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Gestresste Familien: "Mütter sind heute erschöpfter"

Gestresste Mütter
© 279photo Studio / Shutterstock
Warum es heute anstrengender ist, Kinder zu haben - und wie gestresste Familien trotz aller Belastungen neue Kraft schöpfen. Ein Interview mit der Diplom-Pädagogin Friederike Otto.

BRIGITTE: Immer mehr Familien stoßen an ihre Grenzen, fühlen sich überlastet. Woran liegt das?

Friederike Otto: Stimmt. Meistens sind es zuerst die Mütter, die völlig ausgebrannt sind, dann gerät die ganze Familie in den Sog. Die Kinder reagieren verunsichert, das Paar verliert den Kontakt zueinander. Der Vater fühlt sich von seiner Frau nicht mehr als Mann wahrgenommen und in seinen Bemühungen nicht wertgeschätzt. Das Reden miteinander wird dann immer schwerer. Ein Teufelskreis, der noch mehr Stress in die Familie trägt.

Das heißt, die Stabilität der Mütter ist für Familien besonders wichtig - und gleichzeitig gibt es immer mehr Mütter, die einfach nicht mehr können?

Stimmt beides. Mütter sind erschöpfter und häufiger von Zukunftsangst geplagt als noch vor zehn Jahren. Sie fragen sich: Wie soll ich das alles schaffen? Wo landen meine Kinder mal? Was wird aus meiner Ehe? Wovon sollen wir leben? 20 Prozent aller Mütter sind so fertig, dass sie Behandlung brauchen. Und weitere 30 Prozent sind zwar nicht pathologisch erschöpft, aber sie fühlen sich kurz vorm Zusammenbruch.

Ihre Forschungsstelle arbeitet eng mit 25 Mutter-Kind-Kliniken zusammen. Welche Frauen suchen Ihrer Erfahrung nach Hilfe in einer Kur?

Besonders groß war schon immer die Gruppe der Alleinerziehenden. Neu ist, dass immer mehr gut ausgebildete verheiratete Frauen Unterstützung suchen. Und auffallend ist, dass insgesamt die Zahl der Frauen mit geringer Erziehungskompetenz gestiegen ist.

Wie macht sich das bemerkbar?

Viele erziehen zum Beispiel nach dem Zufallsprinzip - und können sich, wenn die Kinder größer werden, nicht durchsetzen, weil sie nie Grenzen gesetzt haben. Außerdem ist das Wohnumfeld oft nicht kinderfreundlich, so dass Kinder ständig beaufsichtigt werden müssen.

Warum ist es eigentlich so anstrengend geworden, Kinder zu haben?

Das Leben hat sich total verändert. Noch vor 20, 30 Jahren heirateten Frauen, bekamen Kinder und blieben zu Hause, und wenn der Nachwuchs aus dem Gröbsten raus war, kehrten sie vielleicht zurück in einen Job. Heute gibt es immer mehr Alleinerziehende, 80 Prozent der Mütter sind berufstätig.

Und zugleich sind die Anforderungen an die Eltern enorm gestiegen. . .

Eben. Schulen erwarten, dass Eltern ihren Kindern Nachhilfe geben oder in den Hortferien eine Ersatzbetreuung herbeizaubern. Meistens bleiben diese Aufgaben an den Müttern hängen.

Und die möchten neben der Familie auch noch einen guten Job machen, haben im Beruf mehr Chancen als je zuvor.

Die Fortschritte wollen wir natürlich nicht zurückdrehen. Nur: Mütter zahlen die Zeche. Seit die Elternzeit auf 14 Monate begrenzt und das Unterhaltsrecht neu geregelt wurde, müssen und wollen sie arbeiten. Das ist gut so. Aber viele, auch gut qualifizierte Frauen haben befristete Arbeitsverträge, sind geringfügig beschäftigt und verdienen wenig. Besonders hart trifft es die Alleinerziehenden.

Sogar Frauen, die vorher in Top-Berufen gearbeitet haben, können in die Armut abrutschen.

Genau, weil sie oft wegen der Kinder keine angemessene Stelle finden und nach der Babypause als Aushilfskräfte oder Geringverdiener wieder unten anfangen müssen. Eine Katastrophe, wenn dann auch noch die Ehe auseinandergeht. Man möchte es nicht laut sagen, aber wir erleben zur Zeit auch die negativen Folgen der Emanzipation.

Das liegt ja aber nicht an den Frauen, sondern an den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Was müsste passieren, damit die Familien entlastet werden?

Man kann die Forderungen gar nicht oft genug wiederholen: Wir brauchen eine wirklich gute und flächendeckende Kinderbetreuung. Die 170 Milliarden, die für Familienförderung ausgegeben werden, müssen anders und gezielter verteilt werden. Der Beruf der Erzieherin muss aufgewertet werden. Wir brauchen endlich gleiche Löhne für Männer und Frauen. Ein Steuer- und Rentensystem, das nicht mehr von der Alleinverdiener-Ehe ausgeht. Arbeitgeber, die flexible Arbeitsbedingungen gewähren. Und Väter, die mit anpacken.

Viele Väter wollen ja durchaus, fühlen sich aber hilflos . . .

Ja, viele Väter leiden heute auch unter der Unvereinbarkeit von Kind und Beruf. Viele arbeiten ja mehr, wenn sie Kinder bekommen, aber meist nicht, weil sie vor den Aufgaben zu Hause fliehen wollen, sondern weil sie sich verantwortlich für die finanzielle Basis der Familie fühlen. Und es setzt ihnen zu, so wenig Zeit für die Familie zu haben. Besonders, wenn alles aus dem Ruder zu laufen droht.

Auch Mütter, die sich keine Sorgen um Geld und Ehe machen müssen, fühlen sich oft überfordert.

Ja, weil die Ansprüche an sich selbst enorm gewachsen sind. Die Kinder sollen fit sein, gut in der Schule und sozial kompetent - und das hinzukriegen ist meist Aufgabe der Mütter. Der Haushalt soll in Schuss sein, das Essen möglichst frisch und gesund. Und gleichzeitig sollen und wollen sie im Job viel leisten, ihre Position verteidigen oder eine neue erkämpfen. Und natürlich wollen sie auch auf ihr Äußeres achten und sich pflegen. Alles zusammen und möglichst gut ist ein täglicher Marathon. In den Mutter-Kind-Kuren zum Beispiel ist der Abschied vom Perfektionismus deshalb auch ein ganz zentrales Ziel.

Und wie geht das? Was machen Sie mit den Müttern, damit sie zu einer anderen Haltung finden?

Die Frauen erhalten in den Kliniken zum Beispiel Erziehungs- und psychosoziale Beratung. Sie lernen dabei, sich zu entspannen und für sich selbst zu sorgen. Sie lernen: Wenn es mir gutgeht, kann ich den Kindern etwas abgeben. Und dass vielleicht der Turnverein um die Ecke für die Tochter besser ist als der angesagte Ballettunterricht im anderen Stadtteil. Weil es gut für die ganze Familie ist, wenn Mama nicht auch noch dauernd rumkutschieren muss.

Und nach drei Wochen Kur fahren die Frauen dann nach Hause in die Familie, landen in der alten Rolle und sind wieder voll im Stress . . .

Wir haben untersucht, wie Mütter hier ankommen und wie sie sich drei Wochen und neun Monate nach der Kur fühlen. Für die meisten hat sich der Erschöpfungszustand reduziert - und das hält an. Die Mütter machen die Erfahrung, dass, wenn sie an einer Stelle etwas verändern, das ganze System in Bewegung kommt. Das kann die Selbstfürsorge sein. Oder eine Veränderung in der Erziehung. Das ist schon mal eine ganz grundlegende Erfahrung. Übrigens machen inzwischen auch mehr Väter solche Kuren, bisher drei Prozent - aber die Tendenz ist stark steigend.

Was ist denn Ihrer Meinung nach das Wichtigste, was Familien im Alltag für sich tun können?

Miteinander im Gespräch bleiben und für angenehme Familienerlebnisse sorgen. Zum Beispiel: Wenn alle am Tisch sitzen und gegessen haben, erzählt nacheinander jeder, was passiert ist, was schön war. Das bindet auch die Väter stärker ein. Außerdem wichtig: einen gesunden Egoismus entwickeln, wie das Tina Paarmann so schön sagt. Am besten sucht sich jeder seine Insel - ein paar Stunden nur für sich einplanen oder ein Wochenende, das nur die Eltern miteinander verbringen.

Interview: Claudia Kirsch BRIGITTE 04/2014

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