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Zhenya Zakhar verwandelt Narben häuslicher Gewalt in Kunstwerke

Zhenya Zakhar
© Claudia Janke
Zakhar hört zu und tätowiert: Narben häuslicher Gewalt verwandelt sie in Kunstwerke, um den Frauen in Russland die Erinnerung an die schlimmen Taten zu nehmen.

Es sind die Spuren von Verbrennungen, Stichen, Schnitten. Die Tatwaffen: Zigaretten, Haarglätter, Messer. Zurück blieben Narben, auch auf der Seele. "Ich kann immer noch nicht glauben, dass es so viel häusliche Gewalt in Russland gibt", sagt Zhenya Zakhar, Tätowierkünstlerin in Ufa, Hauptstadt der russischen Republik Baschkortostan. "Manchmal kommen auch Mädchen zu mir, die ich schon lange kenne. Und die ich dann frage: "Warum hast du vorher nie etwas gesagt?"

Aus einer Narbe wird ein Zeichen des Neuanfangs

Zakhar tut dann das, was sie am besten kann: Sie hört zu. Und tätowiert. Die Narben verwandelt sie in Vögel, Blütenranken, einen schützenden Wolf. "Es sind zärtliche Motive, die sich die Frauen aussuchen", sagt sie. Sie decken die Verwüstungen zu, die Freunde, Ex-Freunde und Ehemänner ihren Körpern zugefügt haben. Viele Frauen wählen auch einen Schmetterling, denn er steht für die Verwandlung, den Neuanfang.

Seit 2016 tätowiert die 33-Jährige kostenlos Opfer häuslicher Gewalt. Sie hatte einen Artikel über die brasilianische Künstlerin Flavia Carvalho gelesen, die Narben in Kunstwerke verwandelt. Und beschlossen, dasselbe für die russischen Frauen zu tun. Im sozialen Netzwerk "V Kontakte" setzte sie einen Post ab. "Innerhalb eines Tages meldete sich die erste Frau bei mir."

In Russland wird häusliche Gewalt nicht mehr als kriminelle Tat verurteilt - Zakhar kann das nicht verstehen

Rund 200 Frauen hat Zakhar im Lauf des ersten Jahres tätowiert. Anfangs immer zwischen den normalen Aufträgen, mittlerweile nimmt sie sich montags frei dafür.

Wenn sie unter der Nadel liegen, erzählen die Frauen ihr dann, wie es zu der Gewalt kam. "Alkohol spielt eine große Rolle, Arbeitslosigkeit. Je weiter man entfernt ist vom europäischen Zentrum Russlands, um so schlimmer wird es."

Pauschal will sie über die Männer aber nicht urteilen. Schließlich war sie nicht dabei, als die Taten passierten. Doch die Geschichten der Frauen tun auch ihr weh. "Anfangs habe ich viel geweint, fühlte mich depressiv", sagt sie. Was sie noch mehr schmerzt: In Russland wurde ein Gesetz verabschiedet, nach dem häusliche Gewalt - sofern sie erstmals stattfindet und nicht lebensbedrohlich ist - nicht mehr als kriminelle Tat verurteilt wird, sondern nur als Ordnungswidrigkeit gilt. Eine Geldstrafe ist alles, was den Tätern droht.

Wenn er dich schlägt, liebt er dich, heißt es in Russland.

Dabei sterben in Russland jährlich 12 000 Frauen an den Folgen häuslicher Gewalt - bei 144 Millionen Einwohnern. Zum Vergleich: In Deutschland sind es 331 Todesopfer - bei 82 Millionen Einwohnern. "Es geht nicht in meinen Kopf, was dieses Gesetz rechtfertigen soll", sagt Zakhar. Allerdings hätten auch schon vorher die wenigsten der Frauen, die zu ihr kommen, ihre Partner angezeigt. "Die Polizei hilft meist nicht in solchen Fällen." Denn, so die Haltung, was sei so schlimm daran, wenn einem Mann mal die Hand ausrutschte?

Zhakar möchte auch die Ursachen häuslicher Gewalt bekämpfen

Es gab keine Gewalt bei ihr zu Hause, sagt Zakhar. Ihr Vater ist inzwischen verstorben, doch als sie mit 20 beschloss, in die Tätowierkunst einzusteigen, unterstützte er seine Tochter. Und die erste Tätowierung, ein Herz, stichelte Zakhar ihrer Mutter auf den Knöchel, weil sich sonst niemand unter die Nadel der noch Unerfahrenen traute.

Welche Kraft ihre Kunst heute gibt, beeindruckt sie selbst: "Dieser Blick, wenn die Frauen sich das erste Mal mit der neuen Tätowierung sehen, diese Freude, dieses Kapitel ihres Lebens hinter sich zu lassen, das bewegt mich zutiefst." Neben ihrer Arbeit hat Zhenya Zakhar nun begonnen, Jura zu studieren: Sie möchte nicht nur die Folgen des Verbrechens bekämpfen, sondern seine Ursachen.

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