesen. Da sie diese dann mit wenig gesetzeskonformen Nebentätigkeiten aufbesserten, gehören Verwandtenbesuche in Justizvollzugsanstalten auch zu den Erfahrungen, auf die ich gern verzichtet hätte.

Ich weiss nicht, warum die Entwicklung meiner Brüder so anders verlaufen ist als meine. Vielleicht haben sie sich durch Misserfolge und ungünstige Rückmeldungen mehr entmutigen lassen. Vielleicht haben sie aber auch nicht rechtzeitig erkannt, dass man in den Spiegel schauen muss, wenn man die Person sehen will, die für einen verantwortlich ist. Man kann aus den Steinen, die einem im Weg liegen, eine Treppe bauen. Dafür muss man die Steine aber selbst in die Hand nehmen. Das kann sehr anstrengend sein, aber es lohnt sich.

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