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"'Behindert' ist kein Synonym für 'blöd'!"

Julia Hubinger hat MS, was man ihr nicht ansieht. Deshalb bekommt sie häufig ungefiltert mit, wie abwertend Leute über Behinderte denken und reden. Ein Plädoyer für einen respektvollen und offenen Umgang.

Ich sitze mit einer Kollegin in der Kantine beim Mittagessen. Ich kann sie gut leiden, wir haben schon oft zusammen die Mittagspause verbracht. Sie erzählt von den "Behindis" in unserer Abteilung. Sie bekämen immer eine Extrawurst gebraten und zahlreiche Hilfsmittel (zum Beispiel spezielle Schreibtische oder verlängerte Pausenzeiten) von unserem Arbeitgeber gestellt. In diesem Moment bin ich total versteinert: Sie weiß es nicht. Sie hat es von mir noch nicht mitbekommen. Denn ich bin behindert - und keiner sieht es.

Ich habe Multiple Sklerose. Und das muss man den Erkrankten nicht unbedingt ansehen. Das bedeutet bei vielen Betroffenen allerdings nicht, dass das weniger schlimm ist. Ich gehe bei der Arbeit offen mit meiner Erkrankung um. Aber anscheinend hat es noch nicht jeder mitbekommen.

Ich habe eine Behinderung von 40 Prozent und bin mit Schwerbehinderten gleichgestellt. Ich habe die Diagnose vor fünf Jahren bekommen, die Erkrankung habe ich jedoch schon viel länger: wahrscheinlich seit zehn bis zwölf Jahren. Ich habe Gefühlsstörungen, das sind Taubheitsgefühle und eine Schwere auf den Gliedmaßen, und ich spüre Stress und Müdigkeit sehr stark. Und wenn ich einen Infekt habe, muss ich ihn bis zum Schluss auskurieren.

Die Worte meiner Kollegin schockieren mich

Angeschlagen arbeiten zu gehen, ist nicht drin. Das könnte einen Schub auslösen, bei dem ich schlimmstenfalls monatelang nicht arbeiten gehen kann. Insgesamt schränkt mich die MS aber nicht zu sehr in meinem Alltag ein. Aber auch wenn es mir relativ gut geht, schreitet die Krankheit leider fort und ich spüre sie jeden Tag.

Dass meine Kollegin von meiner Erkrankung und Behinderung noch nichts mitbekommen hat, ist aber gar nicht das, was mich wundert und erschreckt. Es sind vielmehr die Worte, die mich schocken. 'Behindis'? So nennt sie Mitmenschen, die eine Behinderung haben? Das ist abwertend und macht mich traurig.

Denkt sie dasselbe über mich, wenn sie 'es' weiß? Und wenn sie schon einen höhenverstellbaren Schreibtisch, den eine betroffene Person benötigt, als Bevorteilung wertet, was denkt sie dann über Vergünstigungen durch z.B. Behindertenausweise? Aber ich bin zu verdattert, um sie direkt darauf anzusprechen. Und ich werde auch nicht mehr die Gelegenheit dazu haben, denn plötzlich kündigt sie den Job und ich habe ihre privaten Kontaktdaten nicht.
Als Behinderte/Erkrankte, der man es nicht ansieht, komme ich mit den Alltagsvorurteilen - quasi inkognito - in Berührung. Ich horche auf, wenn jemand das Wort 'behindert' als Synonym für 'blöd' gebraucht. Ich achte auch bei meinen beiden Töchtern darauf, dass sie solche Worte nicht zum Schimpfen entfremden. Ich weise Nicht-Behinderte vor dem Supermarkt darauf hin, wenn sie auf dem Behindertenparkplatz parken, und ich spreche es an, dass die Tür bei unserer lokalen Poststelle nicht breit genug für einen Rollstuhl ist. Auch für die Inklusion behinderter Kinder in Kindergärten und Schulen setze ich mich ein.

Wieso werden Behinderungen im Alltag so wenig thematisiert?

Bei diesen Dingen fällt mir auf, dass die angesprochenen Personen sich leider herzlich wenig für das Thema interessieren. Und das verstehe ich nicht: Denn seitdem ich die MS habe, fällt mir ebenfalls auf, wie viele meiner Mitmenschen gesundheitliche Probleme haben.

Sobald ich von meiner Erkrankung erzähle, berichten mir die Menschen von ihren eigenen gesundheitlichen Problemen: Sei es die Migräne, die sie plagt, ein rheumatischer Schub, Nahrungsmittelunverträglichkeiten oder, oder, oder. Manchmal habe ich das Gefühl, dass es nur wenige Menschen gibt, die ganz gesund sind.

Und wenn doch alle mit Behinderungen, Krankheiten, Folgen von Unfällen, Unverträglichkeiten, oder anderen Dingen zu kämpfen haben, wieso ist das im Alltag dann so wenig präsent? Wieso ist so wenig Verständnis dafür da, dass einige von uns nicht so können wie die anderen? Wieso stellt es so ein Problem für Arbeitgeber dar, behinderte Menschen einzustellen und Verständnis für sie zu haben, und vor allem: Warum gehen nicht alle mit ihren Behinderungen, Krankheiten oder Gebrechen offen um? Wieso werden diese immer überspielt? Warum kommt auf ein "Wie geht es dir?" immer nur ein schlichtes "Gut, danke" als Antwort, wenn das doch gar nicht immer stimmt? Ich gebe übrigens immer eine ehrliche Antwort zu meinem Befinden. Leider können die meisten Menschen jedoch gar nicht mit diesen ehrlichen Antworten umgehen.

Behinderungen sind ein Teil des Lebens

Gerade diese Verschleierung macht es Menschen wie mir, denen man die Behinderung oder die Erkrankung nicht ansieht, besonders schwer. Das bedeutet nicht, dass es uns schlechter geht als anderen Leuten mit sichtbaren Behinderungen. Aber wir werden oft nicht ernst genommen. Weil man es uns nicht ansieht, werden unsere Schmerzen, unsere Müdigkeit oder andere Symptome auf die Psyche geschoben und gut gemeinte Ratschläge gegeben: "Ruh Dich mal eine halbe Stunde aus, schlaf mal viel, stress Dich nicht so, mach doch mal Urlaub!" Oft hören wir auch: "Aber bei dir sieht man es zum Glück ja nicht!" Als würde das irgendetwas besser machen.

Ich wünsche mir, dass wir uns eine Gesellschaft schaffen, in der wir mehr darüber nachdenken, wie wir uns Behinderten/Erkrankten gegenüber verhalten. Und ich wünsche mir, dass Behinderungen als das angenommen werden, was sie sind: als Teil des Lebens.

Denn das Leben ist nicht nur der tolle Job, die erbrachte Leistung, der nächste Urlaub, das schnelle Auto und Glanz und Gloria! Würden mehr Menschen diesen Fakt erkennen und entsprechend danach leben, hätten wir ein gemeinschaftliches Klima, in dem Behinderungen, Erkrankungen oder Beeinträchtigungen nicht vertuscht und als Last bewertet würden.

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