Anzeige

Deutsch-Türkin wird mit Flüchtling verwechselt - und mit Kuscheltier begrüßt

Deutsch-Türkin wird mit Flüchtling verwechselt - und mit Kuscheltier begrüßt
© AFP/Getty Images
Endlich Liebe!? Weil eine Deutsch-Türkin am Bahnhof für eine Syrerin gehalten wird, wird sie plötzlich mit Jubel und Kuscheltieren begrüßt. Was sagt das über uns?

Deutschland extrem: Willkommenskultur oder Brandsätze

Die sonst als so bedacht geltenden Deutschen scheinen in der Flüchtlingsfrage zu Extremen zu neigen: entweder Willkommenskultur oder Brandbomben, liebevolle Umarmung oder Gewalt. Oliver Kalkofe formulierte es in seinem Video zur Flüchtlingskrise so: "Lieber Gutmensch als Arschloch". Dazwischen gibt es offenbar wenig.

Das große Engagement der Deutschen für Flüchtlinge ist so wunderbar wie überraschend. Überrascht davon sind aber vor allem Deutsche mit Migrationshintergrund, die bislang eher die Erfahrung machen mussten, in ihrer Heimat unsichtbar oder sogar unerwünscht zu sein.

So wie die Journalistin Candan Six-Sasmaz, die seit ihrer Geburt in Deutschland lebt.

Wenn sie mit der Bahn unterwegs ist, wird sie neuerdings am Bahnhof mit Applaus und Kuscheltieren begrüßt – und muss sich dagegen wehren, in eine Flüchtlingsunterkunft verfrachtet zu werden. In der Süddeutschen Zeitung beschreibt Candan Six-Sasmaz ihre Ankunft an einem Bahnhof in Nordrhein-Westfalen so:

"Sie warteten auf das Leuchten der Dankbarkeit in meinen Augen“

"Die Menschen drängelten sich um mich. Drückten mir Sandwiches, Getränke und Kuscheltiere in die Hände. Anscheinend ist das erste, was ein Flüchtling bei seiner Ankunft in Deutschland braucht, ein Kuscheltier. Während sie mir großzügig ihre Geschenke übergaben, schauten sie mich hoffnungsvoll an. Sie warteten auf das berühmte Leuchten der Dankbarkeit in meinen Augen."

Dann erklärte man ihr in langsam gesprochenem Englisch, dass man sie in ein Durchgangslager bringen werde, um von dort ihre Unterbringung in einem Flüchtlingsheim zu organisieren. Erst als sie laut wird und ihren Personalausweis zeigt, lassen die Helfer von ihr ab.

Deutsche mit Migrationshintergrund - unsichtbar bis unerwünscht

image

Dass sie plötzlich so viel Zuwendung erhält, stimmt Candan Six-Sasmaz traurig. "Es ist nicht schlimm, dass man Menschen auf den ersten Blick verwechselt. Schlimm ist, dass ich zum ersten Mal wahrgenommen werde. Schlimmer ist, dass ich als Deutsch-Türkin noch nie so gut behandelt wurde wie an diesen Tagen, an denen man mich für einen syrischen Flüchtling hält."

Sie fügt hinzu: "Menschen, die vermutlich noch nie ihre türkischen Nachbarn zum Kaffee hereingebeten haben, zeigen sich gastfreundlich und nehmen syrische Familien bei sich auf. Neben Deutschen, die uns gerne auf dem einen Gleis verabschieden würden, stehen am nächsten Bahnsteig nun Deutsche, die euphorisch Flüchtlinge empfangen. In einem Land, in dem wir regelmäßig Kanaken oder Scheiß-Ausländer genannt werden, gibt es Debatten darüber, ob es Flüchtlinge oder Vertriebe heißen muss."

Warum sind wir nur nett zu Menschen mit dem Label "Flüchtlinge"?

Die Hilfsbereitschaft in Deutschland ist ansteckend, und das ist wunderbar. Und was die ungezählten ehrenamtlichen Helfer leisten, ist überwältigend: Sie opfern ihre Freizeit oder ihren Urlaub, um den geschundenen und erschöpften Flüchtlingen den Start in ein neues Leben zu erleichtern. Es gibt Menschen, die aus freien Stücken fast rund um die Uhr im Einsatz sind.

Aber die Erfahrung von Candan Six-Sasmaz hält uns auch den Spiegel vor: Warum sind wir urplötzlich so nett zu Menschen, denen wir das Label "Flüchtlinge" anheften können (oder eben nicht)? Was sagt das über uns? Sind wir ergriffen von unserer eigenen Hilfsbereitschaft? Machen wir mit, weil es in ist, sich für Flüchtlinge zu engagieren? Weil wir uns als Teil der Helfer-Gemeinschaft gut und zugehörig fühlen?

Und warum ignorieren wir andere Menschen in Not? Den Obdachlosen in der Fußgängerzone? Das merkwürdig verstörte Mädchen in der Nachbarschaft? Warum haben wir den Flüchtlingen letztes Jahr nicht geholfen? Und werden wir das nächstes Jahr noch tun?

Was Deutsche mit Migrationshintergrund so zu hören kriegen, seht ihr hier:

sar

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel