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Downshifting: Weniger Arbeit, mehr Leben

Superjob. Dickes Konto. Dauerstress. Nie Zeit für Freunde. War's das? Immer mehr Menschen takten ihr Leben neu, wollen lieber mehr Zeit als Geld. Das Ganze nennt sich Downshifting - ein Trend, in den Bewegung kommt. Wie Frauen ihr Glück wagten und den Umstieg schafften.

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Manchmal saß sie einfach da und dachte an Mexiko. Wo man morgens im Büro erst mal schaute, wer von den Kollegen schon da war. Wo man sich zur Begrüßung umarmte. Wo Menschen die Arbeit gelassener angingen, weil im Leben nicht allein der Beruf zählte. Ein halbes Jahr arbeitete Alexandra Metzger dort in der Niederlassung eines deutschen Automobilherstellers. Etwa zehn Jahre nach diesem Praktikum war die 37-Jährige beim Mutterkonzern in Deutschland bis zur Abteilungsleiterin im Einkauf aufgestiegen. Zwei Dienstwagen, 65-Stunden-Woche und ein Jahresgehalt von rund 100.000 Euro. Bis zum Herbst 2006. Bis sie ihren Superjob hinschmiss.

Die Kündigung markierte den Anfang ihres neuen Lebens. "Es hat allerdings ein Jahr gedauert, bis ich mich dazu durchgerungen hatte", sagt Alexandra Metzger. Mit ihren 22 Mitarbeitern war sie beim Automobilkonzern zuständig für die neuen Märkte in Russland und Asien. Aber irgendwann merkte sie, dass ihr anderes wichtiger war, als von Termin zu Termin zu hetzen und das Berufliche in den Vordergrund zu stellen. "Aus Pflichtgefühl und Erfolgsdruck hatte ich den Respekt vor mir selbst verloren", sagt sie heute. "Jetzt renne ich nicht mehr so durchs Leben." Im Herbst 2007 hat sie sich selbständig gemacht, veranstaltet nun interkulturelle Trainings für Manager. Aber die Erfahrungen der Vergangenheit sind nicht vergessen: "Meine ganze Einstellung hat sich von Grund auf geändert, ich bin inzwischen viel gelassener geworden."

Raus aus dem ungeliebten Job

Alexandra Metzger steht für einen gesellschaftlichen Trend, der im Weniger das Mehr sieht. Die so genannten Downshifter nehmen die mörderische Fahrt aus ihrem Leben, schalten es im wahrsten Sinne des Wortes ein paar Gänge herunter. Viele fällen diese Entscheidung, ohne von ihrem Körper dazu gezwungen zu werden. Sie haben genug vom rüden Umgangston in der Abteilung, sie haben keine Lust mehr, Büroarbeit noch abends und am Wochenende auf dem Laptop abzutragen, bei traditionellen Treffen mit der Familie oder mit Freundinnen dagegen selten und dann auch "nur mal kurz" vorbeizuschauen.

Oft beginnt die Veränderung mit einem unbestimmten Gefühl. Der Gedanke ans Büro verursacht einem beim Aufstehen Magengrimmen wie einst vor der Matheklausur. Management-Coach Doris Hartmann sagt: "Die erste Frage, die ich mir in einer solchen Situation stellen muss, lautet: Liebe ich diesen Beruf wirklich? Denn einen ungeliebten Job - das ist meine Fundamentalthese - sollte man sofort verlassen." Die meisten, sagt sie, blieben zu lange und quälten sich.

Der erste Reflex nach einer solchen Erkenntnis ist oft: sofort nach einer neuen Stelle suchen, nach einer anderen Herausforderung. Das war auch bei Christine Scherer* so. Mit 33 hatte sie in München eine Top-Position in einem Unternehmen der Luxusgüter-Branche, 50- bis 60-Stunden-Wochen waren Alltag, Abendtermine sowieso. Beruflich wie privat war sie mit Edlem, Teurem umgeben, Übernachtungen in Luxushotels waren so normal wie Champagner-Besprechungen mit wichtigen Kunden. "Irgendwann war ich satt, ich langweilte mich", sagt sie. "Ich hatte meine Kleinmädchenträume befriedigt. Und ich mochte nicht mehr so verdammt erwachsen und souverän tun müssen.

Christine Scherer, wie immer auf Sicherheit fixiert, suchte zunächst nach einer neuen Aufgabe. Aber sie hatte einfach keine Ahnung mehr, was ihr überhaupt Spaß machen könnte. Bis ihr eines Tages klar war: Du musst keinen neuen Job haben, um zu gehen. Sie kündigte - etwas, das selten passiert in ihrer Branche, auf ihrer Ebene. "Ich habe es geschafft, über meinen Statusschatten zu springen", sagt Christine Scherer heute. Die 37-Jährige überlegte sogar, als Assistentin noch einmal ganz unten anzufangen, ohne Verantwortung für Mitarbeiter, mit dem sicheren Wissen, abends um fünf einfach nach Hause gehen zu können. Obwohl sie kein Kind hat. Undenkbar als ehemalige Führungskraft. Auch das ein Grund, warum sie nicht mit ihrem eigenen Namen auftauchen will.

Das eigene Glück wollen

Christine Scherer ging erst einmal ein Dreivierteljahr auf Weltreise. Angst hatte sie nicht vor dem, was da kommen würde, sie wusste: "Ich muss doch nur mein Essen verdienen." Jetzt wandert sie nach Australien aus, einen 35-Stunden-Job in Sydney hat sie schon. "Mein Chef sagte beim Vorstellungsgespräch, er komme schon um zehn zur Arbeit und gehe erst um sechs wieder heim. Schon! Erst! Das wäre in Deutschland undenkbar." Sie zieht in eine WG, drei Minuten vom Strand. "Der Wille zum eigenen Glück", sagt sie, "ist noch stärker geworden."

"Ich muss wissen, was ich mir gönnen will", bestätigt Doris Hartmann, "Zeit oder Geld." Also auch: mehr Freiheit oder mehr Sicherheit. Frauen, sagt Hartmann, hätten ein sehr konkretes Verhältnis zum Geld. Für sie ist es Zahlungsmittel. "Für Männer symbolisiert es Status - als Gage für eine hohe Position."

Den Alltag entschleunigen

Das Statussymbol von Downshiftern? Zum Beispiel ein Tisch. Groß, wuchtig, aus hellem Vollholz steht er in der Küche einer Wohnung in Hamburgs grünem Viertel Eimsbüttel. "Wir wollten, dass die Küche der Mittelpunkt der Wohnung ist", sagt Mareike Baldauf*. Der Tisch ist mehr als ein Möbelstück. Er ist ein Statement. Er sagt: Hier wird gekocht, gegessen und vor allem - gelebt.

So was wäre der 35-Jährigen vor neun Jahren kaum in den Sinn gekommen. Damals lag ihr Lebensmittelpunkt im Büro. Es war die Boom-Zeit der Start-ups, sie entwickelte Projekte bei einer Internetfirma im amerikanischen Silicon Valley. Einer, mit dem sie tags, nachts, am Wochenende über neuen Plänen brütete, war Lorenz*. "Das Wort Feierabend tauchte in unserem Wortschatz nicht auf." Sie gingen zurück nach Hamburg, rastlos wie in den USA. Und dann der Crash: Bei Lorenz, gerade 31, war es ein Bandscheibenvorfall, für den Rest der Welt platzte die Dotcom-Blase.

* Namen von der Redaktion geändert

Neun Monate lang lag Lorenz flach, quasi bewegungslos. "Es war das Beste, was uns passieren konnte", sagen heute beide. Zwangsweise entschleunigten sie damals ihren Alltagsrhythmus und stellten fest, dass ihnen gemeinsame Zeit wichtiger war als Arbeit. Dafür nahmen sie in Kauf, weniger zu verdienen.

Die Freiheit entdecken

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Viele der erklärten Downshifter entwickeln eine geradezu postmaterialistische Haltung. Nur arbeiten, um zu konsumieren, das geht allen gegen den Strich. Allerdings setzt der neue Lebensstil immer auch voraus, sich weniger Einkommen leisten zu können - oder zu wollen. "In unserer Gesellschaft geht es so oft darum, viel zu verdienen, um es gleich wieder auszugeben", sagt Lenka Zupkova. Die 38- Jährige ist Violinistin und als freischaffende Künstlerin auf Aufträge und Konzertauftritte angewiesen. Trotzdem lehnt sie seit fünf Jahren gut bezahlte Jobs ab, um mehr Zeit für ihre eigenen Projekte zu haben, etwa für ihr Ensemble "Megaphon".

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Früher war sie in einer Showband, spielte regelmäßig auf Bällen. "Da fuhren wir erst Stunden mit dem Bus, nachmittags um drei war Soundcheck, nachts um drei waren wir fertig." Ihre Beziehung ging vor lauter Arbeit zu Bruch, Lenka Zupkova schwor sich, ihre Einstellung zu ändern. Die praktische Umsetzung fällt ihr noch nicht ganz leicht. Immerhin macht sie jetzt einen Tag in der Woche frei und lässt lukrative, aber zeitfressende Gigs sausen. "Ich schätze die Freiheit immer mehr", sagt sie.

Auch die Ärztin Luzia Mittermaier, 41, wollte sich immer die Freiheit bewahren, weniger zu arbeiten, und hat deshalb ganz bewusst auf den Kauf eines Autos oder einer Wohnung verzichtet. Bereits mit 34 reduzierte sie ihre Arbeitszeit auf 75 Prozent; für eine Anästhesistin im Krankenhaus ein drastischer Schritt. Beim Schichtdienst kommen leicht 60 bis 80 Stunden zusammen, und wer in einer Klinik etwas werden will, muss mitziehen. Eigentlich. Der Chefarzt von Luzia Mittermaier ist bekannt dafür, dass er auch anderen Arbeitszeitmodellen zustimmt, und vor allem: "Er überließ mir die gleichen verantwortungsvollen Aufgaben wie den Vollzeit- Kollegen", sagt die Anästhesistin, die momentan Elternzeit nimmt. Früher, als sie keine Kinder hatte, arbeitete sie jeden Tag sechs Stunden, meist in der Frühschicht, gegen halb drei war sie in der Regel zu Hause.

Das große Ganze im Blick behalten

Mehr Zeit für ihre Beziehung, für Freunde, fürs Bergwandern, "das war mir schon immer ein inneres Bedürfnis", erklärt Mittermaier. Aber auch ihr Arbeitgeber profitiert: Teilzeitarbeit, das zeigen Umfragen, fördert Motivation und Produktivität der Mitarbeiter.

In den meisten Personalabteilungen scheint das noch nicht angekommen zu sein. "Wer aussteigt oder auch nur die Arbeitszeit reduzieren will, gilt im Unternehmen als Störfaktor", sagt Friederike Maier, Ökonomin an der Berliner Fachhochschule für Wirtschaft. Wer konsequent weniger Zeit am Arbeitsplatz verbringen will, muss auf Karriere zwangsläufig verzichten. Das ist die Realität.

Beraterin Doris Hartmann hält Downshifting für "eine gesunde Reaktion" auf die überdrehten Standards mancher Branchen. Die BWL-Denke, die gerade in der freien Wirtschaft oft zum Job gehört, überträgt sich bei vielen aufs gesamte Leben. Doch statt in Quartalsbilanzen zu rechnen, sollte man das große Ganze in den Blick nehmen und sich immer mal wieder fragen: Was bringt's?

Die Baldaufs fragen sich manchmal, ob sie überhaupt noch zusammen wären, wenn sie ihren Lebensrhythmus nicht umgetaktet hätten. Mareike begann mit einem Hörfunk-Volontariat noch einmal ganz unten, Lorenz gründete mit seinem Bruder ein Plattenlabel. Ihre Nachmittage verbringen sie gemeinsam. Perfekte Lebensläufe, bestimmte Karrierestufen sind ihnen egal. "Wir wollen nicht müssen", sagt Mareike Baldauf.

Was bedeutet Downshifting?

Das Prinzip Downshifting, vom Management- Guru Charles B. Handy Mitte der 90er Jahre in die Welt gesetzt, zählt zu einer gesellschaftlichen Bewegung, die alles gern etwas einfacher hätte. Downshifter entscheiden sich für einen Lebensstil entgegen der Norm und nehmen bewusst in Kauf, weniger zu verdienen - für mehr frei verfügbare Zeit. Wird Downshifting als Variante einer gelebten Work-Life-Balance beschrieben, sind damit in erster Linie Strategien zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf gemeint.

Buchtipps

Angie Sebrich: Nichts gesucht, viel gefunden: Von der Medienfrau zur Herbergsmutter. Mein fast normales Leben (Herder, 12,95 Euro).

Axel Braig, Ulrich Renz: Die Kunst, weniger zu arbeiten (S. Fischer, 7,95 Euro). www.arbeitswahn.de

Hajo Neu: Weniger arbeiten, mehr leben. Strategien für konsequentes Downshifting (Campus, 19,90 Euro) – über ZVAB.de

Marco von Münchhausen: Auszeit. Inspirierende Geschichten für Vielbeschäftigte (Campus, 19,90).

Charles Handy: Die Fortschrittsfalle. Der Zukunft neuen Sinn geben (Goldmann).

John D. Drake: Downshifting: How to Work Less and Enjoy Life More (McGraw-Hill, 21 Euro).

Judy Jones, Polly Ghazi: Downshifting: a Guide to Happier, Simpler Living (Hodder&Stoughton, 18,50 Euro).

Internet-Adressen

Initiative Moderne Arbeitszeiten des Landes NRW: www.arbeitszeiten.nrw.de

Downshifting als Burnout-Prävention, inkl. Erfahrungsberichte: www.manager-ohne-grenzen.de

National Downshifting Week in Großbritannien: www.downshiftingweek.com

Coaching-Expertin Doris Hartmann: www.doris-hartmann.de

Downshifting-Test eines britischen Versicherungskonzerns: http://www.pru.co.uk/home/calculator/downshift

Text: Anne Haeming Fotos: Corbis, Anna Mutter, Stephan Minx Ein Artikel aus der BRIGITTE 21/08

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