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Neun Monate zu sechst in einem Zelt

Was, wenn wir gekidnappt oder von Löwen umzingelt werden? Wenn in der Wüste das Wasser ausgeht oder wir uns zu sechst im engen Zelt die Köpfe einschlagen? Ella von Bargen und ihre Familie wagten es trotzdem - und fuhren mit dem Auto von Kapstadt nach Kiel. In der Leserkolumne "Stimmen" erzählt sie von ihrem neunmonatigen Abenteuertrip durch Afrika.
Michaela von Bargen, 37, ist Mutter von vier Kindern (11, 8, 5 und 3) und hat in ihrer "Prämutterzeit" einmal als Werbetexterin gearbeitet. Seit sieben Monaten versucht sie, sich nach einer aufregenden und spannenden Zeit an ein Leben in einer norddeutschen Kleinstadt zu gewöhnen. Nicht so einfach, wenn die Abenteuerlust in einem brodelt...
Ella von Bargen, 37, ist Mutter von vier Kindern (11, 8, 5 und 3) und hat in ihrer "Prämutterzeit" einmal als Werbetexterin gearbeitet. Seit sieben Monaten versucht sie, sich nach einer aufregenden und spannenden Zeit an ein Leben in einer norddeutschen Kleinstadt zu gewöhnen. Nicht so einfach, wenn die Abenteuerlust in einem brodelt...
© Ella von Bargen

Die schönste Stadt der Welt kann man nicht so einfach mit dem Flugzeug verlassen. Schon gar nicht, wenn man für wahrscheinlich sehr lang wegbleiben wird. Vier fantastische Jahre hatten wir in Kapstadt gelebt. Eine wundervolle, intensive Zeit. Und doch zog es uns weiter. Unsere große Tochter würde bald ein Teenager sein und wir, selbst in der norddeutschen Provinz groß geworden, wünschten uns mehr Freiräume für sie und ihre Geschwister. Draußen auf der Straße spielen, Fahrrad fahren oder allein Bus fahren, sein Taschengeld heimlich am Kiosk verkloppen - für deutsche Kinder ganz normal, für Kinder in Kapstadt undenkbar.

Und so beschlossen wir, mit unseren vier Kindern zurück nach Deutschland zu ziehen. Oder besser zu fahren - um den Wechsel vom einen in das andere Leben so lang wie möglich zu strecken.

An einem sehr regnerischen Tag im September setzten wir uns also ins Auto und machten uns auf die Reise. Eine Reise, die uns über 28.000 Kilometer durch 16 Länder führen würde, einmal durch den afrikanischen Kontinent und Europa, von Kapstadt nach Kiel.

Während uns aus Deutschland eher besorgte Töne entgegenschlugen, kamen aus Südafrika zumeist begeisterte. Das liegt sicherlich daran, dass Südafrikaner eine weitaus elastischere Komfortzone besitzen als die meisten Deutschen und dort Pioniergeist eine weit verbreitete Eigenschaft ist. Wir sind keine Helden, nicht leichtsinnig oder weltfremd. Natürlich hatten wir Angst. Manchmal sogar Panik. Afrika ist nicht gleich Afrika, was für ein Land funktioniert, kann im nächsten unmöglich sein. Aber im Grunde geht es genau darum. Es trotz Angst zu versuchen.

keine Bildunterschrift
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© Ella von Bargen

Was machen wir, wenn wir krank werden, wenn wir irgendwo fern der Zivilisation einen medizinischen Notfall erleiden? Was, wenn wir überfallen, gekidnappt und ausgeraubt werden? Wenn wir mit unserem Auto nicht weiter kommen, irgendwo im Nirgendwo stranden? Was werden wir essen und trinken, wenn wir uns mitten in der Wüste befinden? Wie werden es die Kinder verkraften, ohne Freunde, Spielzeug und Komfort zu sein? Werden wir uns die "Köpfe einhauen", wenn wir 24/7 zusammen sind und viele Monate zu sechst in einem 1,80 Meter mal 2,20 Meter großen Zelt schlafen? Ist es überhaupt möglich, eine solche Reise zu machen, ohne die Kinder allzu sehr zu stressen? Richten wir womöglich Schaden an, anstatt, wie erhofft, das Leben der Kinder zu bereichern? Elternsein ist anstrengend und manchmal sehr ermüdend. Wie wird es sein, seiner Elternrolle unter erschwerten Bedingungen gerecht zu werden? Wie sollen wir Zeit finden für unsere Partnerschaft?

Afrikaner haben die Gabe, das Leben auf ein paar simple Wahrheiten herunterzubrechen. Ein afrikanisches Sprichwort wurde zu unserem Leitsatz und nahm uns die Panik vor der Größe unseres "Projekts": "How do you eat an elephant? Bit by bit."

Und genau das ist das Geheimnis. Um einen Traum in die Realität umzusetzen, braucht es keinen bis in alle Kleinigkeiten durchdachten Plan. Das Schwierigste ist, den Mut aufzubringen, den ersten Schritt zu machen. Sich nicht von Zweifeln und Zweiflern verunsichern zu lassen. Wenn wir zurückblicken, war die größte Hürde, sich aufzuraffen und tatsächlich aufzubrechen. Was danach kam, war immer irgendwie überwindbar, "bit by bit".

Unsere Kinder haben Entbehrungen auf sich nehmen müssen und es war nicht immer leicht, diese zu ertragen. Auf der anderen Seite aber haben sie unendlich viel gewonnen: Zeit mit uns und ihren Geschwistern und die unzähligen magischen Momente jenseits der Komfortzone: die Sonne über einem Meer roter Dünen aufgehen zu sehen und sich dann von der höchsten in den noch kühlen Sand zu werfen. Zwischen tausenden Zebras zu stehen, so nah, dass man deren Wimpern zählen könnte. Eine Kokospalme hochzuklettern. Mit Kindern, deren Sprache man nicht spricht, ein Wimmelbilderbuch anzuschauen und zu merken, dass man gar keine Sprache braucht, um sich zu verstehen.

Gastfreundschaft zu erfahren. Die Sterne am Wüstenhimmel zu beobachten, die so hell leuchten, dass einem fast schwindelig wird. Eng zusammengekuschelt einzuschlafen und den Tieren der afrikanischen Wildnis zu lauschen. Geburtstagskuchen über dem Lagerfeuer zu backen, Weihnachten unter einer mit Muscheln geschmückten Agarvenblüte zu feiern.

Die Kinder haben neun Monate keine Schule besucht und doch so viel mehr gelernt, als jemals zuvor. Sie wissen, wie der Regenwald riecht, die Wüste schmeckt, wie viele verschiedenen Formen ein Baum haben kann. Oder ein Haus. Wie es ist, ohne Haus zu leben. Dass Menschen in den unterschiedlichsten Kulturen doch vieles gemeinsam haben, dass sich hinter scheinbar Fremdem oft sehr viel Vertrautes befindet. Sie haben gesehen, was Armut ist, gefühlt, was es bedeutet, keinen Zugang zu Strom, Wasser oder Essen zu haben. Sie haben gelernt, mit wenig auszukommen, etwas zu reparieren, wenn es kaputtgeht. Wir haben neun Monate alle zusammen in einem Zelt geschlafen, campten bei Blitz, Donner, Starkregen und Sandstürmen, konnten das Zelt nicht verlassen, weil Elefanten, Löwen oder Nilpferde davorstanden oder sich in nächster Nähe aufhielten. Es gab kritische Momente, aber glücklicherweise keinen einzigen, den wir nicht bewältigen konnten. Was bleibt, ist das Gefühl, zusammen unschlagbar zu sein.

Wir sind alle gesund geblieben, wurden nicht überfallen und gekidnappt und haben uns vor allem nicht gegenseitig die Köpfe eingeschlagen. Im Gegenteil. Wir sind uns als Familie sehr nah gekommen, sind aneinander und miteinander gewachsen. Als Familie zu reisen, ist ein fantastisches Erlebnis. Und niemals waren die Kinder ein Hindernis. Im Gegenteil - sie haben uns überall die Türen und Herzen geöffnet.

Während ich diesen Text schreibe, sitzen wir in Andalusien auf dem Dach unseres Ferienhauses. Wir blicken auf die Berge Marokkos am Horizont. Wir vermissen Afrika jeden Tag. Während jeder für sich seinen Gedanken nachhängt, unterbricht die Stimme unserer ältesten Tochter die Stille: "Habt ihr schon mal daran gedacht, von Marokko aus nach Kapstadt zu fahren?"

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