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Juristin erzählt Mein Leben mit Asperger-Syndrom

Leben mit Asperger
© Ursula Page / Adobe Stock
Sieglinde G.*, 39, ist Juristin und hat das Asperger-Syndrom. Wie meistert sie ihr Leben?

Als ich im Alter von 38 Jahren die Diagnose Asperger-Syndrom erhielt, stellte sich bei mir ein innerlicher Frieden ein – das fehlende Puzzleteil in meinem Leben hatte endlich seinen Platz gefunden. Ich war auch stolz auf mich, dass ich den Schritt in Richtung Diagnostik gewagt hatte. Zuvor war ich im Rahmen psychotherapeutischer Behandlung immer mit der Diagnose Sozialphobie etikettiert worden.

Die Zweifel an der Diagnose Sozialphobie kamen mir im Rahmen einer logopädischen Behandlung, der ich mich wegen meiner kommunikativen Schwierigkeiten unterzog. Bei mir geht das Asperger-Syndrom hauptsächlich mit Problemen im Bereich der sozialen Interaktion einher. Diesen Verdacht ließ ich fachärztlich abklären.

Magersucht und Schwangerschaftsangst – ein steiniger Lebensweg

Die Diagnose Asperger-Syndrom war eine gedankliche Bereicherung für mich. Mein Lebensweg war flankiert mit einer Außenseiterrolle, Magersucht, der Fehldiagnose der sozialen Phobie, sowie einer Schwangerschaftsangst und gescheiterten Adoptionsbemühungen.

Besonders die Schule war für mich kein Wohlfühlort gewesen. Sobald das Gespräch auf nicht schulisch bezogene Themen kam, war die Grenze meiner kommunikativen Fähigkeiten erreicht. Außerdem waren meine mündlichen Noten in der Schule ziemlich schlecht. Zwar wäre ich in der Lage gewesen, die Fragen zu beantworten, aber nur schriftlich. Die Bewertung der mündlichen Leistungen als mangelhaft verschwieg ich meinen Eltern und ich lebte in der ständigen Angst, aufzufliegen.

Ich versuchte, meinen Körper zu kontrollieren

Die Beladung meiner Seele mit kaum ertragbaren Situationen trug zu einem reduzierten, selektiven Essverhalten bei, nach dem Motto: "Ich kann etwas, ich habe meinen Körper unter Kontrolle, dieser gehört nur mir und wir bilden ein geschlossenes Refugium, in welches sonst niemand Einlass gewährt wird“. In der Folge verlor ich in der Schulzeit an Gewicht, in der Oberstufe begann dann die drastische Abwärtsspirale bis hinunter zu 43 Kilo bei einer Körpergröße von 1,70. Therapeutische Hilfe suchte ich mir während der Schulzeit nicht; ich versuchte, mein Essverhalten selbst in den Griff zu bekommen.

Geheilt bin ich von der Magersucht heute immer noch nicht ganz, da die Kontrolle über den Körper bzw. das Essen ein geplantes Verhalten ist, das sich nicht von heute auf morgen ausschalten lässt. Diese Körperkontrolle sehe ich auch als Ursache für meine sogenannte Schwangerschaftsangst, die dazu führte, dass mein Mann und ich einige Jahre vor der Asperger-Diagnose als Adoptionsbewerber beim Jugendamt vorstellig wurden. Wir wurden als geeignete Bewerber gelistet, doch nachdem das Amt von meiner Asperger-Diagnose erfuhr, legte man uns nahe, die Bewerbung mangels Erfolgschancen zurückzuziehen.

Während meines Jurastudiums zog ich mich immer mehr in die Isolation zurück. Bildlich gesprochen kann man sich mein Studentenleben wie einen Aufenthalt in einem Schweigekloster vorstellen. Manchmal hatte ich das Gefühl, ich würde das Sprechen verlernen und als würden meine Stimmmuskeln in völliger Erschlaffung ihr Dasein fristen.

Die einzige Ansprache hatte ich mit meinen Eltern oder meiner Schwester am Telefon oder wenn sie mich besuchten. Ohne meinen Ehemann, den ich während unseres Referendariats kennenlernte, hätte ich es mit Sicherheit nicht geschafft, einen Weg aus der Isolation zu finden und die Vielfalt des bunten Lebens kennenzulernen.

Das Asperger-Syndrom bringt auch Vorteile mit sich

Trotz allem hat das Asperger-Syndrom auch Vorteile, die ich nicht missen möchte. Es geht häufig mit einem Spezialinteresse oder einer Inselbegabung einher. Meine Leidenschaft gilt der deutschen Sprache. Ich sammele schöne Wörter und Formulierungen, die ich zufällig beim Lesen entdecke und in ein separates Büchlein übertrage und gelegentlich wiederhole. Zudem gilt mein Interesse meinen sieben Musikinstrumenten (u.a. Kirchenorgel, Schlagzeug und Saxophon). Wie für Autisten typisch, brauche ich viele Phasen ohne ständiges Redegeprassel und genieße beim Musizieren die Ruhe und das Abtauchen in eine andere Welt. 

Neben Ruhephasen sind aspergertypisch auch gleiche Abläufe wichtige Konstanten in meinem Leben. Mein Favorit und nahezu täglicher Begleiter ist zurzeit das Schlagzeug. Meine nahezu täglichen 15 bis 30 Minuten am Schlagzeug sehe ich als eine Art Meditation. Im Nachhinein bin ich froh, dass ich im Alter von 35 Jahren den Mut hatte, noch dieses faszinierende Instrument zu erlernen.

Durch die Diagnose hat sich bei mir ein Knoten gelöst. Der Rucksack ist allerdings weiterhin mit meiner Vergangenheit beladen, die sich nicht abschütteln lässt. Aber er ist leichter geworden. Vergleichbar einem Wanderer, der bei entsprechend durchtrainiertem körperlichen Zustand einen Rucksack leichter auf den Schultern trägt als ein untrainierter Wanderer, wird durch die Diagnose die psychische Basis gestärkt und lässt das mitgebrachte Gepäck leichter erscheinen.

*Der Name ist der Redaktion bekannt 

Leben mit Asperger
© PR

Lesetipp: Sieglinde G. hat ein Buch geschrieben, indem sie offen ihre Schwierigkeiten, Besonderheiten und auch Vorteile des Asperger-Daseins darlegt: "Unterwegs mit dem Asperger-Syndrom" (Manuela Kinzel Verlag, 16 Euro) 

Brigitte

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