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"Magersucht ist keine Teenager-Krankheit!"

Magersucht
© Shutterstock / Michaelheim
BRIGITTE.de-Leserin Deborah* leidet seit 30 Jahren an Magersucht. Ganz langsam hat die Krankheit ihr Leben zerstört.

Wenn man von Magersucht hört, geht es oft um junge Mädchen, die aufgrund falscher Wertvorstellungen oder Schönheitsideale in kurzer Zeit enorm abnehmen. Entweder hungern sie sich zu Tode, oder sie finden den Absprung und werden geheilt.

Bei mir hat sich die Krankheit ganz langsam ins Leben geschlichen, der Gewichtsverlust fand über Jahrzehnte statt. Ich bin 47 Jahre alt und leide seit fast 30 Jahren an Magersucht.

Ich wollte nie dünn sein

Die Motivation war bei mir nie das Streben nach einem perfekten Körper. Vielmehr war mir bewusst, dass mein eigentlich attraktives Äußeres der Krankheit zum Opfer fiel.

Der Höhepunkt der Krankheit und damit der Beginn meines Absturzes liegen jetzt genau ein Jahr zurück. Ich wog bei einer Körpergröße von 1,62 Meter nur noch 33 Kilo. Mein Arbeitgeber – ich arbeitete im öffentlichen Dienst - erklärte mich für dienstunfähig und veranlasste eine Zwangseinweisung.

In der Klinik begann ich zu essen. Inzwischen hat sich mein Gewicht auf 38 Kilo gesteigert und eingependelt. Nach vier Wochen wollte ich nur noch nach Hause, um meine Kinder (14-jährige Zwillinge) wiederzusehen.

Ich verlor meinen Job - und meine Kinder

Doch sie waren zu ihrem Vater gezogen und kamen nicht mehr zu mir zurück. Ich weiß inzwischen, dass ich das auf Dauer akzeptieren muss. Verkraften kann ich es nicht. Die Selbstvorwürfe sind zu groß, erdrücken mich und nehmen mir die Lebensfreude.

Ich kämpfte auch vergeblich um meine Wiedereinstellung. Ich bin mit meinen 47 Jahren im Vorruhestand, obwohl ich mich inzwischen absolut fit fühle. Sowohl mein Therapeut als auch mein Arzt schrieben Gutachten, die eine Arbeitsaufnahme aufgrund der einsetzenden Depressionen befürworteten. Vergebens.

Ich stand von jetzt auf gleich ohne Kinder und ohne Arbeit da. Dazu kamen finanzielle Probleme. Zum ersten Mal in meinem Leben erfahre ich, was es heißt, mit extrem wenig Geld auskommen zu müssen. Und das bei jeder Menge freier Zeit.

Noch immer kommt es mir vor, als befände ich mich in einem bösen Traum. Ich kann nicht fassen, dass ich mein Leben vor die Wand gefahren habe. Die Krankheit hat mich so fest im Griff, dass ich sehenden Auges mein Leben zerstört habe, unwiderruflich.

Alles Denken kreist um das Essen

Unterstützt durch meinen Therapeuten habe ich angefangen, meine Geschichte aufzuschreiben, denn ich habe den großen Wunsch, andere Frauen vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren.

Magersucht ist nicht zwangsläufig eine Teenager-Krankheit und kann einen ein Leben lang begleiten. Auch wenn ich jetzt seit einem Jahr zwei Mahlzeiten pro Tag zu mir nehme und sich mein Gewicht stabilisiert hat, kreist mein Denken nur um dieses eine Thema: Essen.

Das verändert alles, bestimmt den Tagesablauf und schränkt enorm ein. Einladungen werden zum Stressfaktor, Urlaubsplanungen beschäftigen sich mit der Frage nach den Essenszeiten. Ich habe einen ganz klaren Plan, wann ich esse, und schaffe es auch jetzt noch nicht, davon abzuweichen.

Meine Mutter hat sich nicht um mich gekümmert

Während meiner Therapien habe ich angefangen, nach den Ursachen für die Magersucht zu suchen. Mir scheint recht eindeutig zu sein, dass ein Gefühl von Vernachlässigung, mangelnder Aufmerksamkeit, Fürsorge und Wertschätzung verantwortlich für die Krankheit ist.

Meine Mutter ist Alkoholikerin. Mein Vater starb, als ich zwölf Jahre alt war. Zum Glück lebte meine Oma bei uns und versorgte uns. Was aus mir geworden wäre, wenn sie nicht dagewesen wäre, vermag ich mir gar nicht vorzustellen. Aber offenbar reichte die Liebe meiner Oma nicht aus.

Mir fehlte die Zuwendung meiner Mutter. Mit sehr guten schulischen Leistungen versuchte ich vergeblich, ihre Anerkennung zu bekommen. Ihre Alkoholexzesse machten es mir unmöglich, mich auf sie zu verlassen. Alles war eine Frage ihres Zustandes - für mich als Kind nicht absehbar. Die strenge Kontrolle über mein Essverhalten und mein Gewicht verschafften mir ein Gefühl von Sicherheit, die ich in meiner Kindheit vermisst habe.

In ihren schlimmsten Momenten ließ sie sich und den Haushalt verwahrlosen. So habe ich eine regelrechte Panik vor Unordnung. Disziplinlosigkeit und Zügellosigkeit sind mir zuwider. Mich quälen die strengsten Prinzipien: Ich erwarte von mir und meiner Umwelt Prinzipientreue und Disziplin. Das wird meinen Kindern das Leben bei mir so schwer gemacht haben.

Auch wenn ich die Ursachen meiner Krankheit nun ansatzweise verstehe, weiß ich nicht, ob ich jemals ein normales Leben führen kann. Ich weiß nur: Die Magersucht kann einen ein Leben lang begleiten. 

Mehr über Deborahs Magersucht lest ihr in ihrem Blog "Die andere Magersucht"

*Name ist der Redaktion bekannt

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