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Beruf: Zwischen Stress und Langeweile

Viel Stress, dann wieder Leerlauf: stop and run. Wie wir mit dem schnellen Wechsel klarkommen.

Bis zum Nachmittag! Das ist ja kaum zu schaffen. Mittagessen? Lasse ich ausfallen! Warum hat ein Tag nur so wenige Stunden? Und warum braucht Jonas ausgerechnet jetzt eine Zahnspange? Ich kann doch meiner Freundin Ina nicht schon wieder absagen. Was, wenn die Kollegin krank wird? Hat nicht gut geklungen heute Morgen. Milch. Ich habe die Milch vergessen! Die Mails muss ich heute aber wirklich beantworten... Ich kenne das schon: "Ich habe zu viel Arbeit, zu viel Familie, viel zu viel auf einmal."

Juhu, ich habe gerade zu viel zu tun, müsste ich rufen. Denn die nächste Phase, in der ich überhaupt keine Arbeit habe, kommt bestimmt. So wie bei meiner Freundin Anna. Bis vor vier Wochen hat die Messebauerin Tag und Nacht auf einer großen Verkaufsausstellung gearbeitet. "Bei uns gibt es nichts Neues", hat sie gestern am Telefon gesagt. Mehr nicht. Das kann nur bedeuten: Die Messe ist vorbei. Sie hat gerade keine Aufträge. Fühlt sich sofort nutzlos. Fürchtet, ihre Miete bald nicht mehr bezahlen zu können. Und tut sich schwer damit, die entstandene Pause für sich zu nutzen.

Das geht vielen so: Kaum ist die Anspannung, deren Ende wir herbeigesehnt haben, vorüber, entwickeln wir zwiespältige Gefühle: Es fällt schwer, die freie Zeit so richtig zu genießen. Solange wir nicht wissen, wie es weitergeht. Diese Phasen unheimlicher Ruhe, in denen sich wenig tut - außer Zweifeln, ob der einmal gewählte Beruf der richtige ist. Und Sorgen um unsere Zukunft. Bleibt das jetzt so?

Schneller Wechsel: totale Hektik und nichts zu tun

Irgendwie hat sich das Leben in den letzten Jahren von Grund auf verändert. Immer mehr Menschen arbeiten nur noch zeitweise, in Projekten. "Contingent Workers" - in den USA bereits der Fachausdruck für Hochqualifizierte, die von Job zu Job ziehen wie früher Erntehelfer auf dem Land. Die Schere zwischen denen, die zu tun haben, und denen, die viel Zeit haben, wird immer größer. Mit wechselnden Rollen: Wer jetzt völlig überlastet ist, kann im nächsten Quartal ohne Arbeit dastehen, und umgekehrt.

Meine Lebenssituationen ändern sich häufiger und schneller als früher. Stress und Leerlauf wechseln sich ab. Mal rauscht das Leben völlig an mir vorbei, weil ich so viel um die Ohren habe. Draußen scheint die Sonne? Habe ich gar nicht bemerkt. Ein neuer Kinofilm, ein Abend mit der besten Freundin? Keine Zeit. Dafür macht der Erfolg im Job mich regelrecht euphorisch. Sobald aber sämtliche Aufträge abgewickelt sind oder der befristete Vertrag zu Ende ist, sieht mein Alltag plötzlich vollkommen anders aus. Die Umstellung von völlig verplant auf Muße ist gar nicht so einfach. Mühsam versuche ich, einen neuen Rhythmus zu finden.

Auszeit: Zeit zum Träumen und Kräftesammeln

Schnelligkeit und Grenzenlosigkeit verändern unsere Biografien: Ganze Unternehmensbereiche entstehen und verschwinden in einem Tempo, an das wir uns erst gewöhnen müssen. Wir müssen uns auf Zeiten der Unsicherheit und auf Arbeitslosigkeit einstellen, müssen uns immer wieder umorientieren - und dafür brauchen wir materielle und psychische Reserven. Damit das klappt, ist es gut, auch ungeplante Pausen zu akzeptieren. Und zu nutzen: für eine Fortbildung, eine Umschulung, einen Job im Ausland, zum Nachdenken oder für eine ungewöhnliche Reise. „Besonders diese ruhigen Phasen muss man als neue Aufgabe erkennen“, meint der Kölner Psychologe Jörg Fengler. Jede Auszeit bietet eine Chance. Endlich habe ich wieder Luft, um meine Kontakte auszubauen. Zeit zum Träumen. Kann meinen Ideen Raum geben und den Luxus genießen, an ihrer Umsetzung zu arbeiten. Was ist mir wirklich wichtig? Das zählt jetzt.

Voraussetzung: bloß nicht dem letzten Job nachtrauern. "Sicher ist eine gewisse Zeit zur Bewältigung nötig, doch sie muss irgendwann aufhören", schreibt die amerikanische Psychologin Susan Nolen-Hoeksema in ihrem Buch "Warum Frauen zu viel denken - Wege aus der Grübelfalle"*. Sonst vergeuden wir die Auszeit, statt Kraft zu tanken für die nächsten stressigen Projekte. Nur nicht in Panik verfallen. Das gelingt am ehesten, wenn wir uns klar machen: Hier ist jetzt ein Einschnitt, eine kurze Umorientierung, und dann geht’s weiter. Wer sich darauf verlässt, wird es leichter haben.

Berge von Arbeit auf dem Schreibtisch? Rituale helfen

Arbeiten wir heute tatsächlich mehr und härter als in der Vergangenheit? Oder fühlt sich das nur so an? Wir spüren die Auswirkungen der Rationalisierungen, sagt der Psychologe Jörg Fengler. Wer gerade Arbeit hat, muss richtig ran. Übernimmt Aufgaben, die früher nicht zum Job gehörten. Kindergärtnerinnen müssen auch putzen, Verwaltungsangestellte bekommen - wie bei Karstadt - plötzlich Aufgaben im Verkauf angeboten. Beamte in den Bundesministerien tippen Briefe unter zwei Seiten selbst in den PC. Das haben früher andere getan.

Wenn wir arbeiten, dann nicht nur mehr und länger, sondern auch schneller und häufig gleichzeitig an mehreren Aufgaben. Oft sind es ganz neue Anforderungen. "Die traditionellen Trennlinien, die Abgrenzungen von Arbeit und Nicht-Arbeit, zwischen Privatem und Öffentlichem, sie werden porös", sagt der Münchner Wirtschaftspädagoge Karlheinz A. Geißler**. Und das nicht nur in Spitzenzeiten. Jeder Dritte beamt sich bereits das Büro virtuell ins heimische Wohnzimmer. Arbeitet oft noch einige Stunden am Abend oder am Wochenende.

Bisher war unser Leben strukturiert. Durch klare Bürozeiten, Wochenenden, Ferien. Dieser Rhythmus löst sich zunehmend auf. Wir müssen unseren eigenen Takt finden. Rituale wirken wie Schutzwälle für unsere Erholungspausen und unser Privatleben, sagt Geißler. Abendessen um 19 Uhr, bis 20 Uhr alle Handys, Telefone, Computer und Fernseher aus. Jeden Tag.

Darüber werde ich mal nachdenken. Meine Voraussetzungen sind jedenfalls gut. Geißler ist nämlich überzeugt, dass Frauen weniger Probleme mit der neuen Vielschichtigkeit und den vielen Umstellungen haben, die von uns allen erwartet werden. Weil sie schon lange Flexibilität praktiziert hätten: Auf das Projekt Beruf folgte das Projekt Kinder, später wieder Beruf...

* Susan Nolen-Hoeksema: "Warum Frauen zu viel denken - Wege aus der Grübelfalle", Eichborn, 14,90 Euro **Karlheinz A. Geißler: "Alles. Gleichzeitig. Und zwar sofort", Herder, 19,90 Euro Text: Eva MeschedeBRIGITTE 04/05

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