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Wohnprojekte: In der Gemeinschaft ist man weniger allein

Wohnprojekte sind längst nicht mehr nur etwas für Aussteiger und Alternative. In Wulfsdorf bei Hamburg entsteht eines der bundesweit größten Wohnprojekte: Die "Wilden Rosen". BRIGITTE.de hat die künftigen Bewohner besucht.

Die Kleinen wünschen sich einen Swimmingpool mit zitronengelbem Wasser, bespielbare Vulkane und einen Garten, in dem man heißen Kaffee aus goldenen Tassen trinken kann. Bei den Großen stehen Tierhaltung, Feuerstelle und plätscherndes Wasser ganz oben auf der Prioritätenliste. Ebenso wie die Adjektive "romantisch", "verwildert", "idyllisch" und "verträumt".

150 Menschen haben sich für das Wohnprojekt "Wilde Rosen" zusammengeschlossen, um gemeinsam ein Dorf zu bauen und ihr Leben miteinander zu teilen: EDV-Spezialisten, Regisseure, Lehrer, Polizisten und zahlreiche andere. Unterschiedliche Talente, Charaktere und Lebenseinstellungen. Neugeborene, Kinder, Erwachsene und Senioren. Die älteste Bauherrin ist 72 Jahre alt.

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Bisher waren sie Fremde. Heute machen sie sich einträchtig warme Gedanken in einer kalten Turnhalle: Die Erwachsenen sitzen in kleinen Gruppen an Biertischen und kritzeln konzentriert Ideen auf bunte Kärtchen. Kinder hantieren mit Klebstoff, bunter Pappe, Knetgummi und Maschendraht. In einem Ideenworkshop tragen dann alle zusammen, wie die Außenanlage ihres Dorfes einmal aussehen soll.

Doch noch ist es nicht so weit. Bevor das Zusammenleben in einer Dorfgemeinschaft beginnt, müssen auf Baugruppensitzungen viele nüchterne Aspekte erörtert werden: Wie wird die Beleuchtung der neuen Straße aussehen? Welche Farbe soll die Außenfassade der Häuser haben? Wo wird der Abwasserkanal gebaut? Wer braucht eine Satellitenantenne, und was sind die Vorteile von DVB-T? Eine Baugruppensitzung bei den Wilden Rosen kann schon einmal fünf Stunden dauern.

Ungefähr 60 Mitglieder des Wohnprojekts sitzen heute im Stuhlkreis zusammen. Lars Straeter moderiert die Gruppe, beantwortet Fragen, lässt über jeden einzelnen Punkt abstimmen. Seit neun Jahren ist er Berater für Conplan, einer Gesellschaft aus Architekten, Städteplanern, Betriebswirten und Ingenieuren, die seit mehr als 15 Jahren alternative Wohn- und Arbeitsprojekte initiieren, entwickeln und begleiten.

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Eigentlich wollte der Architekt, dem "nur bauen" schon immer zu wenig war, nie einen Chef haben. Nun hat er mehr als 50. Denn so viele Bauparteien gibt es mittlerweile. Großfamilien, Kleinfamilien, Singles, allein erziehende Mütter und Väter, ältere und jüngere, wohlhabende und nicht so wohlhabende Menschen.

Sie alle wollen bauen. Gemeinschaftlich. Dort, wo bis vor kurzem noch Lagerhallen und Gewächshäuser standen, Blumen und Sträucher wucherten. Bis die Bagger kamen, um die 16 Hektar Land in Wulfsdorf, am Stadtrand von Hamburg, für rund 60 Neubauwohnungen und 8000 qm2 Gewerbefläche bebaubar zu machen. Das ehemalige Gelände einer Rosenzuchtforschung, die den Wilden Rosen ihren Namen gibt, besticht durch dörfliche Ruhe und einen Blick über Wiesen und Wälder.

In einem Wohnprojekt wie diesem geht es nicht nur darum, kostensparend Wohnungen zu errichten, sondern auch darum, gemeinschaftlich soziale und ökologische Ziele zu erreichen. Auf dem Gelände soll nicht nur gewohnt, sondern auch gearbeitet werden. Der Verein "Robbe e.V.", eine von Eltern behinderter Kinder ins Leben gerufene Initiative, wird auf dem Gelände betreutes Wohnen für 24 Jugendliche einrichten. Alle Häuser können barrierefrei gebaut werden und entsprechen dem Niedrigenergiestandart, geheizt wird mit einem eigenen Blockheizwerk. Seit mehr als zwei Jahren engagieren sich die Initiatoren für das Projekt. Im Winter werden die ersten Bewohner einziehen.

"Statistisch gesehen ist so ein Wohnprojekt vor allem für Familien und Senioren interessant. Frauen sehen die Vorteile der Gemeinschaft eher als Männer. Männliche Singles im Alter zwischen 25 und 50 Jahren findet man selten", sagt Lars Straeter. Thomas Bellizzi ist einer von ihnen: 26 Jahre und alleinstehend - der jüngste Bauherr der Wilden Rosen.

Thomas arbeitet tagsüber in der Hamburger Senatskanzlei, nimmt nach Feierabend Termine als Kommunalpolitiker der FDP wahr und steht am Wochenende als DJ auf Firmenfeiern, Geburtstagen und Jubiläen. Für Baugruppensitzungen bleibt ihm wenig Zeit. Für die Wilden Rosen hat er sich trotzdem entschieden. Weil bei allen Eigentumswohnungen, die ihm angeboten wurden, bisher immer irgendetwas nicht stimmte. Weil es ihn reizt, dass er im Wohnprojekt den gesamten Innenbereich seiner zukünftigen Wohnung selber planen und gestalten kann. Weil er durch das ökologische Heizungssystem Kosten spart. Aber auch, weil er hofft, dass es unter den Wilden Rosen keine unangenehm neugierigen, sondern offene und tolerante Nachbarn gibt.

Julia Schulze* und ihre drei Kinder (16, 7, 6 Jahre alt) wünschen sich in ihrer Dorfgemeinschaft mehr als eine gute Nachbarschaft. Mit ihrer ältesten Tochter hat Conny schon fünf Jahre lang in einer großen WG gewohnt: "Eine tolle, aber auch anstrengende Zeit. Für mich als allein erziehende Mutter war es einfach schön, nicht nur die Zweisamkeit Mutter und Tochter zu leben. Dort gab es Leben, andere Bezugspersonen, Geschwisterersatz und ich war flexibler", sagt Julia heute.

Sie weiß, dass jede Lebensform zwei Seiten hat. Sie braucht es, sich zurückziehen zu können, möchte keine "Kommunen-Ideale, wo jeder immer bereit sein muss und die Klotüren ausgehängt werden". Und doch fühlte sich Julia trotz netter Nachbarn in einem Einfamilienhaus in einem Vorort von Hamburg isoliert. Sie sehnt sich nach verbindlicher, lebendiger Gemeinschaft, nach Menschen, die ihre Ideale verwirklichen möchten, nach einer Großfamilie, ohne strickte Rollenverteilung. "Ich bin ein Typ, der gerne noch ein Hintertürchen offen hat. Bei so einem Einzug in ein Wohnprojekt muss man sich festlegen. Das ist schon ein bisschen so wie eine Heirat."

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Doch manchmal packt sie auch die Angst vor der eigenen Courage: Dann fürchtet sich Julia davor, dass etwas Ungeplantes passiert, die Gewerberäume bei den Wilden Rosen keine Interessenten finden oder die Gruppe Entscheidungen fällt, die ihren finanziellen Rahmen übersteigen. Schließlich kauft in Wohnprojekten wie diesen eine Gemeinschaft ein Grundstück und jeder bezahlt seinen individuellen Wohnraum. Die Baugruppe legt am Anfang Preise fest, zu denen gebaut werden soll: bei den Wilden Rosen 1.975 - 2.350 Euro pro m2. Doch ob diese Preise eingehalten werden können, hängt von vielen Faktoren ab: Ob alle Wohn- und Gewerberäume verkauft werden, davon, dass die Zinsen nicht steigen, sich der Baubeginn nicht verzögert und sich die Mehrheit nicht plötzlich für teure Holzfußböden oder für den Bau eines 50 Meter Schwimmbeckens entscheidet.

Aber Julia versucht, sich nicht zu viele Sorgen zu machen. "Selbst wenn etwas Unvorhersehbares passieren sollte, gibt es dafür sicherlich eine Lösung." Es beruhige, dass alle Wohnungen im ersten Bauabschnitt bereits vor Baubeginn vergeben sind. Der zweite Bauabschnitt ist zu 55% ausgelastet. Erst wenn 70% der geplanten Wohnungen verkauft sind, wird auch im zweiten Abschnitt angefangen zu bauen. Es beruhige auch, dass bisher alle kompromissbereit und stets darum bemüht sind, für jeden zukünftigen Bewohner eine befriedigende Lösung zu finden. Und dass die Beratergesellschaft Conplan bei der Finanzierung berät und bereits 18 Projekte dieser Art erfolgreich begleitet hat.

*Name von der Redaktion geändert

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Eines dieser Projekte ist Allmende. Ein fertiges "Öko-Dorf". Über 300 Menschen wohnen und arbeiten hier. Über 100 Wohnungen auf 8,5 ha Land. Weiß oder gelb verputzt, mit Holzfassade oder ohne, mit Balkon oder Terrasse. Viele Wohnblöcke, mit jeweils zwei bis zwölf Wohnungen. Statt Autos fahren Kinder auf Rollern oder Go-Karts über das Gelände. Allmende liegt keine 200 Meter von dem Grundstück der Wilden Rosen entfernt.

2004 erwarben die "Allmendianer" ihr Land. Seit Mitte 2007 sind fast alle Gebäude und Außenanlagen fertig gestellt. Hier heißen die Häuser bereits "Middenmang", "Löwenzahn" oder "Buntspecht". Hier gibt es bereits einen Ideengarten, einen Schwimmteich, einen Dorfplatz, eine Turnhalle und einen Bolzplatz. Auch Gewerbe hat sich angesiedelt: eine ökologische Saatgutforschung, ein Bestattungsunternehmen, zwei Künstlerzentren. Die Gemeinschaft funktioniert: Jedes Allmende-Mitglied arbeitet fünf Stunden im Monat im Garten, im Vereinsbüro, im Vorstand, engagiert sich in der Jugendarbeit oder gibt Sportunterricht. Ihre schnellen Einkäufe erledigen die Allmendianer im Dorfladen um die Ecke.

Hier wohnen Sonja Sannert und ihr Mann Helge mit den Kindern Aaron (13), David (7), Sophia (4). Ein warmer, großer, offener Wohnraum. Gebaut wurde ausschließlich mit naturnahen Baustoffen. Gerade ist Siri, ein Nachbarskind, zu Besuch.

Die Familie gehört zu den Pionieren der Allmendianer: Im Juli 2004 haben Sonja und Helge als eine der ersten angefangen zu bauen. 2005 bezogen sie ihr Haus, lebten mit Aaron und David und der gerade geborenen Sophia auf einer Baustelle - ohne Strom und fließendem Wasser, mit Handwerkern und Schmutz, zwischen Verlängerungskabeln und Werkzeugen. Sonja hat verdrängt, wie lange die Bauarbeiten andauerten. Die Infrastruktur auf Allmende war noch nicht errichtet. Es gab noch keine Wege, ihre Kinder transportierte sie mit der Schubkarre über das Gelände.

Eine harte Zeit. In der die Heilpraktikerin sich oft gefragt hat, warum die Gemeinschaft, in die sie gezogen ist, sie nicht unterstützt. "Eine Gemeinschaft muss wachsen", sagt sie im Rückblick. "Es dauert, bis man das Gefühl hat, dass man zusammengehört."

Inzwischen genießt sie es, die 300 Meter über das Gelände zur Arbeit zu laufen. Vor 1,5 Jahren hat sie zusammen mit anderen Heilpraktikern, Therapeuten und Hebammen ein Gesundheitszentrum auf Allmende gegründet. Sie weiß es zu schätzen, dass Aaron, David und Sophia ungestört kleine Abenteuer in der Natur erleben können. Und sie einen am Wochenende auch einfach mal unverhofft frei hat, weil ihre Kinder bei den Nachbarn verstreut sind.

Bei den regelmäßigen Allmende-Sitzungen wird Sonja manchmal ungeduldig. "Ab und an finde ich es anstrengend, dass ich erst ganz Allmende fragen muss, ob ich zum Beispiel Hühner anschaffen darf. Gerade wenn etwas spontan passieren soll, ist das schwierig." Sobald die Hühner außerhalb des eigenen Gartenbereichs, der "Fünf-Meter-Grenze", gehalten werden, muss in einer Sitzung über sie abgestimmt werden. Ein mitunter mühsamer Prozess, für den Sonja auch schon einmal der Atem fehlt. Sie lässt es dann lieber mit den Hühnern. Und konzentriert sich auf die Vorteile des Zusammenlebens. Auf das kreative Potential, das jeder einzelne mitbringt. Darauf, dass sie mit Menschen zusammen ist, die ein "Durcheinanderleben" haben, aktiv sind, sich in der Gruppe engagieren - und mit denen sie gerne ihre Zeit verbringt.

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Christina Krätzig (37) sieht sich schon jetzt über das Gelände der Wilden Rosen zur Arbeit stiefeln. Sie wird hier und da grüßen, bei dem einen oder anderen auf einen Kaffe bleiben. Zu einigen Menschen wird sie eine enge Beziehung aufbauen, andere wird sie vielleicht gar nicht erst näher kennenlernen. Vielleicht, so hofft sie zumindest, wird sie zusammen mit anderen ein Pony im Garten stehen haben.

Die freiberufliche TV-Autorin wird 74qm2 bei den Wilden Rosen bewohnen und sich ein Büro einrichten. Sehr lange hat sie mit dem Grundriss ihrer zukünftigen Wohnung gehadert, immer wieder neue Wände gezogen, die Größen der Zimmer verändert, die Fenster anders gesetzt. Manchmal kann es auch erleichternd sein, wenn Entscheidungen basisdemokratisch in der Gruppe abgestimmt werden.

Anfangs hat ihr der Gedanke Angst gemacht, mit 150 anderen Menschen, von denen viele noch Unbekannte sind, zusammenzuleben. Wird das zu viel? Gibt es genug Privatsphäre? Werden Gemeinschaft und Individualität sich die Waage halten? "Man muss sicher lernen, sich abzugrenzen", vermutet Christina. Die erfahrene Allmendianerin Sonja bestätigt das: "Samstags mit einer Tasse Kaffe auf der Terrasse zu sitzen, weil man einfach mal ein bisschen Zeit für sich braucht, während alle anderen für die Gemeinschaft im Garten schuften - man muss lernen, das auszuhalten."

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In der kargen Turnhalle, in der die Ideen über die Außenanlage der Wilden Rosen sprudeln, herrscht am Ende eines produktiven Workshops andächtige Ruhe: Unzählige kleine Modelle sind auf dem Boden der Turnhalle vertreut. Aus Draht, Knete, bunten Schirmchen und Papier haben Kinder und Erwachsene ihren Traumgarten gebaut: Mit Ponys und Hühnern, Feuerstellen und Wasserfällen. Und mit Swimmingpools, bespielbaren Vulkanen und Liegewiesen, auf denen heißer Kaffee aus goldenen Tassen serviert werden kann.

Die Gruppe wirkt erschöpft - aber gleichzeitig auch glücklich und aufgekratzt. Ob jung oder alt, groß oder klein, Karrieremensch oder Selbstverwirklicher: Die Wilden Rosen sind ihrem Traum vom kreativen Leben in der Gemeinschaft wieder einen kleinen Schritt näher gekommen.

Mehr Infos unter:

www.wohnprojekt-wilde-rosen.dewww.conplan-gmbh.dewww.allmende-wulfsdorf.dewww.wohnprojekte-portal.de

Text: Sybille Warnking Fotos: Wilde Rosen e.V., Allmende e.V., Sybille Warnking

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