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Arbeiten im Alter: Die Senioren-Firma

Die amerikanische Firma Vita Needle stellt am liebsten Menschen ein, die das Rentenalter längst überschritten haben - und steigert stetig den Umsatz. Ein wahres Job-Märchen.

Die Königin hat ein schlimmes Bein. Sie sitzt zu Hause im Lehnstuhl, hinter Fliegentüren auf ihrer Veranda. Ein Insekt sucht nach einem Schlupfloch, ein Auto fährt vorbei. Die Zeit vergeht, sonst passiert nicht viel.

Bis vor acht Wochen war Rosa Finnegan die Königin von Vita Needle. Sie erledigte an einem einzigen Vormittag die Arbeit, für die zwei andere einen ganzen Tag brauchen. Ihre Kollegen senken die Stimme, wenn sie von Rosa sprechen. Die meisten aus Ehrfurcht, manche aus Furcht.

Unangenehm konnte Rosa werden. Wenn sie nicht genug zu tun hatte oder wenn es ihr mal wieder nicht schnell genug ging. Rosa war das Maß der Dinge. Der lebende Beweis, dass es auch für alte Menschen immer noch eine Zukunft gibt, wenn eine mit 97 Jahren noch täglich sieben Stunden arbeiten kann. Doch dann versagte Rosas rechtes Bein von einem Tag auf den anderen. Ihre Schmerzen waren höllisch, nicht für eine Million Dollar hätte Rosa auftreten können. Vier Tage ertrug sie die Qualen, erst dann durfte ihre Schwiegertochter einen Arzt rufen. Rosa war im Krankenhaus und anschließend in der Reha. Seitdem wartet sie darauf, wieder zur Arbeit gehen zu können.

Die Hürde, die es zu überwinden gilt, ist die Treppe zum ersten Stock des Gebäudes, in der die Firma Vita Needle ihre Werkstatt hat. Die Werkstatt befindet sich in einem ehemaligen Kinosaal, der in den 20er Jahren gebaut wurde. 1939 zog Vita Needle ein. Der Familienbetrieb stellt hier in Needham, 15 Kilometer vor Boston, Nadeln und Röhrchen her. Als Spritzen im medizinischen Bereich und für industrielle Zwecke. Die Firma ist spezialisiert auf Sonderanfertigungen in überschaubarer Stückzahl, so produziert sie zum Beispiel die Nadeln, mit denen in den drei amerikanischen Seaworld-Aquarien die Orkas geimpft werden. Solide Nadeln, die selbst dem Fettgewebe eines Wals standhalten.

Das Durchschnittsalter der Angestellten beträgt 71 Jahre, einige sind weit älter. Rosa ist mit 97 Jahren die Älteste. Die wenigsten hier sind mit dem Job gealtert. Im Gegenteil: Sie haben diesen Job erst angetreten, als sie in ihrem Ursprungsberuf pensioniert wurden. Sie waren Lehrer, Ingenieure, Designer oder Kellnerinnen wie Rosa. Jetzt setzen sie kleinste Metallteile im Akkord zusammen. Zersägen sie, formen sie und verschicken ihre Arbeit an Kunden im ganzen Land. Aus Altersgründen wird niemandem gekündigt, alle Mitarbeiter haben eine Jobgarantie auf Lebenszeit. Wer hier aufhört zu arbeiten, ist entweder tot oder schafft die Treppe nicht mehr.
 

Tom Convoy, 74, ist jeden Morgen der Erste. Um viertel nach vier parkt er seinen Jeep vor der unscheinbaren Eisentür am Fuß der Treppe zur Werkstatt. Ein Schild hängt dort an der Wand: "Help wanted".

Es war dieses Schild, das Tom vor zehn Jahren zufällig sah. Seitdem arbeitet er hier. Am liebsten am Packtisch, "weil ich da in Bewegung bin", sagt Tom, der 41 Jahre lang Sportlehrer an der Highschool war. Nach seiner Pensionierung mähte er ein Jahr lang den Rasen eines Sportplatzes, bevor er zu Vita Needle kam. Er war nicht einen einzigen Tag als Rentner zu Hause.

"Herumsitzen ist nichts für mich", sagt Tom, "war es nie. Stillsitzen macht mich müde." Nachts schläft er nur noch drei oder vier Stunden, spätestens um vier Uhr ist er wach. Dann macht er sich auf den Weg zur Arbeit. Früher war Rosa die Erste im Laden, heute ist es Tom. In der halben Stunde, die er morgens allein in der Werkstatt verbringt, ist er der König. Er macht das Licht an, schaltet das Radio am Packtisch ein, legt die Hebel für die Druckluftzufuhr an den Maschinen um und öffnet die Tür zur Feuertreppe. Dann setzt er die Ventilatoren in Bewegung. Er nimmt seine Personalkarte aus dem Fach unter der Wanduhr und wartet, bis der Zeiger exakt auf halb fünf zeigt. Erst dann locht er seine Karte. "Punkt halb fünf", lächelt Tom, "jeden Tag."

Eine halbe Stunde später kommt Bill Ferson. Er ist fast 90 und der älteste Mann im Laden. Seit zwanzig Jahren arbeitet er bei Vita Needle. "Hi Tom, wie geht's?", fragt Bill. "Ganz okay, meine Beine sind ein bisschen steif", antwortet Tom.

Vor zwei Jahren hat Tom einmal Bills Leben gerettet, seitdem gehört der Austausch ihres Gesundheitszustands zum morgendlichen Ritual. Damals war Bill nach der Arbeit zusammengebrochen, sein Herz schlug nur noch 30-mal pro Minute. Tom rief den Krankenwagen. "Wäre ich zu Hause umgefallen", sagt Bill, "wäre ich jetzt tot." Bill bekam einen Herzschrittmacher.

Tom hat künstliche Kniegelenke. Manchmal witzeln die beiden über ihre Ersatzteile. Tom bewundert Bill dafür, dass er nach dem Tod zweier Ehefrauen nun seit zwei Jahren wieder eine Freundin hat. Mit ihr geht Bill mehrmals im Jahr auf eine Bootstour, ihr nächstes Ziel ist Alaska. Abends besucht er sie zum Essen, und bevor er heimgeht, drückt sie ihm die Lunchtüte für den kommenden Tag in die Hand.
 

Gegen sechs kommen immer mehr Angestellte in die Werkstatt. Zuerst die ganz alten, weil sie nicht mehr so lange schlafen können oder weil sie am Nachmittag für ihre Enkelkinder da sein wollen. Danach diejenigen, die zu Hause niemanden mehr haben, der auf sie wartet, und deshalb lieber bis zum Abend in der Firma bleiben.

Die meisten von ihnen sind Männer, Vita Needle ist ein technischer Betrieb, Männer fühlen sich hier wohler als Frauen. Außerdem waren die Frauen der Generation über 60 meist ihr Leben lang Hausfrauen, sie fangen im Alter nur dann an zu arbeiten, wenn sie gar keine andere Wahl haben. Wenn das Geld vorn und hinten nicht reicht, weil der Ehemann gestorben ist und niemand sonst da ist, der für sie sorgen kann. Für diese Frauen ist die Arbeit in der Werkstatt ein notwendiges Übel, und sie tun sie mit weniger Begeisterung als ihre männlichen Kollegen. Manche sprechen kaum ein Wort, sie machen still und fast unsichtbar ihre Arbeit und gehen dann nach Hause.

Auch Zina Zambito, 66, ist hier, um Geld zu verdienen. Aber es geht dabei nicht um ihre Existenz. "Ich gebe gern Geld aus", sagt sie lachend, "für neue Kleider zum Tanzengehen, Geschenke für meine Enkelkinder und immer dann, wenn ich etwas Schönes sehe." Sie tippt auf ihre Armbanduhr: "Hier, Gucci, hab ich mir gekauft. Von meinem Geld."

Zina spricht schnell und in abenteuerlichem Englisch, dabei ist die Italienerin seit 35 Jahren in den USA. Eingewandert ist sie mit ihrem Mann Lorenzo in der Hoffnung auf ein besseres Leben, raus aus Sizilien, wo es keine Arbeit gab und keine Zukunft. Die Zambitos haben ein Haus in Needham, zwei Kinder und vier Enkelkinder.

Das ist eigentlich eine Erfolgsstory, aber glücklich sind sie trotzdem nicht. "Ich mag Amerika nicht", sagt Zina, "am Anfang habe ich nur geweint. Und noch heute würde ich am liebsten nach Hause, zurück nach Sizilien." Das Ehepaar hat dort eine kleine Wohnung, zurück können sie trotzdem nicht. Zina kümmert sich an zwei Nachmittagen um ihre Enkelkinder, damit ihre Schwiegertochter zur Arbeit gehen kann. Und ihrer eigenen Tochter ist der Mann vor einem Jahr gestorben, er war erst 42. Zina will jetzt da sein für sie, denn die Familie ist ihr wichtiger als die Sehnsucht nach ihrem Heimatland.
 

Mit dem Geld, das Zina bei Vita Needle verdient, verwandelt sie ihr amerikanisches Haus in ein Little Italy. Die Wände hängen voll mit Reliefbildern italienscher Momente in Gold und Silber - Venedigs Kanäle, sizilianische Hafenszenen, toskanische Landschaft. Im Kühlschrank ist immer eine eisgekühlte Flasche Limoncello-Zironenlikör, und es gibt echten Espresso. Jeden zweiten Samstag gehen Zina und Lorenzo in der italienischen Gemeinde zum Tanzen. Lorenzo im schwarzen Anzug, Zina im paillettenbestickten Tanzkleid, mit Pelzkragen und passenden Schuhen.

In der kurzen Zeit, in der Zina ohne Job zu Hause war, weil die Firma, bei der sie 18 Jahre als Näherin gearbeitet hatte, pleite ging, hatte sie zu viel Zeit zu Nachdenken. Sie saß vorm Fernseher und wurde immer unglücklicher. Ihre Kinder baten sie schließlich, sich wieder einen Job zu suchen. So kam Zina vor sechs Jahren zu Vita Needle. Sie arbeitet 25 Stunden in der Woche, dafür bekommt sie knapp 800 Euro im Monat.

"Wer glaubt, Vita Needle sei so etwas wie ein gemütlicher Countryclub, liegt falsch", sagt Frederick Hartmann, 57. Er ist Geschäftsführer in vierter Generation, sein Urgroßvater hat das Unternehmen 1932 gegründet. "Unsere Arbeiter kosten weniger, sie sind an mehreren Maschinen geschult worden, so dass wir sie je nach Bedarf einsetzen können. Und sie lieben ihre Arbeit. Mit anderen Worten: Wir sind sehr produktiv!" Tatsächlich steigen die Umsätze seit den 80er Jahren stetig.

Vita Needle arbeitet ausschließlich mit Teilzeitkräften. Da für diese weniger Sozialabgaben anfallen und für Senioren keine Zuschüsse für die Krankenkasse entrichtet werden müssen, kann das Unternehmen die Lohnkosten niedrig halten. Komplizierte Arbeitsschritte, für die Laser oder andere teure Maschinen benötigt werden, sind an Partnerfirmen ausgelagert. Das Gebäude, in dem die Werkstatt untergebracht ist, gehört der Firma seit vielen Jahren, so dass außerdem keine Miete anfällt.

Die älteren Mitarbeiter sind froh um diesen Job, sie machen ihn gern, und sie machen ihn deshalb besonders gut. Aktiv um ältere Mitarbeiter werben kann Vita Needle allerdings nicht, dafür sorgen die Anti-Diskriminierungs-Gesetze in den USA. Deshalb arbeiten auch jüngere Kollegen in der Werkstatt. Aber es hat sich längst herumgesprochen, dass hier Alte eine Chance kriegen. Sogar die Fernsehsender CBS und NBC haben darüber berichtet, Vita Needle ist auch in Amerika etwas Besonderes.

Es zischt und stampft. Viele Maschinen laufen mit Druckluft, über der Werkstatt liegt ein permanenter Geräuschteppich. Joe Reddington, 78, tüftelt an der rechten Wand an einem neuen Arbeitsgerät - er entwickelt die Werkzeuge, die für Sonderaufträge benötigt werden. Dick Tompkins, 81, lässt Nadeln auf eine Waagschale rieseln, Robert O'Mara, 72, verbindet Nadeln mit Spritzenaufsätzen, Bill hockt in seiner Ecke und zersägt Metallröhrchen mit der Kreissäge, und Tom stellt die Frachtpakete, die mit UPS versandt werden, vor das ehemalige Kinokassenhäuschen.

Es riecht nach Staub und altem Holz, gegen Nachmittag kriecht die Hitze durch die Ritzen im Holzfußboden. Die Werkbänke sind alt, einige Stühle ziemlich wacklig, eine Klimaanlage gibt es nicht. Hier hat sich seit 60 Jahren kaum etwas verändert. Das perfekte Umfeld für Menschen, die vor 60 Jahren begonnen haben zu arbeiten. Jeder arbeitet in seinem Tempo, es ist alles andere als hektisch. Zwischendurch bleibt Zeit für einen kurzen Plausch über die Enkel. Joe erzählt Tom Witze, und Zina klopft Bob im Vorbeigehen auf die Schulter. Der Umgang untereinander ist geprägt von Respekt und großem Gemeinschaftsgefühl. Es ist fast familiär.

Manager Michael LaRosa stellt nur Leute aus der Gegend ein, meist kennen sie ein paar der Kollegen schon vom Sehen, aus der Kirche oder der Nachbarschaft. Das macht den Neuanfang für alle leichter. Aber es gibt noch einen weiteren Grund: Für die Menschen aus der Region gibt es im Bezirkskrankenhaus in der Regel bereits eine Krankenakte. Falls wirklich mal etwas passiert, falls jemand umfällt oder krank wird.

LaRosa, 50, achtet darauf, dass jeder in der Firma genau das Pensum leistet, das er schaffen kann, außerdem ist er längst eine Art Sozialarbeiter geworden. Wenn jemand nicht zur Arbeit erscheint, ruft er an. Nimmt niemand ab, fährt er hin und klopft so lange an die Tür, bis jemand öffnet. "Wir haben eine soziale Verantwortung für diese Menschen", sagt LaRosa, "und die nehmen wir wahr." Das bedeutet auch zu akzeptieren, dass seine Angestellten mit zunehmendem Alter langsamer werden. Oder darüber hinwegzusehen, wenn jemand bei der Arbeit einschläft. So wie Marion, 96, die zum Schluss täglich auf ihrem Stuhl einnickte. Bis ihre Kinder ihr verboten, weiter bei Vita Needle zu arbeiten. Marions letzter Arbeitstag war ein Freitag. Am Sonntag war sie tot.

Für einige hier ist der Job ihr ganzer Lebensinhalt. "Rosa Finnegan ist auch so ein Fall", sagt Tom leise. "Ohne Vita Needle ist Rosa verloren." Das ahnt auch Manager Michael. Deshalb liefert er Rosa kleinere Aufgaben nach Hause. Nadeln zum Sortieren oder Abpacken. Dinge, die sie beschäftigen und vielleicht sogar am Leben halten. An diesem Nachmittag bringt Bill Ferson die neuen Päckchen zu Rosa Finnegans Haus. "Rosa ist einzigartig", sagt Bill. "Ich würde alles für sie tun, und sie würde das Gleiche für mich tun." Der 89-jährige ehemalige Betriebsleiter fährt einen großen Chevrolet, im Satelliten-Radio laufen Hits aus den 40er Jahren. Unter der Sonnenblende des Beifahrersitzes klemmen zwei Bonbons. "Für meine Gefährtin", sagt er. Er parkt seinen Wagen auf der Einfahrt, dann geht er auf die Rückseite von Rosa Finnegans Haus. Vorbei an tiefgrünen Büschen in den Garten.

"Rosa, wie geht es deinem Bein?", ruft Bill, als er die Veranda betritt. "Was hast du gesagt?", antwortet Rosa. "Mein Gott, nicht nur, dass ich kaum noch etwas sehen kann, jetzt werde ich auch noch taub! Alt werden ist schrecklich!" Bill lacht und zieht einen Stuhl an Rosas Seite. "Dir geht's doch gut", sagt er, "deine Familie ist hier." Rosa lebt seit 1950 in diesem Haus, als sie einzog, war ihr Sohn gerade vier Jahre alt. Heute ist er 62 und bewohnt mit seiner Frau das Erdgeschoss und den ersten Stock. Enkelkinder gibt es auch, sogar Urenkel, aber sie leben nicht in Needham. Auf Rosa Finnegans Kommode in ihrer kleinen Wohnung im Souterrain stehen gerahmte Fotos von ihnen.

Rosa Finnegan und Bill Ferson, die Ältesten bei Vita Needle, plaudern über die harten Zeiten während der großen Wirtschaftskrise in den 30er Jahren, sie sind die einzigen Mitarbeiter, die sich daran erinnern können. Rosa musste schon mit 16 mithelfen, das Familieneinkommen zu sichern. Sie hat ihr Leben lang gearbeitet, und darauf ist sie stolz. Nichts zu tun kommt ihr seltsam und falsch vor, an freie Zeit ist Rosa nicht gewöhnt.

Beim Abschied mahnt Bill: "Rosa, sieh zu, dass du dein Bein in Bewegung hältst. Du musst die Treppe schaffen!" Rosa nickt und lächelt. Bill schließt die Verandatür hinter sich, dann steigt er in seinen Chevy. "Rosas Schwiegertochter möchte, dass sie den Job bei Vita Needle aufgibt", sagt er, "aber das bricht Rosa das Herz."

Vier Wochen später ist die Königin von Vita Needle zurück. Sie kommt wieder allein die Treppe hoch.

Text: Stefanie Hellge Fotos: Clemence de Limburg Ein Artikel aus der BRIGITTE 26/08

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