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Woran erkennt man die Wahrheit?

Renate Volbert ist Gerichtsgutachterin. Spezialisiert auf Missbrauchsdelikte. Sie muss herausfinden, ob ein Opfer lügt. Sie hat ihre Methoden. Und viel Erfahrung. Aber manchmal kommt auch sie ins Zweifeln.
Renate Volbert, Gerichtsgutachterin und Wissenschaftlerin
Renate Volbert, Gerichtsgutachterin und Wissenschaftlerin
© Sabine Schründer

Der Ort der Wahrheit ist ein weißer Tisch. Ein Aufnahmegerät liegt darauf, sonst nichts. Kein Spielzeug, keine Stifte, keine Plüschtiere. "Die Kinder sollen wissen, dass wir hier nicht spielen", sagt Renate Volbert. Hunderte Kinder und Jugendliche saßen schon hier, genau weiß sie es nicht. Das jüngste, sagt die Gerichtsgutachterin, war drei Jahre alt. Die Kinder kommen als mutmaßliche Opfer von Straftaten in die Gründerzeitvilla in Berlin-Dahlem. Doch ob sie das, was sie erzählen, wirklich erlebt haben, ist ungewiss. Renate Volbert, 50, Psychologin am Institut für forensische Psychiatrie an der Berliner Universitätsklinik Charité, will die Wahrheit herausfinden. Im Auftrag der Gerichte untersucht sie die "Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen". Man könnte auch sagen: Sie muss die Lüge von der Wahrheit unterscheiden. Aber das würde sie so nicht ausdrücken. Renate Volbert ist Wissenschaftlerin. Sie therapiert niemanden, und sie versteht sich auch nicht als Anwältin der Kinder. "Ich begutachte Aussagen, keine Opfer", sagt sie. Obwohl die Schicksale der Kinder sie berühren, bleibt sie sachlich, distanziert - weil ihnen das am meisten hilft. "Wenn man sich emotional engagiert, ist man eingeschränkt in seinem Handlungsspielraum. Lässt man sich zu sehr auf eine Seite ziehen, sieht man die Gegenargumente nicht mehr."

In der Dahlemer Villa werden Geschichten von Missbrauch, Vernachlässigung und blanker Gewalt erzählt. Von Kindern, die wie Gepäckstücke unter Wirtshaustischen abgelegt werden. Von Müttern, die nicht wahrhaben wollen, was der Opa mit der Enkeltochter treibt. Für viele Kinder ist es das erste Mal, dass sich jemand für ihre Geschichte interessiert. Alle Aussagen sind freiwillig, gegen seinen Willen kann kein Kind gezwungen werden, sich begutachten zu lassen. Zwei, drei Stunden dauern die Sitzungen, manchmal länger. An der Wand hängen Zeichnungen, Schneemänner sind darauf zu sehen. Die haben Renate Volberts Zwillingstöchter gezeichnet, als sie klein waren. Bilder aus einer anderen Welt.

Was sie genau fragt in ihrem Zimmer, gibt Renate Volbert nicht preis. Auch nicht, was es mit ihr macht, all diese Geschichten zu hören. Ihre Schweigepflicht nimmt sie sehr ernst. Sie wolle das "Erzählen in Gang bringen", sagt sie, nie frage sie zu Beginn direkt nach der Tat. "Zuerst erkläre ich dem Kind, worum es geht und was ich untersuchen will. Dann frage ich, wie es ihm geht, wie es jetzt lebt und wie es sich dabei fühlt." Kinder seien dann meist verständnisvoll. "Eine Zehnjährige sagte mir: 'Ja, das kommt ja vor, dass Kinder lügen.'"

Woran erkennt man die Wahrheit?
© Sabine Schründer

Es wird Kindern nicht schwer fallen, Vertrauen zu Renate Volbert zu fassen. Der Blick aus großen blauen Augen strahlt Geduld und Offenheit aus. Die blonden Locken fallen ihr über die Schultern. So akkurat ihre Sprache ist, wenn sie über ihren Beruf spricht - ihr Arbeitszimmer erzählt von einer sympathischen Furchtlosigkeit vor scheinbarer Unordnung. Gerichtsakten bedecken den Schreibtisch, Bücher stapeln sich auf dem Boden, es ist eine Arbeitslandschaft, in der sich Renate Volbert mühelos zurechtfindet. Im Regal steht ihr Buch "Beurteilung von Aussagen über Traumata". Eine von zahlreichen wissenschaftlichen Studien, die sie verfasst hat. Seit Beginn der neunziger Jahre hat sich Renate Volbert vor allem mit Kindern als Zeugen in Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs beschäftigt. Sie tritt vor Gerichten in ganz Deutschland als Gutachterin auf, fast immer sind es besonders schwierige Fälle, bei denen ihr Rat eingeholt wird. Wie bei Nicole, einem 16- jährigen Mädchen, das den Lebensgefährten ihrer Pflegemutter schwer belastet.

Begleitet von einer Erzieherin aus dem Heim, in dem es zuletzt wohnte, kam das schmale Mädchen mit den langen blonden Haaren und den Silberkreolen an den Ohren vergangenen Herbst zum ersten Mal in die Dahlemer Villa. Nicole gilt als "entwicklungsverzögert", daher musste sie zunächst einen Intelligenztest absolvieren. Sie erzählte Renate Volbert, was sie später dem Gericht berichtet: Wie ihr der Mann an die Brust fasste. Wie er von ihr verlangte, sie solle ihn abtrocknen, "weil er 'da' nicht rankäme". Dass er sie nackt unter der Dusche fotografierte. Dass er sie auf den Mund küsste. Wie er sie im Wohnzimmer dazu brachte, seinen Penis anzufassen. Dass er sie schließlich unter dem Vorwand, sie solle ihm bei der Hausarbeit helfen, in den Keller lockte, in dem sich das Elternschlafzimmer befand. Dort soll er sie dazu gebracht haben, vor der Bettkante zu knien. Und sie zum Analverkehr gezwungen haben.

14 Jahre alt war Nicole damals. Der Beschuldigte stritt alles ab. Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage, auch noch wegen einer anderen Straftat: Zehn Jahre vor Nicole soll der Mann die minderjährige Tochter einer früheren Lebensgefährtin über viele Jahre hinweg vergewaltigt haben. Die inzwischen 26-jährige Frau wurde nicht begutachtet. Das Gericht hielt ihre Aussage für glaubwürdig. Schlechte Aussichten für den Angeklagten. Dennoch heißt das noch nicht, dass Nicole die Wahrheit sagt. Aber kann ein Teenager so etwas erfinden? Welche Motive hätte Nicole dafür?

Fast immer kennt das Kind den Täter, der es missbraucht hat!
Fast immer kennt das Kind den Täter, der es missbraucht hat!
© Sabine Schründer

Was wahr und was erfunden ist, kann man studieren. Das Seminar von Renate Volbert im Institut für Forensische Psychiatrie ist gut besucht. Die Studenten, vor allem junge Frauen, vereinzelt mit Baby im Tragetuch, drängen sich im Souterrain der Villa. Der Hörsaal ist nur über den seitlichen Dienstboteneingang zu erreichen, nebenan lagern einige Kubikmeter Akten über Verbrechen aus den vergangenen 60 Jahren, darunter zahlreiche Mordfälle. Renate Volbert hat 1990 mit einer Doktorarbeit über Tötungsdelikte promoviert. Als Gutachterin beschäftigt sie sich nur noch sehr selten mit solchen Verbrechen. Sehr häufig handle es sich dabei um Delikte mit zufällig gewählten Opfern. Dabei gehe es vor allem um die Frage der Schuldfähigkeit. Was sie "psychologisch weniger interessant" findet als die Frage nach der Glaubhaftigkeit.

Zwei Studentinnen tragen ein Referat mit den spröden Titel "Merkmalsorientierte Inhaltsanalyse" vor. Die wichtigsten "Glaubhaftigkeitsmerkmale" werden an eine Tafel projiziert. Stark vereinfach heißt das: Wer die Wahrheit sagt, erzählt oft ungeordnet, erinnert sich an scheinbar unwesentliche Details, kann Gespräche wiedergeben, schildert Ereignisse, obwohl er sie nicht verstanden hat, und hält sich nicht mit Selbstdarstellungen und Wahrheitsbeteuerungen auf. Im Gegenteil: Er gibt Gedächtnislücken zu und belastet sich zuweilen selbst. "Darstellungen von erfundenen Erlebnissen", sagt Renate Volbert, "sind schematischer und kürzer. Der Lügner möchte einen glaubhaften Eindruck machen, er weist nicht selbst auf Erinnerungslücken hin."

Sie verteilt ein Merkblatt zum Thema "erlebnisbasierte Aussagen". Die Dozentin warnt davor, es als "Checkliste" zu betrachten, und testet ihre Studenten mit der Tonbandaufnahme einer Zeugenaussage: Eine Frauenstimme erzählt, wie ihr Fahrrad gestohlen wurde, während sie auf der Bank Geld abhob. Die Frau klingt glaubwürdig, erinnert sich sogar daran, dass es geregnet hat. Wahr oder nicht wahr? Die meisten Studenten glauben der Frau. Sie sind überrascht, als Renate Volbert das Rätsel schließlich löst: Die Frau war eine gute Lügnerin. Nur Renate Volberts "Checkliste" im Kopf zu haben, hat bei der Einschätzung der Aussage nicht weitergeholfen.

Wann sagt ein Zeuge die Wahrheit? Wenn keine objektiven Beweise vorliegen, gilt die "Unwahrannahme" gegenüber Zeugenaussagen: So hat es der Bundesgerichtshof 1999 entschieden. "Das hat nichts mit einer generellen Skepsis gegenüber Zeugenaussagen zu tun", sagt Renate Volbert. "Die Unwahrannahme gilt, solange nicht alle anderen Erklärungen für das Zustandekommen einer Aussage ausgeschlossen werden können." Zum Beispiel Suggestion oder bewusste Falschaussage. "Es gibt Menschen", sagt Renate Volbert, "die überzeugt sind, dass ihnen in der Kindheit etwas angetan wurde, obwohl es ihnen gar nicht passiert ist.Es geht ihnen schlecht, und endlich haben sie den Grund dafür gefunden." Dennoch: "Die Mehrzahl der Aussagen ist glaubhaft", sagt sie. Das Dunkelfeld bei sexuellem Missbrauch an Kindern ist sehr hoch, angezeigt werden vor allem Fremdtäter, die häufig nicht ermittelt werden können. In den meisten Fällen aber kennt das Kind den Täter, der sich an ihm vergeht.

Fünf Wochen nach den Sitzungen an Renate Volberts weißem Tisch wird Nicole in den Zeugenstand am Kriminalgericht Moabit in Berlin gerufen. Die Gutachterin sitzt in dunklem Anzug und hellem T-Shirt hinter einem Laptop auf der Bank der Opfer, der "Nebenkläger", und ihrer Anwälte. Auf der Bank gegenüber sitzt der Angeklagte mit seinem Verteidiger. Dem Gericht liegt bereits ein erstes Gutachten von Renate Volbert über Nicole vor. Das Mädchen ist kaum zu verstehen. Mehrmals bittet die Richterin sie, lauter zu sprechen. Nicole erzählt dasselbe wie zuvor bei Renate Volbert. Warum sie damals der Pflegemutter nichts gesagt habe, will die Richterin wissen. Nicole erwidert, dass der Angeklagte ihr gedroht habe, sie komme dann ins Heim. Sie habe sich aber ihrem Stiefbruder anvertraut, der wiederum erzählte einer Tante davon, die Tante erzählte es ihrer Krankengymnastin, die mit einem Polizisten verheiratet ist - und so kam es zur Anzeige.

Nicole wurde daraufhin aus der Familie genommen und kam in ein Heim. "Stille Post" wird Renate Volbert diese Vorgeschichte später nennen. Sie stellt während des Prozesses fast allen Zeugen Fragen, will herausfinden, was Nicole wann wem erzählt hat. Plötzlich legt sie dabei Widersprüche in Nicoles Aussagen bloß. Einmal will sich das Mädchen nun doch nicht an den Analverkehr erinnern können. Das sei, so wird Renate Volbert später in ihrem Schlussgutachten ausführen, "gedächtnispsychologisch nicht zu erklären". Vor allem bei den Erziehern, die Nicole im Heim betreuten, hakt sie nach. Fünf Monate ist Nicole schon im Heim, als sie einer Erzieherin zum ersten Mal von den Taten erzählt, für die der Pflegevater vor Gericht steht. Alle Erzieher hatten bereits vom Jugendamt von der "Distanzlosigkeit des Pflegevaters" erfahren. Niemand im Heim zweifelte an Nicoles Äußerungen. Vermutlich bestärkten die Erzieherinnen Nicole in ihren Aussagen.

Am letzten Tag vor der Urteilsverkündung trägt Renate Volbert ihr Schlussgutachten vor. Die Richterin ruft sie auf. "Unauffällig, lieb und angepasst" sei dieses Mädchen. Die Möglichkeit einer "absichtlichen Falschaussage" verwirft Renate Volbert. Anders bei der Annahme einer "suggerierten Aussage". Die Entstehungsgeschichte der Aussage spreche dafür. Denn dass sie sexuell schwer missbraucht worden sei, hat Nicole erst nach vielen Monaten im Heim erzählt - ihren Erziehern. Deren Aussagen aber decken sich nicht mit dem, was Nicole der Polizei erzählt hatte. Ungereimtheiten finden sich in fast allen entscheidenden Details. Nicole, sagt Renate Volbert, sei ein Mädchen, das Erwartungshaltungen erfüllt. "Sie passt sich dem Umgebungshintergrund an." Als die Erzieher von ihr Aussagen erwarteten zu einem "Tatbestand, den sie als Fakt vermittelt bekommen hatten", wollte Nicole ihnen etwas liefern. Was folgte, war eine "suggerierte Falschaussage". Renate Volberts Vortrag dauert etwa eine halbe Stunde. Am Ende sagt sie: "Es ist eine Hypothese. Ich kann dennoch nicht ausschließen, dass Nicole das, was sie hier ausgesagt hat, wirklich erlebt hat." Und doch legt sie sich am Ende auf die "Annahme einer suggerierten Aussage" fest. Die Richterin schließt sich in der Urteilsverkündung dieser Hypothese an. Im Fall von Nicole wird der Angeklagte freigesprochen. Wegen seines Verbrechens an der Tochter seiner früheren Lebensgefährtin wird er zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt.

Auch Wochen später lässt sich Renate Volbert keinen Kommentar über das Urteil abringen. Nicoles Fall habe ihr mehr Kopfzerbrechen bereitet als viele andere, sagt sie. Selten komme es vor, dass ihr Schlussgutachten von den ersten Gesprächen im Institut abweiche. Selten auch legt sie sich so zögernd fest wie in diesem Fall. "Wenn ich etwas für glaubhaft halte, will ich das auch so darstellen, ohne zu vorsichtig zu sein. Bei jedem meiner Gutachten frage ich mich, ob ich das wirklich vertreten kann. Ich würde es nicht so schreiben, wenn ich nicht davon überzeugt wäre." Verantwortung, sagt Renate Volbert, heiße für sie aber auch, "die Grenzen meiner Möglichkeiten zu beschreiben". Bei Nicole hat sie das getan.

BRIGITTE Heft 07/08 Text: Christina Bylow Fotos: Sabine Schründer

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