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Günter Wallraff "In Pflegeheimen wird tagtäglich gegen die Menschenwürde verstoßen"

Günter Wallraff
© Panama Pictures / imago images
"Team Wallraff – Reporter Undercover" feiert zehnjähriges Jubiläum. Im Interview spricht der Investigativ-Journalist Günter Wallraff über seine zahlreichen Undercover-Einsätze – und was ihn am meisten bewegt hat.

Herr Wallraff, seit nun genau zehn Jahren läuft Ihr Enthüllungsformat „Team Wallraff – Reporter Undercover“ sehr erfolgreich bei RTL. Herzlichen Glückwunsch dazu!

Ja, danke! Mir kommt das noch gar nicht so lange vor, weil das immer wieder spannende neue Recherchen mit tollen wechselnden Kolleg:innen waren und das jetzt schon seit zehn Jahren! Für so lange hätte ich das selbst nicht für möglich gehalten. 

"Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, informiert zu werden, wenn es um gravierende Missstände geht"

Wie kam es denn damals eigentlich zu der Idee einer Zusammenarbeit mit RTL für Wallraff?

Ich hatte über Jahrzehnte immer wieder mit öffentlich-rechtlichen Sendern gearbeitet und auch positive Erfahrungen gemacht. Aber bei zentralen Themen wurde oft aus politischen Gründen oder juristischen Bedenken nichts riskiert. Mein Film „Ganz unten“, für mich mit die wichtigste Arbeit lag über Jahre im Giftschrank, obwohl er höchste Preise bekam. Und das gleiche auch bei meiner Untersuchung der Bildzeitung, wo ich undercover war. Man sagte, wir dürfen nicht senden, wir können nicht senden. Obwohl es inzwischen ein Grundsatzurteil gab, dass die Öffentlichkeit ein Recht darauf hat, informiert zu werden, wenn es um gravierende Missstände geht. Auch wenn man diese undercover unter Täuschung zu sehen bekam. Nachdem ich viele Behinderungen erlebte, bin ich über befreundete Produzenten auf RTL zugegangen und habe gesagt: Könnt ihr euch ein Format vorstellen, wo auch Werbekunden nicht geschont werden? Und zu meiner Überraschung: Ja, es ist uns gelungen! Und hier habe ich Kolleg:innen und Freund:innen, die wirklich mit Begeisterung und Engagement die jeweiligen Themen verfolgen. Es ist wirklich eine gelungene Zusammenarbeit. Und solange das so ist, können wir auch was bewegen und Veränderungen erreichen. Wir wollen nicht skandalisieren, wir wollen Missstände sehr konkret schildern. Wenn wir von Fall zu Fall etwas verbessern, dann ist das die größte Genugtuung und das gelingt uns immer wieder.

Was geschieht nach den Ausstrahlungen, recherchiert ihr Team an den Themen weiter?

Wenn wir für ein oder zwei Jahre erreichen, dass sich wirklich etwas verändert, dann müssen wir leider auch oft erleben, dass vieles wieder in die alten Strukturen fällt. Es geht dann um Gewinnabsicht und Profit, gerade im Pflegebereich. Dazu müssen wir dann nachhaltig berichten. Ich finde es selbst bedauerlich, dass wir etliche Zuschriften erhalten, dass es doch wieder schlimmer geworden ist. Über solche Fälle müssen wir leider, immer wieder berichten. 

Wofür würden Sie sagen, steht Team Wallraff heute?

In erster Linie geht es uns darum, Missstände nicht nur aufzudecken, sondern sinnlich erfahrbar zu machen, indem Kolleginnen und Kollegen sich diesen aussetzen. Damit sind wir fast die einzigen innerhalb der Medien, die das auf sich nehmen. Und das ist nicht so ohne, wenn man über Wochen alles hinter sich lässt, seinen Wohnort wechselt und dann auch nicht erkannt werden darf. Also würde ich sagen ganz großer Respekt an die Reporter:innen. 

Welcher Einsatz in den letzten zehn Jahren war denn rückwirkend jetzt für Sie am wichtigsten?

Oh je, das ist schwierig. Wenn Sie mich fragen, welches von meinen sieben Kindern ist mir am nächsten, würden Sie mich auch in Verlegenheit bringen. Aber ich würde sagen, dass die Alten- und Pflegeheime mir sehr wichtig sind. Das ist ein gesamtgesellschaftlicher Skandal, ein großer Missstand. Da wird tagtäglich gegen die Menschenwürde verstoßen. Und das ist der Grundgesetzartikel eins: "Die Würde des Menschen ist unantastbar". Den Zuschriften, die wir täglich bekommen gehen wir immer wieder nach. Und in Einzelfällen haben wir auch was erreicht. Aber wir müssen das auf Dauer nachhaltig schaffen. Aber es gibt auch andere Einsätze, die mich bewegt haben, alltägliches Arbeitsunrecht. Beispielweise bei Paketauslieferung, das habe ich selber mitgemacht. Ich habe bei einem Auslieferer gewohnt. Um 4 Uhr morgens aufstehen, 14 Stunden am Stück arbeiten. Ich war hoch trainierter Sportler, aber ich bin an in meine Grenzen gekommen. Und da hat sich bis heute nichts Grundlegendes geändert. Die Konzerne machen einen riesigen Werbezirkus, aber bieten schlimmste Arbeitsbedingungen, die wir immer wieder aufs Neue untersuchen müssen.

Woran arbeitet ihr Team gerade, gibt es schon Themen, die sie nennen können?

Ich möchte jetzt nicht zu viel Einzelheiten verraten, sonst würde ich diejenigen schon warnen. Wir haben mehrere Themen, die so drastisch und so grausam, zum Teil entsetzlich sind, dass wir die in Arbeit haben. Ich würde sagen, überall da, wo Arbeitsunrecht und Menschenrechte verletzt werden, schauen wir genau hin. Und das ist sehr weit gefächert. Wir leben zum Glück in einer Demokratie und können etwas verändern, auch wenn man versucht, uns einzuschüchtern. Es gab einen Fall, bei dem ein Krankenhauskonzern uns mit fast 200 Abmahnungen über Anwält:innen zukommen ließ. Nachher konnten wir mit unseren Anwält:innen alles abwehren. Die, die am meisten Dreck am Stecken haben, versuchen uns einzuschüchtern und eine Veröffentlichung zu verhindern. Aber in diesen Fällen sagen wir immer: Jetzt erst recht.

Welche Enthüllungen in den letzten zehn Jahren waren für Sie die aufsehenerregendsten?

Das kann man so gar nicht auf Einzelne festlegen. Die Zustände in geschlossenen Einrichtungen, in Krankenhäusern, in Psychiatrien, Jugendhilfen und Pflegeheimen sind nicht akzeptabel. Aber man lässt es geschehen, auch Politiker:innen sehen darüber hinweg. Aber auch Billigfluggesellschaften, die größten Werbeaufwand betreiben. Um da verdeckt zu recherchieren, brauchte eine Kollegin allerdings eine Spezialausbildung, damit sie bei dieser Gesellschaften angestellt werden konnte. Das hat sie über sich ergehen lassen. Oder auch ein Kollege, der einen Busführerschein gemacht hat, um sich über längere Zeit die Zustände anzuschauen. Und bei diesen Themen konnten wir auch was verändern. Ich würde das also gar nicht auf einzelne Themen festlegen, sondern finde, dass es viele wichtige Themen gibt, die ein allumfassendes gesellschaftliches Problem sind. Missstände, die eigentlich offenkundig, aber nicht im öffentlichen Bewusstsein sind, weil man zu sehr drüber hinwegsieht.

Sie haben Ihr Leben, diesen Dingen gewidmet. Woher kommt dieser ungeheure Antrieb, für Verbesserungen zu kämpfen?

Ich glaube, bei mir war ursprünglich eher eine Identitätsschwäche. Das, was andere in meinem Beruf zu viel haben, das habe ich zu wenig. Ich habe mich oft gefragt: Wer bin ich? Ich musste das immer neu zu spüren kriegen. Darum hatte ich das Bedürfnis, mich in Situationen zu begeben, manchmal auch über Jahre, in denen ich für eine Rolle ein Anderer wurde. Mich haben immer Menschen bewegt, denen Unrecht geschah und benachteiligt waren. Über die wurde hinweggesehen, aber zu denen gehörte ich. Mein Freundeskreis, besteht aus Menschen aus anderen Kulturen, auch Obdachlose. Einer hat über ein Jahr bei mir gewohnt. Dem habe ich zu seinen Memoiren verholfen. Er hat zwei Bücher geschrieben und ist heute sesshaft geworden. Ich bin jemand, der immer noch ein Suchender ist, der nicht fertig ist. 

Worauf können sich die Zuschauer:innen bei dieser speziellen Jubiläumssendung freuen?

Also ob das ein Grund zur Freude ist, das ist dahingestellt. Das sind ja schlimme Zustände, die wir hier nochmal zeigen. Aber vielleicht eine Genugtuung, dass wir in viele Bereichen etwas erreicht und verbessert haben. Das ist auch der Grund, weswegen wir weitermachen und nicht hinwegsehen. Mich selbst hat erstaunt, dass wir 27 verschiedene Rollen eingenommen haben, in denen Kollegen und Kolleginnen sich die schlimmsten Zustände angetan haben. Dass es so viele waren, habe ich zum Teil nicht mehr auf dem Schirm gehabt. So ist diese Sendung ein toller Überblick für unsere Zuschauerinnen und Zuschauer, die das auch nicht alles vergegenwärtigt haben und vielleicht noch nicht gesehen haben. Auch bei mir ist einiges in Vergessenheit geraten und jetzt plötzlich nochmal ganz präsent.

Wer die große Jubiläumssendung "Team Wallraff - 10 Jahre undercover" nicht verpassen will, sollte heute um 20.15 Uhr auf RTL einschalten. Gleichzeitig werden die Folgen in voller Länge auf RTL+ zu sehen sein.

Brigitte

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