Anzeige

Die Frau mit der Schere

Der neue Film von Tom Tykwer dauert etwa 150 Stunden. Bis seine Cutterin Mathilde Bonnefoy das Material in die Finger bekommt und daraus die 118 Minuten macht, die jetzt im Kino laufen

Als der Kellner einen Teller mit Leber in Rotweinsoße vor sie auf den Tisch stellt, stutzt Mathilde Bonnefoy kurz, dann sagt sie ohne Vorwurf in der Stimme: "Das habe ich nicht bestellt." Der Abend ist wie so oft spät, ihre eigene Küche wie immer in den letzten Monaten kalt. Eigentlich wollte sie Melone mit Schinken essen. Doch bevor der Kellner die Leber wieder wegziehen kann, hat sie umgeschaltet: "Das sieht aber gut aus. Das nehme ich." Sie ist im Training, wenn es um schnelle Entscheidungen geht. Sie hat gerade viele gefällt, ein Jahr lang, allein an einem Tisch mit drei Monitoren, zwei Tastaturen, zig Hebeln und Knöpfen - und etwa 150 Stunden Filmszenen. Mit ihren Entscheidungen hat sie aus diesem Wust rund zwei Stunden Film gemeißelt, der am 12. Februar in die Kinos kommt: "The International" mit Clive Owen, Naomi Watts und Armin Müller-Stahl.

Es ist der vierte Spielfilm, den sie für den Regisseur Tom Tykwer geschnitten hat, und es war der teuerste und aufwändigste. Sie arbeitete mit mindestens zehn Ton-, Bild- und Schnitt-Spezialisten in der eigens umgebauten Fabriketage eines Hintergebäudes in Berlin-Kreuzberg und mit diversen Studios. Sie schnitten und bearbeiteten schon parallel zum Dreh. Während in Berlin, New York, Mailand und Istanbul noch die Kamera lief, setzte Mathilde Bonnefoy in Kreuzberg bereits die virtuelle Schere an. Jede Szene wurde aus verschiedenen Einstellungen gedreht. Jede dieser Einstellungen wurde in mehreren Takes wiederholt. Und alles landete bei ihr. Für eine der Schlüsselszenen, eine Besprechung beim Bundeskriminalamt, die im Film rund vier Minuten dauert, gab es allein etwa elf Stunden Material. "Da steht man vor einer Unendlichkeit an Möglichkeiten. Was mir hilft, den Wahnsinn von mir fernzuhalten: Ich reduziere die Menge", sagt Mathilde Bonnefoy. Aus den elf Stunden machte sie erst mal anderthalb, behielt nur die Sequenzen, die sie sofort angesprochen hatten. "Welche Momente ich auswähle, hängt davon ab, wie ich eine Figur verstanden habe", sagt sie. Und darin ist sie sich mit Tom Tykwer oft einig, "sonst wären wir unter dem Zeitdruck nie fertig geworden". Er war fast nie in seinem Büro, er hatte noch nicht gesehen, was er gefilmt hatte, bis sie ihm die geschnittenen Szenen zeigte. Sie diskutierten, er musste sich an manches, was er sah, erst gewöhnen. Aber er vertraute ihr.

image

Das Vertrauen war so groß, dass sie nicht nur mit ihrem Schnitt Einfluss auf den Verlauf des Films nahm. "Ich war der erste Zuschauer und konnte viel Feedback geben", sagt sie. Mit einer SMS hat sie die Hauptfigur des Films verändert: Die ersten Szenen kamen auf ihren Tisch, und sie fand, dass an Interpol-Agent Louis Salinger (Clive Owen) etwas nicht ganz stimmte. "Er sollte der Sympathieträger sein, war aber ein eher anstrengender Typ." Sie schrieb das an Tom Tykwer, der gab ihre Kritik an Clive Owen weiter. Mathilde Bonnefoy mag seine Figur jetzt lieber.

image

Sie ist 36. Die dicken schwarzen Augenbrauen und der helle Puder verstärken die ebenmäßige Blässe in ihrem runden Gesicht, das von blond gesträhntem, schulterlangem Haar umrahmt wird. Die Lippen sind dunkel geschminkt und der Hals mit einem lilafarbenen Schal umwickelt. Sie sitzt vor ihrem Monitor, darauf ein eingefrorenes Bild von Owen, legt den Kopf schief und sagt: "Ich habe das Gefühl, ihn zu kennen. Diese kleine Hängebacke links ist mir sehr vertraut." Überhaupt sind all die Menschen, die da laufen, schießen und flüchten, wie gute Bekannte für sie. Sie hat sie jeden Tag gesehen, stundenlang, öfter als ihren Mann. Sie hat ein Jahr lang in dem Film gelebt. Aber es macht einen Unterschied, mitzuarbeiten, wenn die Kamera läuft, oder erst danach. Sie hat nicht mitbekommen, wie sich das Team gequält hat, wie lange es in der Kälte stand, wie spät es bei Drehschluss war. Sie sitzt immer nur an ihrem Tisch, hat ein Fenster verhängt und das andere nicht, damit sie wenigstens mitbekommt, welche Jahreszeit draußen ist. Wegen dieser Distanz, meint sie, habe sie als Cutterin die nötige Sicherheit für Entscheidungen.

Sie entdeckt Schönheiten an Momenten, die beim Dreh eher zufällig entstanden sind. Sie kann gnadenlos sein, wenn ihr etwas nicht gefällt, auch wenn es ihr manchmal schwerfalle, das dann mitzuteilen, sagt sie: einem Techniker, der wochenlang eine Szene bearbeitet hat, die nach ihrem Vorschlag komplett rausfliegt. Bei "The International" war die erste Schnittversion mehr als eine Stunde zu lang; aber erst danach kann man entscheiden, was noch raus muss. Mathilde Bonnefoy wollte jeder Szene eine Chance geben. Längen, Dopplungen, Widersprüche werden oft erst sichtbar, wenn alles hintereinander zu sehen ist. Am Ende ging es zum Beispiel darum, wie viel in der Schlussszene geredet wird. Die Version mit viel Reden wirkte ihnen zu belehrend, die fast ohne Reden zu actionlastig. Tykwer und sie waren sich schließlich einig, welcher Mittelweg der richtige ist.

"Lola rennt" zu schneiden ist wie den Führerschein im Ferrari zu machen.

"Lola rennt" war der erste gemeinsame Film der beiden und überhaupt der erste Spielfilm, den Mathilde Bonnefoy geschnitten hat. Das ist, wie den Führerschein im Ferrari zu machen: Sie begann ihre Karriere mit einem der erfolgreichsten deutschen Filme, einem, der von schnellen Schnitten lebt wie kaum ein anderer. Und sie bekam den Deutschen Filmpreis dafür, mit 27. Natürlich kamen danach andere Angebote, sie hat beispielsweise auch für Wim Wenders geschnitten. Der gab ihr das Material und sagte nicht viel dazu, dabei redet sie gern. Sie braucht jemanden, der ihre Gedanken schätzt, sie sagt: "Wenn ich unterschätzt werde, macht mich das nervös."

image

Sie taucht ein in die Welt auf ihrem Monitor, lässt Bilder, Geräusche auf sich wirken. Jeden Take sieht sie sich an. Mehrmals. "Dann versuche ich, die Atmosphäre zu kristallisieren, die Gefühle herauszudrücken. Was mich als Cutterin unverwechselbar macht, ist meine Sensibilität", sagt sie. Sie lässt Clive Owen und Naomi Watts ganz langsam wieder und wieder eine Straße vor- und zurücklaufen, zieht die Tonspur schließlich wenige Bilder vor, was nicht mal eine Sekunde ausmacht. Und dann sagt sie: "Jetzt hat es mehr Dynamik."

Ihre Stimme ist fest. Und gerät erst ins Stocken, als sie ihre eigene Geschichte erzählt, da unterbricht sie sich, gerade als es spannend wird, und sagt: "Das klingt wie in einem Klischee- Film oder?" Ja, das tut es: Es war das Jahr 1991, die Tochter des berühmten französischen Lyrikers Yves Bonnefoy und der Künstlerin Lucy Vines war 19 und studierte Philosophie in ihrer Heimatstadt Paris. Sie lernte dort zwei Jungs aus Ostberlin kennen und wollte sie zum Bahnhof bringen. In den Taschen ihrer Jeans trug sie Schlüssel, Lippenstift und Kreditkarte. Die nahm sie plötzlich in die Hand, rannte zum Schalter - der Zug stand schon da -, kaufte ein Ticket und stieg ein. Weil der Kontrolleur sie übersah, schaffte sie es ohne Pass nach Berlin. Sie hatte sich für die Fahrt entschieden, in wenigen Sekunden. Wie beim Italiener für Leber in Rotweinsoße - nur war das damals, wie sie sagt, "die Entscheidung, die alles verändert hat".

Regisseur und Cutterin, das hat was von einer typischen Mann-Frau-Beziehung.

Sie improvisierte sich durch das Berliner Nach-Wende-Leben, arbeitete bei einer Firma für digitale Filmbearbeitung. Als sie einen Trailer für den Film "Das Leben ist eine Baustelle" schnitt, lernte sie Tom Tykwer kennen, der am Drehbuch mitgeschrieben hatte. "Es war Freundschaft auf den ersten Blick", erinnert sie sich. Sie redeten viel, und als der Trailer fertig war, sagte er: "Meinen nächsten Film schneidest du." Sie sagt lächelnd: "Das war dann ‚Lola rennt‘. Und das war gut."

Es folgten "Der Krieger und die Kaiserin" und "Heaven". Regisseur und Cutterin, das habe etwas von einer typischen Mann-Frau-Beziehung, meint sie. "Ich bin so was wie die Hebamme, die dem Film zur Geburt verhilft." Dass all diese Filme als Tykwer-Filme wahrgenommen werden, dass sie als Cutterin wenig Aufmerksamkeit bekommt, stört sie nicht, es wundert sie nur. "Und ich glaube, dass sich das gerade ändert." Das Bonusmaterial auf DVDs öffne Zuschauern die Augen dafür, wie viel der Schnitt zum Film beiträgt.

Was sie wirklich stört, ist, dass die Welt da draußen sich ohne sie weiterdreht, wenn sie in ihre Bilder und Töne abtaucht. Dass sie einem Film wie diesem ein Jahr ihres Lebens ihr ganzes Gehör widmen muss und ihre volle Aufmerksamkeit. "Das ist nicht wie bei einem normalen Büro-Job, ich muss mit den Augen und den Ohren voll konzentriert sein." Deshalb überlegt sie sehr genau, welcher Film ihr das wert ist. "Das Parfum" war es nicht: "Ich hatte nicht so einen Zugang zu der Geschichte wie Tom." Sie drehte stattdessen ihren ersten eigenen Spielfilm, 30 Minuten lang, der im vergangenen Herbst auf Arte lief: "Insensitive" mit Esther Schweins. Es ist ein leises Werk, die Geschichte einer vergangenen Liebe - mit ruhigen, traumartigen Bildern und ohne schnelle Schnitte.

Während der neun Drehtage und der Nachbearbeitung war Mathilde Bonnefoy beides: Regisseurin und Cutterin. "Das mache ich nie wieder", sagt sie. Ihr fehlte die nötige Distanz. Das Allerwichtigste fiel ihr plötzlich schwer: radikal zu entscheiden. 

 

Job-Info: Wie wird man Cutterin? Cutter, auch Schnittmeister genannt, müssen mit meist digitaler und aufwändiger Technik arbeiten, ein Gespür für den Ablauf einer Geschichte und Gefühl für Rhythmus haben. Es gibt viele Wege, Cutterin zu werden: eine dreijährige Ausbildung, ein Filmhochschul-Studium, z. B. in Ludwigsburg und Berlin-Babelsberg, und ab diesem Jahr auch einen Bachelor-Studiengang für Bild- und Ton-Schnitt an der Internationalen Filmschule Köln (www.filmschule.de). Viele Cutter sind aber Quereinsteigerinnen wie Mathilde Bonnefoy, weil die digitale Technik das Lernen erleichtert hat.

Text: Tinka Dippel Fotos: Michael Danner Ein Artikel aus der BRIGITTE 04/09

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel