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Weg mit der Anwesenheitskultur!

Die Anwesenheitskultur in deutschen Unternehmen macht Müttern das Leben schwer. Autorin Nina Puri fragt sich, warum Frauen ihre Kinder verstecken müssen - und fordert mehr Flexibilität in den Köpfen der Arbeitgeber.

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Es sorgt weniger für Neid als vielmehr für Erstaunen, wenn man gelegentlich von Männern hört, die jahrelang heimlich eine Familie nebenher haben, ohne dass irgendjemand etwas davon mitkriegt und sich fragt, wie so was, schon rein logistisch gesehen, zu bewerkstelligen ist. Dabei müsste man nur berufstätige Frauen fragen. Unzählige von ihnen haben neben ihrem Beruf eine Familie, die unsichtbar im Hintergrund verborgen ist. Das liegt daran, dass deutsche Arbeitgeber es sehr ungern sehen, wenn Kinderkram den Arbeitsablauf stört. Anders als in Skandinavien, wo es völlig in Ordnung ist, eine Schulaufführung in der Arbeitszeit zu besuchen oder auch mal zwei Tage zu Hause zu bleiben, wenn das Kind hustet, gilt in Deutschland immer noch: Dienst ist Dienst und Knirps ist Knirps. Aus diesem Grund müssen viele Mütter zwei strikt voneinander getrennte Leben führen, eines im Beruf und eines in der Familie. Beide Leben laufen parallel nebeneinander her, ohne sich jemals zu berühren, und kreuzen sich, wie das bei Parallelen üblich ist, höchstens irgendwann in der Unendlichkeit, aber nicht in der Arbeitszeit – jedenfalls, wenn alles glattgeht.

"Alles ist ein nachvollziehbarerer Grund, nach Hause zu gehen, als ein Kind."

Manchmal geht nicht alles glatt. Wer als Mutter schon mal mitten in einem wichtigen Meeting angerufen wurde, weil zu Hause die Hütte brennt, weiß, dass man in solchen Fällen dem Arbeitgeber gegenüber eine verteufelt gute Begründung dafür parat haben muss, dass man fluchtartig den Arbeitsplatz verlässt. Zum Beispiel die, dass die Hütte brennt. Oder einem Tsunami oder Orkan anheimgefallen ist. Vielleicht wird man auch polizeilich gesucht? Alles ist ein nachvollziehbarerer Grund, nach Hause zu gehen, als ein Kind.

Am besten lassen Sie also schon beim Entgegennehmen solcher Telefonate gar nicht erst den Eindruck aufkommen, dass diese irgendwas mit dem Kind zu tun haben, sondern reden grundsätzlich wie mit einem wichtigen Geschäftskontakt. Ein freundliches "Ich rufe Sie gleich zurück!" hat sich als unverfängliche Antwort bewährt, wenn die kranke Tagesmutter, der verhinderte Klavierlehrer oder das heulende Kind am Hörer ist. Diese neutrale Formulierung ist absolut unverdächtig, Sie könnten damit auch den Steuerberater, den Bankbeamten oder die Autowerkstatt gemeint haben, Hauptsache jedenfalls, Sie erwecken bei den Kollegen nicht den Eindruck, dass Sie Ihre familiären Angelegenheiten nicht im Griff haben. Den Rest können Sie heimlich von der Firmentoilette, dem Kopierraum oder dem Treppenhaus aus regeln. Ich habe von Firmentoiletten aus schon komplizierte Bruchrechnungsaufgaben gelöst, Kinderstreite geschlichtet und Zoo-Gruppenbesuche organisiert. Wie viele berufstätige Mütter könnte ich von einer Firmentoilette aus den nächsten Marsflug koordinieren oder die ganze Welt regieren, ohne dass das im Chefzimmer irgendjemand mitkriegen würde.

Die meisten Männer beherrschen diese Fähigkeit nicht, erstens weil nicht üben keine Meister macht, und zweitens, weil Männer ihre Kinder gar nicht erst verstecken müssen. Während berufstätige Mütter ihre Kinderbilder in Portemonnaies und Handy-Archiven verbergen, breiten viele Väter stolz ganze Galerien mit Familienfotos auf dem Schreibtisch aus. Als ein Freund von mir sein hustendes Kleinkind im Büro dabeihatte, waren die Kollegen und vor allem Kolleginnen hin und weg vor Rührung. Gar nicht auszumalen, was es für ein Geschnaufe und Augenrollen über derartige Unprofessionalität gegeben hätte, wäre er eine Mutter gewesen. Natürlich hätte er als Frau das Kind gar nicht erst in die Firma mitgenommen, schließlich weiß jeder, wie schnell man im Betrieb Angestellte mit Grippe-Kindern durch Angestellte ohne Grippe-Kinder ersetzen kann. Oder durch Angestellte mit Grippe-Kindern, die diese trotzdem in die Kita schicken.

Falls Sie aus irgendwelchen zwingenden Gründen tatsächlich nicht arbeiten können, prägen Sie sich die Faustregel ein: Never explain, never apologize: Ihr Fehlen im Büro ansagen, aber nicht erklären! Und niemals entschuldigen! Keiner will wissen, ob der Grund die Yogastunde, die Paartherapie oder das Fußballtraining des Sohns ist. Wenn der Arbeitgeber genauer nachfragt, antworten Sie kurz und mit positivem Ende: "Die Kinder sind entführt worden, aber ansonsten ist alles in Butter."

Um professionell rüberzukommen, verheimliche manche Mütter nicht nur Termine und Krankheiten ihrer Kinder, sondern vorsichtshalber auch gleich jeden Hinweis darauf, dass sie überhaupt Kinder haben. Die K-Frage, und damit ist hier nicht die Kanzlerfrage, sondern die Kinderfrage gemeint, gehört zu den Themen, die in Internetforen und Elternzeitschriften rauf- und runterdiskutiert werden: Muss ich im Lebenslauf schreiben, dass ich Mutter bin? Und soll ich meinem Chef gestehen, dass ich ein Kind bekomme? Und wenn ja, wie denn bloß? Weil andere Umstände zu den Umständen gehören, die eine Frau ruck, zuck aus dem relevant set rauskegeln, tun Mütter das, was alle Leute tun, die trotz Behinderungen im Rennen bleiben wollen: die Behinderung, so gut es geht, kaschieren.

Eine Kollegin kaschierte ihre Kinder jahrelang so konsequent, dass ein Kollege ihr irgendwann das fragwürdige Kompliment machte: "Man merkt gar nicht, dass du Mutter bist!" Ein Tipp, falls Sie selbst vor lauter Kinderkaschieren nicht mehr so sicher sind, ob Sie überhaupt Kinder haben: Einfach aufs Gehalt schauen: Ist es niedrig, haben Sie wahrscheinlich welche.

"Jedes Kleinkind versteht, dass Menschen existieren können, auch wenn sie gerade nicht sichtbar sind."

Flexiblere Arbeitszeiten, wie sie in anderen Ländern üblich sind, könnten helfen. Diese erfordern allerdings auch eine gewisse Flexibilität im Kopf. Jedes Kleinkind versteht, dass Menschen existieren können, auch wenn sie gerade nicht sichtbar sind – weil sie sich zum Beispiel kichernd hinter einem Vorhang oder unter der Bettdecke verstecken. Selbst Hühner wissen, dass Lebewesen, die gerade außer Sichtweite sind, trotzdem noch da sind. Vielen deutschen Arbeitgebern fehlt dieses Abstraktionsvermögen. Sie haben sich erst gestern mühsam von Stechuhr und Chipkarte verabschiedet und tun sich schwer mit der Vorstellung, dass ein Arbeitnehmer, der nicht von Punkt neun Uhr bis Punkt fünf Uhr sichtbar über seinen Firmen-Computer gebeugt ist, irgendwas Nennenswertes auf die Reihe kriegen kann. Deshalb müssen deutsche Arbeitnehmer in den meisten Firmen körperlich anwesend sein, damit der Chef weiß, dass es sie gibt und dass sie für ihr Geld auch was Ordentliches leisten, und zwar egal, ob sie gerade gebraucht werden oder nicht.

Ich erinnere mich noch an die Anfänge meines Berufslebens. Kam man morgens in die Agentur, fuhr man als Erstes den Computer hoch (das war zu der Zeit, in der man auch noch manche Autos vorglühen musste, und dauerte etwa so lange, wie es heute dauert, ein mittelgroßes Kraftwerk zum Laufen zu bringen), man hängte den Mantel über den Stuhl und verstreute ein paar Arbeitsunterlagen betont durcheinander auf den ganzen Tisch, so dass es für den Fall der Fälle, dass der Chef ins Zimmer schneite, nach Vollbeschäftigung aussah. Dann konnte man in die Kaffeeküche gehen und in aller Seelenruhe Kaffee mit den Kollegen trinken, die Zeitung lesen, das Horoskop studieren und das Kreuzworträtsel lösen.

nennt man die so lustige wie lästige Zutat, die in deutschen Unternehmen auch heute noch unverzichtbar scheint. Sie mag bei der Feuerwehr, in der ärztlichen Notaufnahme oder am Fließband sinnvoll sein, wo bei Abwesenheit jederzeit alles in Flammen aufgehen, zum Tod führen oder vom Band fallen kann. Auch wenn man mittags wieder mal in der Endlos-Schlange vor dem einzigen geöffneten Schalter in der Post wartet, würde man eine gewisse Anwesenheitskultur unter den Angestellten begrüßen.

In vielen Firmen ist Anwesenheit um der Anwesenheit willen jedoch so nötig wie ein Loch im Kopf. Unzählige Male saß ich schon in Meetings, die den ganzen Vormittag dauerten, obwohl deren Inhalt lässig auf eine Briefmarke gepasst hätte. Und oft genug fanden diese Meetings obendrein auch noch Stunden später als angekündigt an. Natürlich kann man Wartezeiten überbrücken. Zum Beispiel, indem man seine Dateien auf dem Computer farblich ordnet und heraus[ ndet, was eigentlich hinter all den kleinen Symbolen auf der Symbolleiste steckt. Oder indem man in den Urlaubsfotos seiner Facebook-Kontakte stöbert. Man darf sich nur um Gottes willen nicht vor Augen führen, was man in der Zeit an wirklich Sinnvollem erledigen könnte – müsste man in seiner Firma nicht körperlich anwesend sein. Drei Buntwäschen waschen zum Beispiel. Oder schnell zu Penny gehen. Oder sich einfach bei den eigenen Kindern mal wieder sichtbar machen: Hallo, Mäuschen, hier ist die Frau, die du vom Wochenende kennst

Über die Autorin

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Nina Puri ist freie Texterin, Autorin und Kreativdirektorin. Sie schrieb unter anderem die Bestseller "Elternkrankheiten" (mit Susanne Kaloff) und "Ü-30-Krankheiten". Sie hat zwei Kinder und lebt in Hamburg.

Text: Nina Puri, Auszug aus dem Buch "Karriere im Eimerchen", Knaur Verlag

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