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"Es war doch auch mein Kind": Was eine Abtreibung mit dem Kindsvater macht

Abtreibung ja oder nein? Ob ein Baby zur Welt kommt, entscheidet die Frau allein. Ist das gerecht?

Die Abtreibung war ihre Entscheidung

Als Simon Becker (Name von der Redaktion geändert) erfuhr, dass er Vater wird, kündigte er die Wohnung, wechselte den Job und zog mehr als 300 Kilometer Richtung Süden. Zur Mutter seines ungeborenen Kindes. Zu einer Frau, die er kaum kannte. "Es ist deine Entscheidung", sagte er zu ihr, "aber wenn du das Kind bekommst, werde ich alles dafür tun." Wenige Wochen später ließ seine Freundin das Kind abtreiben. Es war ihre Entscheidung.

Simon war damals 23, wie seine Freundin, die bis dahin kaum mehr als eine Affäre gewesen war. Sie hatten sich bei der Arbeit kennengelernt. Anfangs verhüteten sie mit Kondomen, irgendwann verließen sie sich darauf, dass sie ihren Zyklus zählte. Bald darauf zog sie zum Studieren weg, ihre Periode blieb aus. Am Telefon erzählte sie ihm von der Schwangerschaft. "Ich war völlig durcheinander, weil ich die Frau nicht wirklich kannte. Das war gefühlsmäßig die ganze Palette, von total scheiße bis total schön", sagt er. Er fuhr zu ihr, sie gingen lange spazieren, redeten. "Ich werde das Kind nicht im Stich lassen, auch wenn die Beziehung zerbricht. Ich stecke da genau so drin wie du", sagte er zu seiner Freundin.

Fast 100 000 Schwangerschaftsabbrüche wurden im vergangenen Jahr in Deutschland durchgeführt. Ein Kind abtreiben zu lassen, ohne eine Notlage nachweisen zu müssen, war in der DDR schon seit 1972 möglich, in der Bundesrepublik ist es erst seit 1995 erlaubt. Damals wurde jener berühmte Paragraf 218 des Strafgesetzbuches liberalisiert, für dessen Abschaffung sich in den 1970er-Jahren die neue Frauenbewegung stark gemacht hatte: Mein Bauch gehört mir. Es war ein Erfolg für die Rechte der Frauen. Doch die Konsequenz ist auch, dass werdende Väter heute keinerlei Rechte haben - dass ein Mann wie Simon Becker nichts dagegen tun kann, wenn sein Kind im Mutterleib getötet wird.

"Die Position des Mannes bei einem Schwangerschaftskonflikt wird von der Gesellschaft noch immer weitgehend ausgeblendet", sagt der Psychologe Detlef Vetter. Er arbeitet seit 20 Jahren bei der Schwangerschaftsberatung von Pro Familia in Bielefeld. Würden Männer mit der Entscheidung für eine Abtreibung konfrontiert, fühlten viele sich vor den Kopf gestoßen. Das könne Aggressionen auslösen, aber auch Rückzug und Sprachlosigkeit, erklärt Vetter. Manche unverarbeiteten Konflikte kämen erst nach vielen Jahren zum Vorschein. Doch natürlich sind nicht nur Männer betroffen. Auch bei lesbischen oder genderqueeren Paaren gilt: Wer das Baby im Bauch hat, entscheidet allein.

"Ich wollte von Anfang an für mein Kind da sein", sagt Simon. Für ihn bedeutete das: schon vor der Geburt. "Als wir beschlossen hatten, das jetzt gemeinsam durchzuziehen, habe ich meinen Bulli gepackt, alles reingeschmissen, was ich besaß, und bin zu ihr gefahren."

Simon weiß: Er wäre ein liebevoller Vater gewesen

Das war vor vier Jahren. Mittlerweile lebt der 27-Jährige wieder in seiner Heimat in Norddeutschland. Er hat sich dort auf dem Land ein altes Haus gekauft, das er selbst renoviert. Wenn er nicht arbeitet, ist Simon häufig in der Natur unterwegs, baut sich Möbel aus Holz oder probiert neue Rezepte. Man kann ihn sich gut vorstellen als einen liebevollen Vater, mit dem ein Kind am Nachmittag im Grünen Abenteuer erlebt und am Abend selbst gebackenes Brot isst. Er selbst konnte sich das auch gut vorstellen.

Das gesellschaftliche Vaterbild hat sich in den letzten Jahren stark gewandelt. Wer ein guter Vater sein will, liest nicht mehr nur Gutenachtgeschichten vor, sondern kocht Pastinakenbrei und backt Matschkuchen. Dass Männer vom Ernährer zum Miterzieher geworden sind, stellte der Väterforscher Wassilios Fthenakis schon vor mehr als zehn Jahren fest. Aktuelle Studien zeigen, dass viele Männer großen Wert darauf legen, Zeit mit ihren Kindern zu verbringen, ihr Aufwachsen von Beginn an aktiv zu begleiten. Umgekehrt ist es vielen Frauen wichtig, dass die Väter sich kümmern. Seit der Einführung des Elterngelds im Jahr 2007 spiegelt sich das veränderte Rollenbild, zumindest ansatzweise, sogar in einer familienpolitischen Leistung wider. Denn es belohnt Eltern, die beide für eine gewisse Zeit aus dem Beruf aussteigen und sich um das Kind kümmern.

Das neue Verantwortungsgefühl der Väter liegt im Trend und ist politisch gewollt, doch nirgendwo stößt es so sehr an seine Grenzen wie bei einem Schwangerschaftskonflikt. Männer sollen sich von Anfang an verantwortlich fühlen. Aber bitte nur, wenn es der Frau recht ist.

Der Schwangerschaftsabbruch kam überraschend für ihn

Um sein Kind aufwachsen zu sehen, zog Simon bei seiner Freundin ein. Die aber wünschte sich mehr Abstand, also suchte er nach einer Wohnung - und zog unterdessen in eine Kammer auf ihrem Dachboden. Heute staunt er darüber, was er sich alles gefallen ließ. "Ich hatte mich so sehr darauf fixiert, Vater zu werden, dass ich ihre abweisende Art ausblendete."

In der zwölften Schwangerschaftswoche bat sie ihn um ein Gespräch." Plötzlich sagte sie: "Ich treibe ab, nächste Woche ist der Termin." Simon hatte das nicht kommen sehen. "Das hat mich total umgehauen", sagt er. "Natürlich habe ich ihr Vorwürfe gemacht." Am schlimmsten war für ihn, dass sie ihn vor vollendete Tatsachen stellte, nicht reden wollte. Die Beziehung zerbrach. Und Simon, der sich eben noch auf das Vatersein gefreut, seiner Familie und seinen Freunden davon erzählt hatte, blieb zurück mit dem Gedanken: "Es war doch mein Kind."

Die Ohnmacht des Kindsvaters

Laut Gesetz können Frauen in Deutschland ihr ungeborenes Kind bis zu zwölf Wochen nach der Empfängnis abtreiben lassen, wenn sie zuvor eine gesetzlich anerkannte Beratungsstelle aufgesucht haben. Während sich eine Ärztin mit einer Abtreibung nach Ablauf der Zwölf-Wochen- Frist strafbar machen würde, bliebe die Schwangere sogar bis zu 22 Wochen nach der Empfängnis straffrei.

Auch sonst liegt die Entscheidung über das Wohlergehen des Kindes bis zur Geburt allein bei der Mutter. Schadet sie ihrem ungeborenen Kind, indem sie Alkohol trinkt, gilt das nicht als Körperverletzung. Denn die richtet sich nur gegen Personen. Ein Kind aber wird, juristisch gesehen, erst mit Beginn der Geburt zur Person. Diese körperliche Selbstbestimmung der Frau anzuerkennen, bedeutet schon aus pragmatischer Sicht einen wichtigen Fortschritt. Denn wenn eine Frau ihr Kind auf keinen Fall bekommen möchte, wählt sie notfalls einen illegalen, gefährlichen Weg, die Schwangerschaft zu beenden - und gefährdet damit auch ihr Leben. Auch deshalb kämpften und kämpfen viele Frauen so vehement für das Recht auf Abtreibung.

Doch spätestens, wenn das eigene Kind betroffen ist, fällt es manch werdendem Vater schwer, die Rechtslage zu akzeptieren. "Die Männer müssen sich mit ihrer Ohnmacht auseinandersetzen", sagt der Psychotherapeut Vetter.

Laut Studien fühlen sich viele bei ihren Überlegungen zu einer Abtreibung alleingelassen. Im Schwangerschaftskonfliktgesetz, das die Beratung vor der Abtreibung regelt und die Personen auflistet, die in die Gespräche mit einbezogen werden können, taucht "der Erzeuger" aber erst an dritter Stelle auf. Beratungsstellen wie Pro Familia betonen zwar, dass sie sich sowohl an Frauen als auch an Paare richten. Doch meist kommen die Frauen allein zum Gespräch. In Brandenburg etwa brachte in den vergangenen Jahren nur jede fünfte Schwangere den Kindsvater mit zur Beratung. Beim christlichen Verein Donum Vitae macht die Paarberatung rund ein Viertel der Fälle aus. Das liegt nicht unbedingt daran, dass der potenzielle Kindsvater nicht greifbar ist. Mehr als jede dritte Schwangere, die ihr Kind nach der Beratung abtreiben lässt, ist verheiratet. Kneifen die Männer? Schließen die Frauen sie aus? In den Beratungsstellen kann man darüber nur mutmaßen.

Ja/Nein: Bei einer Abtreibung gibt es keine Kompromisse

Doch vielleicht ist eine echte Einbeziehung des Vaters oder eines zweiten Elternteils in die Entscheidung sowieso eine Illusion. Bei der Frage "Abtreibung - ja oder nein?" kann es keine Kompromisse geben, da hilft einem Mann auch ein Stimmrecht von 40 statt null Prozent nicht weiter. Am Ende wird die Frau allein bestimmen. "Das geht gar nicht anders, da nun einmal ihr Körper betroffen ist", sagt Jutta Pliefke, Frauenärztin aus Berlin und Beraterin bei Pro Familia. Aus Sicht mancher werdender Väter mag das unfair sein, doch daran ist nicht die Gesetzeslage schuld, sondern die Biologie.

"Es ist natürlich schön, wenn die Entscheidung gemeinsam getroffen werden kann", sagt Pliefke. Das helfe dem Mann, eine eigene Haltung zu entwickeln und auch auszusprechen, um das Geschehene zu verarbeiten. Im besten Fall gewinnt so auch die Frau, nämlich Unterstützung.

So sieht das auch Simon Becker. Er hat keinen Kontakt mehr zu seiner Exfreundin, kommt mit ihrer Entscheidung aber heute gut klar: "Sie hätte mir früher sagen sollen, dass sie es nicht schafft. Dann hätten wir das zusammen durchstehen können."

F MAG: Das neue Magazin für junge Frauen

Simons Geschichte stammt aus F Mag, dem neuen Frauenmagazin von BRIGITTE. Ein Jahr lang haben junge Absolventinnen der Henri-Nannen-Journalistenschule ein Heft entwickelt, das sie selbst gern lesen würden: Im F Mag dreht sich alles um "Politik, Sex & Lametta". Weitere Infos unter www.f-mag.net.

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