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"37 Sekunden"-Review "Ich dachte, ich weiß, wo meine Grenzen sind"

Visual der Serie "37 Sekunden"
© ARD Degeto/Odeon Fiction GmbH
Wo endet einvernehmlicher Sex, wo beginnt eine Vergewaltigung? Die ARD-Miniserie "37 Sekunden" greift diese und viele weitere Fragen auf.

Achtung: Dieser Text thematisiert unter anderem sexuellen Missbrauch.

"Nein, nein!", sagt sie, während er von hinten in sie eindringt. Er kommt, sie lässt es schweigend über sich ergehen. Dann geht er, sie bleibt zurück. Was haben wir gerade auf dem Bildschirm beobachtet – einvernehmlichen Sex oder eine Vergewaltigung? Die Antwort ist eigentlich klar. Eigentlich.

Die sechsteilige ARD-Serie "37 Sekunden" schaut hin, sieht viele Nuancen, die wenigsten davon angenehm. Wir haben uns die erste Folge angeschaut. Achtung: Ab hier gibt es Spoiler für die erste Episode "Das Fest".

Heißt "Nein" denn etwa nicht "Nein"?

Die Serie beginnt mit dem Geburtstag des Musikers Carsten Andersen (Jens Albinus) in dessen Garten. Die Anwesenden sind gut gelaunt, freuen sich auf den Ehrentag des beliebten und erfolgreichen Künstlers, der kurz vor einer neuen Tournee steht. Zu den Eingeladenen zählt Leonie Novak (Paula Kober), die beste und langjährige Freundin von Carstens Tochter Clara Andersen (Emily Cox). Beide Frauen schauen, jede auf ihre Weise, zu diesem Mann auf: Für Leonie, die selbst Sängerin ist, ist Carsten ein "Held", wie sie in einer kurzen Rede, mit viel zu viel Alkohol im Blut, zugibt. "Musikalisch hat er für mich die Welt bedeutet. Wahrscheinlich war ich sogar ein bisschen verliebt, ich habe mir zumindest vorgestellt, seine Gitarre zu sein."

Für die meisten Anwesenden ist diese kleine Beichte niedlich. Wohl kaum für Carstens ebenfalls anwesende Freundin, wohl kaum für die Zuschauer:innen, für die schon längst klar ist, dass da etwas zwischen Leonie und Carsten ist – oder war? "Ich nehme an, es ist vorbei?", hat sie ihn noch wenige Stunden zuvor gefragt, als sie einen kurzen Moment für sich hatten. Später am Abend begegnen sie sich erneut allein, noch angetrunkener, noch verunsicherter. Küssen sich. Dann schubst sie ihn weg: "Ich will das jetzt nicht!" Er möchte gehen, sie hält ihn zurück, wieder küssen sie sich. Dann nimmt er sie von hinten, sie sagt Nein, er kommt in ihr. Wie ist das nur passiert?

"War ich deutlich genug?"

Am nächsten Tag weiß Leonie nicht, was sie denken soll. Über sich. Über ihn. Über diesen Moment, diese wenigen Sekunden, in denen sich alles änderte. "Mir geht es komisch", gibt sie gegenüber Clara bei einem Spaziergang im Wald zu, die bereits geahnt hat, dass etwas mit ihrer besten Freundin nicht stimmt. Als Anwältin, als Frau, hat sie eine klare Haltung, als Leonie ihr die Situation schildert: "Wir haben Schluss gemacht und dann haben wir ein letztes Mal miteinander geschlafen. Und das war irgendwie komisch." – "Warum?" – "Ich wollte es eigentlich nicht." – "Hast du das gesagt?" Habe sie, wenn auch alles unscharf sei. 

"So schlimm war es nicht", will Leonie die Situation herunterspielen. Leonie, die Starke, die Unabhängige, die Freie, für die ihre beste Freundin ein Zimmer in ihrem Haus auf dem Land einrichten möchte, damit sie jederzeit vorbeikommen könne, "um von ihren Abenteuern zu erzählen". Leonie, die Aufgeklärte, die Frau, die genau weiß, wo ihre Grenzen sind – zumindest hatte sie das stets von sich gedacht, wie sie am Ende der ersten Folge in einem Instagram-Post erzählt, den sie für ihre Follower:innen aufnimmt, als die Bilder der Nacht sie nicht loslassen wollen. "Ich dachte immer, ich weiß, wo meine Grenzen sind. Und ich dachte auch immer, so etwas passiert mir nicht. Ich bin ja bewusst und aufgeklärt."

Im Moment im Wald, in dem Leonie Clara von jener Nacht erzählt, da ist für Clara alles klar. Da weiß die Anwältin, die Frau, eindeutige Worte zu finden: "Das ist nicht in Ordnung, Leo. Auch wenn du mit dem Typen was hattest. Typen dürfen mit so etwas nicht durchkommen, das macht mich so wütend!" Wenige Minuten später wird die klare Ordnung im Leben von Clara vollkommen in sich zusammenbrechen, als sie zufällig den Kuss sieht zwischen ihrem Vater, dem Musiker, dem Helden – und Leonie, ihrer besten Freundin. Und alles ergibt einen schrecklichen Sinn. Ihr Vater, der Musiker, der Held – der Vergewaltiger? Unmöglich.

"Ich glaube, ich habe 'Nein' gesagt. Aber war ich deutlich genug? Oder habe ich mich nicht getraut, ihn klarer abzuweisen, weil er für mich in der Welt der Musik ein absoluter König ist, den ich bewundere, auch jetzt noch?", fragt sich Leonie in ihrem Instagram-Post, stellt Fragen, die sich aktuell und seit langer, langer Zeit so viele Frauen in so vielen furchtbaren Situationen gefragt haben. War ich laut genug? War mein "Nein" deutlich genug? "37 Sekunden" erzählt die Geschichte vieler Frauen, stellt viele richtige Fragen, nur in der ersten Episode schon. 

Konnten die Macher:innen ahnen, wie schrecklich aktuell ihr Werk sein würde? Wahrscheinlich schon. Denn Leonies Geschichte, sie passiert wohl jeden Tag irgendwo auf dieser Welt, auf der Macht so fürchterlich ungleich verteilt ist. Leonie will kein Opfer sein. Carla will die bloße Möglichkeit, dass ihr Vater ein Täter sein könnte, nicht wahrhaben. Der Auftakt von "37 Sekunden" zeigt zwei Frauen, die eigentlich genau wissen, wer sie sind, was sie ausmacht und wo ihre Grenzen sind. Eigentlich.

"37 Sekunden" feiert am Freitag, 4. August 2023, Premiere in der ARD-Mediathek. Im analogen Fernsehen wird die Serie zu je drei Folgen am Dienstag, 15. und 22. August 2023, im Ersten ausgestrahlt.

Informationen zu Hilfsangeboten

Du hast sexuellen Missbrauch oder Ähnliches erlebt? Das Hilfetelefon des "Hilfeportals Sexueller Missbrauch" ist anonym und kostenlos unter 0800/2255530 zu folgenden Zeiten erreichbar: Mo, Mi, Fr: 9:00 Uhr bis 14:00 Uhr; Di, Do: 15:00 Uhr bis 20:00 Uhr. Auch die "Nummer gegen Kummer" bietet von Montag bis Samstag, von 14:00 Uhr bis 20:00 Uhr kostenfrei und anonym unter 116111 Hilfe an. Eine Liste mit bundesweiten Hilfsstellen findet sich auf der Seite des "Hilfeportals Sexueller Missbrauch".

Brigitte

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