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Die Ordnung der Dinge: Vom Leben mit einem autistischen Kind

Kind mit Spielzeugflugzeug sitzt vor Wand
© Africa Studio / Shutterstock
Das Leben eines autistischen Kindes braucht das Immer-gleiche, weiß Henrike Voigt. In der Leserkolumne "Stimmen" erzählt sie, warum ihr Sohn wie ein Computer denkt. Und wie er sie damit manchmal ins Grübeln bringt: Lebe ich etwa in der falschen Welt?

Einer meiner Söhne ist ein Aspi, ein ASSler. Autismusspektrumstörung, Asperger Syndrom. Das gilt als Krankheit, anerkannte Behinderung.

Ist er krank, behindert? In der Tat ist er oft durch seine Sicht auf die Welt eingeschränkt im täglichen Leben. Behindern ihn seine Denkmuster in unserer komplexen Welt. Aber als Krankheit bezeichne ich das nicht mehr. Sondern vielmehr als eine spezielle Art der Informationsverarbeitung. Und in manchen seiner eigenartig anmutenden Verhaltensmuster erkenne ich schlicht Strategien, sich zurechtzufinden. Eine Ordnung herzustellen.

Ein früher Morgen. Ich bin allein zu Hause und putze das Kinderzimmer meines Sohnes. Das ist schwierig, da ich mich im ständigen Bemühen bewege, seine Sachen nicht zu verrücken, möglichst wenig zu verändern. Der Junge ist ein sehr ordentlicher Mensch. Prinzipiell und nach den Maßstäben eines Teenagers sowieso. Bereits als Fünfjähriger faltete er abends sorgfältig seine Sachen, bevor er sie in den Schmutzwäschekorb legte. Ordnung ist für Menschen mit einer Autismusspektrumstörung das A und O. Dinge haben einen Platz, Abläufe sind definiert. Essen gibt es immer zu einer bestimmten Zeit, jeder hat seinen angestammten Sitzplatz am Tisch.

Das ist immens wichtig. In einer Welt, in der er immer wieder lernen muss, dass Menschen Dieses oder Jenes meinen, wenn sie so oder so gucken, und oft etwas sagen, was aber etwas ganz anderes bedeutet, ist verständlich, dass Ordnung und Struktur einen ganz wichtigen Stellenwert einnehmen. Quasi als Gerüst einer volatilen, sich permanent verändernden Umwelt. Planänderungen und geforderte Spontaneität erzeugen Verunsicherung und Verweigerung. Die Inflexibilität gegenüber Veränderungen ist sprichwörtlich autistisch. Dinge, die er zum ersten Mal erlebt, werden in ihrem Ablauf als Ordnung eingestuft. Als Standard. Die Enttäuschung im Gesicht meines Sohnes, der seine Lieblingssuppe mit den Worten "Die schmeckt aber gar nicht!" zurückschiebt und meine erfolglosen Bemühungen, ihm zu erklären, dass eine Suppe jedes Mal in Nuancen anders schmeckt. Ganz einfach, weil es unmöglich ist, immer exakt das gleiche Geschmackserlebnis zusammenzukochen! Darauf gibt es nur eine mögliche Antwort seinerseits: "Und, warum?" Ja, warum.

Eigentlich ist seine Denkweise leicht zu verstehen: Es gibt nur die Zustände 1 und 0, true, false. Wie bei einem Computer.

Weil das Kind mit seiner besonderen Art schon eine ganze Weile bei uns lebt, habe ich gelernt, mich dem anzupassen. Dazu gehört, dass ich verstehe, dass ihn der Staub in seinem Zimmer möglicherweise stören mag, aber die Vorstellung, dass ich im Zusammenhang mit dem Staubwischen seine Dinge verschiebe, verrücke, ihren Platz verändere und somit seine Ordnung, versetzt ihn in eine Stresssituation.

Aber er wird lernen, dass kleine Veränderungen und Abweichungen nicht zwangsläufig bedeuten, dass die Welt einstürzt. In kleinen Schritten.

Mein großer Junge bewohnt nach wie vor ein typisches Kinderzimmer. Auf die Ankündigung, ein cooles Jugendzimmer daraus machen zu wollen, kam prompt: "Auf keinen Fall!". So schläft er in einem viel zu kleinen Hochbett, ein Foto aus Kindertagen mit einem Nachbarskind steht seit Jahren unberührt auf dem Regalbrett. Ebenso eine Flöte, die er gar nicht benutzt.

Seltsam mag vielleicht anmuten, dass er keinerlei Strukturempfinden hat für notwendige Dinge "von außen". So gibt es überall Plakate und Zettel, auf denen steht, was morgens, nachmittags, abends, sonntags gemacht werden muss. Der Tagesablauf wird durch piepende Timer bestimmt. Und muss immer wieder nachkontrolliert werden. Auch die Schrittfolge mancher Handlungen wird oft nicht eingehalten. Das ist, als beobachte man jemanden, der sich die Zähne mit Wasser putzt, im Nachhinein Zahncreme auf die Bürste macht und diese in den Becher stellt. Aber das ist eben so. Dieses Kind, dieser junge Mann, ist eben so. Erklären, zeigen, erklären. Und irgendwann ist der Ablauf abgespeichert. An vielen Tagen ist das frustrierend. Für alle Beteiligten.

Aber manchmal bringt sein Verhalten auch ungeahnte Denkanstöße für mich. Was, wenn das, was wir "Gesunde" als Ordnung kennen, ein Chaos ist? Keiner logischen Ordnung entspricht. Ist das denkbar? Wenn Autisten wie Computer ticken, ist ihr Verhalten dann möglicherweise das Logischere? Wenn er bestimmte Handlungsabläufe als schwierig umzusetzen ansieht, könnte es dann nicht an Art, Umfang und Kontext der Anweisung liegen? Wo ist also das Problem wirklich und wer hat es?

Diese Fragen gehen mir durch den Kopf, während ich behutsam die Dinge in seinem Kinderzimmer abstaube.

Er hat auf vieles ganz einfach eine andere Sicht. So sind für ihn zum Beispiel selbst komplizierte mathematische Formeln leicht verständlich und lösbar, nur der geforderte Rechenweg unbegreiflich! Und in seiner Art der Kommunikation ist für mich oft eine verblüffende Klarheit erkennbar: "Würdest du bitte...Könntest du eventuell?"" Ja!" (Ich würde, ich könnte. Wenn du mich dazu aufforderst.). Oder: "Immer musst du das letzte Wort haben!", "Nein, das stimmt nicht. Woher sollte ich denn wissen können, dass du nichts mehr sagen willst?!". Floskeln und geflügelte Worte wie um-den-heißen-Brei-herumreden, das-Blaue-vom-Himmel-versprechen oder ein-Hühnchen-rupfen versteht er wortwörtlich und sieht diese Formulierungen als das an, was sie tatsächlich sind: sprachlich vollkommen absurd! Und verschwurbelte Schachtelsätze mit mehr als zwei Entscheidungsoptionen werfen garantiert eine ungewollte Reaktion zurück. Error.

Und so lerne ich auch von ihm. Durch ihn. Klare Anweisungen auszusprechen und präzise Formulierungen. Abläufe zu strukturieren, zu planen und plangenau durchzuführen. Und nicht zuletzt: meine eigenen Denkmuster zu hinterfragen.

Oftmals jedenfalls ist seine Sicht auf die Welt erfrischend gesünder und manchmal auch unbeabsichtigt komisch. Physik fällt aus, stattdessen gibt’s Bio in der ersten Stunde? Er steht auf und verlässt die Klasse. In seinem Plan steht Physik, er hat jetzt kein Bio. Und in einem Gespräch über Selbständigkeit versuchte ich ihn zu überzeugen, dass er lernen müsse, die Waschmaschine zu bedienen. Er meinte, er hätte später eine Freundin, die das können wird. Ich erklärte ihm, Frauen wöllten aber nicht als Putzfrau gesehen werden, sondern auf Händen getragen werden. Darauf er: "Das kann ich. Ich bin stark! Ich trage sie zur Waschmaschine."

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