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Anständig im Job sein - geht das heute noch?

Anständig im Job sein - geht das heute noch?
© Bradbur/Getty Images
Anständig im Job sein - ist das heute noch möglich bei Arbeitsplatzangst, Spardruck und Konkurrenzdenken?

Auf den ersten Blick hat Pia den saubersten Job der Welt. Sie baut Schulküchen. Glänzender Stahl und Ceran, pflegeleichte Holz- und Kunststoff-Oberflächen. Ein mittelständischer Handwerksbetrieb, so wie eine Großfamilie. Aber Pia fühlt sich schmutzig. Die Schulen in ihrer Region müssen auf Ganztagsbetrieb umstellen, alle brauchen Küchen. Pias Chef ist schlecht im Wirtschaften, die Firma hat zu viele Außenstände, zu hohe Materialkosten, zu wenig Personal. Die laufenden Kosten deckt er durch viel zu viele neue Aufträge, die er annimmt, obwohl er und alle in der Firma wissen, dass sie nicht rechtzeitig fertig werden können. "Die Küche muss nach den Sommerferien betriebsbereit sein", sagt die Schulleiterin. "Natürlich", sagt Pia, die meist allein auf der Baustelle ist. Und zwischendurch mehr oder weniger heimlich zwei andere Schulen betreuen und vertrösten muss.

"Zynisch sein, ausbrennen oder hinschmeißen?"

Sie weiß, dass diese Küche hier auf keinen Fall vor Oktober, November fertig werden wird. "Ab September warten hier jeden Tag 360 Kinder auf ihr Essen", sagt die Schulleiterin. Pia geht raus zum Transporter, steckt sich eine Zigarette an und starrt auf ihr Handy. Was soll sie tun? Wenn’s nach ihrem Chef geht, soll sie die Bälle in der Luft halten. Bisher, sagt er, sind sie doch jedes Mal mit einem blauen Auge davongekommen: ein kleiner Rechtsstreit hier, ein bisschen Geschrei da, aber die meisten sind am Ende einfach froh, wenn die Küche steht. Aber wenn es nach Pia selbst geht: Müsste sie dann nicht versuchen, anständig zu bleiben? Die Frage ist aktuell, weil der gegenwärtige wirtschaftliche Aufschwung in einer Grauzone stattfindet. Zwar hören wir überall vom erholten Wirtschaftswachstum, von Rekordgewinnen und sinkenden Arbeitslosenzahlen, aber das Gefühl, dass es gut läuft und der Druck nachlässt, kommt in vielen Firmen und Betrieben nicht an. Weil die wirtschaftlichen Erfolge erkauft sind durch die Sparzwänge der letzten Jahre, durch Verzicht, Downsizing, Arbeitsplatzangst und Kompromisse im Alltag.

Zwar haben sich viele Unternehmen ethische Selbstverpflichtungen auferlegt, aber die vielen Kompromisse im Tagesgeschäft laufen parallel: unbezahlte Überstunden, Preisdrückerei, informelle Absprachen, Druck auf ältere Kolleginnen, sich in den Vorruhestand zu verabschieden und vorher noch die unbezahlte Praktikantin einzuarbeiten. All das hat eine Grauzone der latenten Unanständigkeit geschaffen. Natürlich gibt es in dieser Grauzone kleinere und größere ethische Probleme. Eine Schulküche ist eine Schulküche. Aber wenn man ein mieses Gefühl dabei hat, PR für einen Ölkonzern oder Controlling für einen Maschinenbauer zu machen, der eine Rüstungssparte hat, steht ein ganzes Weltbild auf dem Spiel. Wenn man als überlastete Sozialarbeiterin, Lehrerin oder Ärztin darunter leidet, den Menschen nicht mehr gerecht zu werden, geht es um alles: Zynismus, ausbrennen oder hinschmeißen? Und wenn man vor der Wahl steht, der schüchternen Kollegin die Idee zu klauen oder den Kostendruck an die weiterzugeben, die am wenigsten aufmucken, dann steht man vor der Frage: Kann ich mich in der Grauzone einrichten oder nicht? In dieser Grauzone arbeitet mehrheitlich eine Generation, für die Arbeit eigentlich mal mehr sein sollte als: Ich mach halt was und werd dafür bezahlt, Ende der Durchsage.

"In den Spiegel schauen können, sich nicht verbiegen"

Wir haben gelernt, dass Arbeit ein zu großer Teil unseres Lebens ist, um sie einfach nur abzureißen. Stattdessen wollten wir etwas Sinnvolles tun, etwas, das Freude macht, wir wollten in der Arbeit ein ideales Bild von uns selbst verwirklichen. Und dazu gehörte auch: anständig bleiben. Das ganze scheinbar kitschige Zeug, an das wir glauben: noch in den Spiegel schauen können. Sich nicht verbiegen lassen. Pia fühlt sich sehr verbogen. Aber was soll sie tun? Sie braucht den Job. Die Verlockung ist groß, das moralische Dilemma zu verdrängen oder vor sich selbst zu rechtfertigen. Aus Angst um den Arbeitsplatz. Weil man sich allein fühlt: Von den anderen sagt ja auch keiner was. Außerdem ist da immer dieses Karriereding, das wir verinnerlicht haben: Man will ja auch irgendwie weiterkommen, und man kommt eben nur weiter, wenn man auch mal rücksichtslos ist oder wegschaut. Eine Zeit lang hat Pia überlegt, ob sie nicht glücklicher und erfolgreicher wäre, wenn sie das Schummeln und Vertrösten einfach als Teil ihrer Arbeitsplatzbeschreibung begreifen würde. Aber da kam ihr wieder die Selbstverwirklichung in die Quere: Das bin ich nicht, dachte sie.

Vielleicht kann man anständig bleiben im Job, wenn man sich diese Frage stellt: Wer bin ich und was will ich eigentlich? Wenn es mir Bauchschmerzen bereitet, die Kollegin auszubooten, die oft krank ist, obwohl das objektiv der Firma nützt, dann bin ich offenbar jemand, der Loyalität anders, persönlicher definiert. Wenn ich darunter leide, Kunden Märchen zu erzählen, dann lege ich offenbar mehr Wert auf Aufrichtigkeit und den ideellen Kern meiner Arbeit als auf den Quartalsumsatz. Die Gleichung ist daher einfach: Wenn du darunter leidest, dass dein Job von dir verlangt, krumme Dinger zu drehen - dann ist es der falsche Job für dich. Weil du ja eigentlich glücklich sein wolltest. Oder zumindest zufrieden. Man kann natürlich versuchen, ins leicht resignierte Angestellten-Nirwana zu kommen, dessen Mantra "Es ist nur ein Job, es ist nur ein Job" lautet. Oder man stellt gleich das ganze System von Karriere, Konsumzwang und Kapitalismus in Frage: aussteigen, um anständig zu bleiben. Man kann sich aber auch Vorbilder suchen. Gibt es im Betrieb eine ältere Kollegin, die schon lange da ist, die immer noch gut und mit einer gewissen Heiterkeit arbeitet, in deren Gegenwart man sich wohl fühlt? Die also offenbar einen Weg gefunden hat, beim Geldverdienen anständig zu bleiben? Faustregel: Wenn nicht, dann ist es Zeit, über eine berufliche Veränderung nachzudenken. Wenn doch, dann wird man von dieser Kollegin etwas lernen können.

"Die Kunst des Kompromisses kann man lernen."

Nämlich die Kunst des Kompromisses. Eines Tages sagte eine solche Kollegin aus der Planungsabteilung zu Pia, als sie diese am Rande der Verzweiflung sah: "Ich hab in deiner Lage früher hin und wieder so kleine Parkplatzgespräche geführt." Also wartete Pia beim nächsten Erstbesuch in einer küchenhungrigen Schule neben ihrem Transporter, bis die Schulleiterin rauskam. Parkplatz ist weniger förmlich, inoffiziell. Und sagte ihr: "Ich darf Ihnen das nicht erzählen, mein Chef würde mich feuern, aber: Wir kriegen das nicht hin mit der Küche, das dauert definitiv drei Monate länger." Das hat sie jetzt zweimal gemacht. Beim ersten Mal hat sich die Schulleiterin wütend, aber ohne dem Chef was zu sagen, einen anderen Anbieter gesucht. Die Folge: weniger Druck für Pia. Beim zweiten Mal sagte der Schulleiter nach einem Moment: "Wissen Sie was, gut, dass Sie mir das sagen. Drei bis vier Monate können wir improvisieren. Aber ich würde das trotzdem gern mit Ihnen machen." Anständig bleiben fühlt sich also nicht nur besser an: Es macht unter Umständen auch erfolgreich.

Text: Till Raether

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