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Finanzkrise: So gehen Sie mit Ihrer Angst um

Was Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich rät, um in der Finanzkrise die Nerven zu behalten und aus dem Vertrauensverlust in die Wirtschaft für die Zukunft zu lernen.

BRIGITTE: Frau Dr. Mitscherlich, wie geht es Ihnen, wenn Sie im Moment an Ihr Erspartes denken?

Margarete Mitscherlich: Wie Sie wissen, bin ich 91, also uralt und insofern gut dran. Ich habe meinen Vater erlebt, als die Bank, bei der er sein ganzes Geld hatte, Anfang der 20er Jahre bankrottging. Er war Arzt und nicht mehr der Jüngste, er hatte fünf Kinder zu versorgen, und die soziale Absicherung die wir heute kennen, gab es damals nicht. Er legte seinen Kopf auf den Tisch und weinte. Das war das erste und einzige Mal, dass ich meinen Vater schluchzen gehört habe, und das hat mich als vier-, fünfjähriges Kind sehr befremdet. Angesichts der momentanen Lage empfinde ich durchaus ein gewisses Unbehagen, nur beziehe ich es aufgrund meiner Situation weniger auf mich: Ich kann mir nicht vorstellen, dass es so schlimm wird, dass ich mein Leben nicht noch bis zum Ende bestreiten kann, außerdem habe ich auch eine Familie, die mich unterstützen würde

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BRIGITTE: Halten Sie die Angst, die viele Menschen umtreibt, für berechtigt und angemessen?

Margarete Mitscherlich: Ich denke schon, dass sie das ist. Es geht hier ja nicht um die Angst des Klaustrophobikers vor der Enge, sondern um etwas sehr Reales, darum, Geld und Arbeit zu verlieren. Auf der anderen Seite haben viele auch Angst vor einer Panik, einer allgemeinen Kopflosigkeit, die dazu führt, dass jeder rafft, was noch nicht den Gang in die Hölle angetreten hat, und damit letztendlich den Zusammenbruch auslöst, vor dem sich jeder fürchtet.

BRIGITTE: Es ist natürlich schwierig, nicht panisch zu werden, wenn eine Horrormeldung die nächste jagt. Und es ist auch nachvollziehbar, dass man zumindest den Impuls verspürt, seine Schäfchen möglichst schnell ins Trockene zu bringen.

Margarete Mitscherlich: Dennoch sollte man seinen Kopf so weit wie möglich funktionabel halten, nachdenken und sich klarmachen: Wenn ich das jetzt tue, sind wir alle des Teufels. Man sollte nicht nur für sich denken, sondern auch für die Gemeinschaft, in der wir nun einmal leben. Erkennen, dass wir alle aufeinander angewiesen sind und jeder einzelne Verantwortung dafür trägt, dass unser Finanz- und Bankensystem eben nicht zusammenbricht. Wir haben 1929 erlebt, wozu es führt, wenn Menschen in Panik verfallen. Gott sei Dank scheint die Situation aber noch beherrschbarer zu sein als damals. Noch liegen die Dinge in der Hand der Nachdenklichen.

BRIGITTE: Derzeit wird oft an die Weltwirtschaftskrise Anfang der 30er Jahre erinnert. Befeuert das die Angst nicht zusätzlich?

Margarete Mitscherlich: Das halte ich für sehr, sehr fraglich. Bei alten Menschen wie mir, die diese Trostlosigkeit erlebt haben, zweifelsohne, aber für alle anderen sind es nur Bilder und Worte, keine durch Hunger und Verzweiflung erlittene Realität. Das ist ein großer Unterschied. Ganz abgesehen davon denke ich, dass dieses Erinnern etwas spät kommt. Man hätte sich schon früher immer wieder mal vor Augen führen können, dass das Wirtschaftssystem, in dem wir leben und bis jetzt ja auch nicht schlecht leben, etwas sehr Fragiles ist. Und wenn wir, ob Banker, Politiker oder Bürger, erst angesichts der aktuellen Situation realisieren, wie sehr wir alle vom Funktionieren dieses Systems abhängen, dann waren wir vorher leider strohdumm. Aber was lange nicht da gewesen ist, was lange gut gegangen ist, darüber denken wir eben nicht nach. Das vergessen wir, genauso wie wir den Tod vergessen.

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BRIGITTE: Wirkt nicht auch der Charakter dieser Krise so beängstigend? Ihre Undurchschaubarkeit, die Unabsehbarkeit ihrer Folgen?

Margarete Mitscherlich: Jede Unsicherheit macht Angst. Warum fürchten wir das Sterben? Weil wir nicht wissen, wie der Tod ist, was danach kommt, weil wir ihn nicht fassen können. Sterben und Unsicherheit ist eines, und das, was gerade passiert, ist eine Art Sterben.

BRIGITTE: Und wie schafft man es, seine Angst in den Griff zu bekommen?

Margarete Mitscherlich: Zunächst ist Angst ja nicht grundsätzlich schlecht. Sie bringt uns zum Nachdenken und Fragen, dazu, Risiken abzuwägen, möglichst vernünftig mit dem Leben, mit anderen und uns selbst umzugehen. Ohne Angst verkommen wir. Lässt man sich allerdings von ihr gefangen nehmen, macht sie blind und hilflos. Schauen Sie Kinder an: Kinder fürchten sich viel mehr als Erwachsene, weil sie weniger übersehen. Das heißt, wir müssen uns bemühen, so viel wie möglich zu übersehen, indem wir unseren Verstand gebrauchen, Informationen und Wissen sammeln, bevor wir losrennen, indem wir uns bei Menschen erkundigen, die mehr wissen als wir selbst und uns dazu verhelfen können, die klügste Entscheidung zu treffen.

BRIGITTE: Nicht gerade ein exorbitant großer Handlungsspielraum . . .

Margarete Mitscherlich: Ja, aber Sie müssen eben auch mit dem Unvorhersehbaren leben. Das Leben an sich bedeutet Unsicherheit, Sie können nie alles überschauen, es werden immer Dinge geschehen, die alles über den Haufen werfen, und Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als diese Tatsache bis an Ihr Ende zu ertragen. Das heißt nicht, sich blindem Vertrauen oder Leichtsinn zu überlassen, sondern zu versuchen, so gut wie möglich vorzusorgen, sich zu rüsten, mit guten Beratern und durch selbständiges Nachdenken. Ganz abgesehen davon sollte man jetzt auch nicht die Apokalypse herbeireden. Wir hatten den totalen Zusammenbruch durch den Zweiten Weltkrieg, nichts funktionierte mehr, alles war zerstört, und trotzdem ging es weiter.

BRIGITTE: Ein schwacher Trost, wenn ich fürchte, mein Geld und meinen Job zu verlieren . . .

Margarete Mitscherlich: Wenn Sie das unentwegt fantasieren, verlieren Sie den Kopf. Sicher, die Konjunktur wird zurückgehen, viele werden viel verlieren, und damit werden wir irgendwie fertig werden müssen. Aber die Welt geht nicht unter, und das weiß Ihr Kopf auch.

BRIGITTE: Diejenigen, die jetzt Rat geben könnten, scheinen leider nicht besonders vertrauenswürdig zu sein. Die Profis, die Banker und Anlageberater, haben uns doch in diese Situation gebracht.

Margarete Mitscherlich: Das greift etwas kurz, finde ich. Wir müssen schon auch realisieren, dass wir im Vorfeld womöglich etwas zu sehr vertraut haben.

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BRIGITTE: Sie meinen, dass die Anlegerinnen und Anleger mit schuld an der Misere sind?

Margarete Mitscherlich: Menschen haben ja diese gewisse Tendenz, Verantwortung abzuschieben, zu verlangen, dass andere das Denken für sie übernehmen, und blind zu vertrauen, statt selbständig zu überlegen, wie die Dinge funktionieren. Nach dem Motto: "Papa und Mama werden schon wissen, was sie tun." Und wenn es dann schiefgeht, schimpft man auf Papa oder Mama, die uns vor dem Unheil doch bitte hätten bewahren müssen. Aber wir sind keine Kinder, verdammt noch mal! Wir sind alle erwachsen und müssen selbst Verantwortung für uns übernehmen.

BRIGITTE: Leider ist das Finanz- und Wirtschaftssystem extrem kompliziert. Ich begreife ja nicht mal meine Steuererklärung.

Margarete Mitscherlich: Natürlich können wir nicht alles wissen. Dazu sind die Zusammenhänge in der Tat viel zu komplex. Selbst Banker und Börsenprofis begreifen sie nicht vollkommen. Aber Sie müssen sich das Wissenwollen als Ideal setzen. Jeder von uns kann und muss sich schlaumachen, damit er nicht allein auf Treu und Glauben angewiesen ist, sondern wenigstens die richtigen Fragen stellen kann, bevor er ein Geschäft tätigt, baut oder sein Erspartes in ein bestimmtes Papier investiert. Wir alle müssen leider Gottes unsere Kindlichkeit aufgeben.

BRIGITTE: Viele empfinden jetzt nicht nur Angst, sondern auch Wut, sagen, dass sie falsch beraten worden seien oder schlicht: "Wir, die kleinen Leute, sind von denen da oben wieder mal beschissen worden." Können Sie diese Wut nachvollziehen?

Margarete Mitscherlich: Dass manche Berater oder Manager sich nicht genug damit beschäftigt haben, ob all ihre Geschäfte und Empfehlungen überhaupt zu verantworten sind, dass sie sich von Gier nach Geld oder auch Anerkennung haben leiten lassen, vielleicht sogar Schwächen des Systems zu ihrem Vorteil ausgenutzt haben, ist natürlich unglaublich. Natürlich kann man deshalb wütend sein, zu Recht sogar. Man darf diese Wut auch herauslassen, aber sich nur darauf zu beschränken nutzt niemandem. Und allein anderen die Schuld zuzuweisen, ist zwar menschlich, führt aber lediglich zu Hilflosigkeit und Ressentiments. Man sollte die Kraft dieses Affekts nutzen, um nachzudenken, auch gemeinsam nachzudenken, was jetzt zu tun ist, wie man durch sein persönliches Verhalten die Situation jetzt und zukünftig ein Stück weit zum Besseren hin beeinflussen kann. Man muss sich fragen: Was ist genau passiert, woran hat der andere Schuld und was habe ich selbst vielleicht durch übermäßiges Vertrauen versäumt, wo habe ich mich blenden lassen, mir nicht klargemacht, dass etwa große Gewinnversprechen eben auch mit einem höheren Risiko einhergehen? Man muss fragen, welche der vermeintlichen Profis denn eigentlich versagt haben, statt alle über einen Kamm zu scheren. Noch mal: Wenn Affekte wie Wut und Angst zum Nachdenken anregen, ist es gut. Wenn sie nur dazu führen, Schuldige zu suchen, ist es schlecht. Wenn sie zur totalen Kopflosigkeit führen, ist es eine Katastrophe.

BRIGITTE: Jetzt heißt es immer wieder, Staat und Wirtschaft müssten alles tun, um das Vertrauen der Menschen in den Finanzmarkt wieder aufzubauen . . .

Margarete Mitscherlich: Nein, nein, nein! Wir dürfen gar nicht mehr in dem Maße Vertrauen aufbauen und uns dann wieder nur darauf verlassen, dass das alles schon irgendwie läuft. Wir sollten diese Krise nutzen, um aus ihr zu lernen: dass wir uns alle verantwortlich fühlen müssen, wir uns, so weit es irgend möglich ist, Wissen darüber aneignen müssen, wie der Finanzmarkt überhaupt funktioniert, damit wir besser auf unser eigenes Tun und das der anderen achten können. Und wir müssen lernen, dass wir unseren Wohlstand eben nicht umsonst bekommen, sondern er durch einen Markt ermöglicht wird, der viele Einbruchsmöglichkeiten hat.

BRIGITTE: Was halten Sie von der Forderung von Politikern wie Peer Steinbrück nach stärkerer Regulierung und größerer Transparenz der internationalen Finanzmärkte?

Margarete Mitscherlich: Ich bin davon überzeugt, dass es bessere Kontrollmechanismen geben muss, denn diese Krise ist nichts Schicksalhaftes, sondern allein von Menschen verursacht - sei es durch Dummheit, Faulheit, Schlamperei, durch Ignoranz, Raffgier, kriminelle Machenschaften oder einer Mischung aus all dem. Allerdings muss der Staat genauso kontrolliert werden. Politiker sind auch keine allwissenden Heiligen, und wir sollten niemanden zu dem machen, was er nicht ist, zum Papa, der das Nachdenken für uns besorgt, damit wir uns selbst nicht mehr zu kümmern brauchen.

Zur Person: Margarete Mitscherlich

Die promovierte Ärztin Margarete Mitscherlich, 91, gilt als Grande Dame der deutschen Psychoanalyse und als eine Ikone der Frauenbewegung. Gemeinsam mit ihrem Mann Alexander gelang es ihr, die Psychoanalyse - durchaus auch gegen Widerstände aus der eigenen Zunft - für gesellschaftliche und politische Themen zu öffnen. Ein zentrales Thema ihrer Arbeit ist die Aufarbeitung des Nationalsozialismus, für ihr 1967 veröffentlichtes Buch "Die Unfähigkeit zu trauern" werden die Mitscherlichs bewundert und gehasst. Seit den 70er Jahren engagiert sich Margarete Mitscherlich für die Gleichberechtigung, schreibt u.a. "Über die Mühsal der Emanzipation" und vertritt auch dabei ihre tiefe Überzeugung, dass ohne Selbsterkenntnis, Selbstkritik und Selbstverantwortung keine Veränderung zum Besseren hin möglich ist. In ihrem jüngsten Buch "Eine unbeugsame Frau - Margarete Mitscherlich im Gespräch mit Kathrin Tsainis und Monika Held" berichtet die Grenzgängerin über ihr ereignisreiches Leben (252 Seiten, 8,95 Euro, BRIGITTE-Buch im Diana-Verlag). Margarete Mitscherlich lebt in Frankfurt am Main, hat vier Enkelkinder und arbeitet nach wie vor mit ihren Patienten.

Foto: Gaby Gerster, Fotolia, Quirin Leppert Text: Kathrin Tsainis Ein Artikel aus der BRIGITTE 24/08

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