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Thordis Elva vergibt ihrem Vergewaltiger - warum tut sie das?

Kann und darf man dem Mann vergeben, der einen vergewaltigt hat? Die Journalistin Thordis Elva hat es geschafft - und geht mit ihrem Vergewaltiger sogar an die Öffentlichkeit.

Thordis Elva ist 16, als sie von ihrem Freund Tom Stranger vergewaltigt wird. Nach neun Jahren des Schweigens und Leidens schreibt sie ihm, und ein schmerzhafter Heilungsprozess beginnt. Ihre Auseinandersetzung mit der Tat dokumentieren Opfer und Täter nun gemeinsam in ihrem Buch „South of Forgiveness“, mit dem sie – fast 20 Jahre nach der Tat - durch Großbritannien touren. Die Meinungen sind geteilt.

Ihre Jugendliebe vergewaltigte sie „zwei endlose Stunden lang“

Sie sind seit einem Monat ein Paar, als sie zusammen auf den Weihnachtsball von Thordis’ Schule in Reykjavík gehen. Thordis trinkt das erste Mal in ihrem Leben harten Alkohol, der Rum macht sie furchtbar betrunken. Die Isländerin ist sehr verliebt in ihren Freund, den australischen Austauschschüler Tom – er war ihre "erste Liebe“, wie sie heute sagt.

Irgendwann ist Thordis vom Trinken fast bewusstlos, übergibt sich auf der Toilette. Tom trägt sie zurück zur Party, überlässt sie aber seinem Freund Ben; er hat keine Lust, sich um seine Freundin zu kümmern, wie er ihr später gesteht. Schließlich bringt er sie nach Hause, schlecht gelaunt, weil er ihretwegen die Party verlassen muss. Die Türsteher stoppen die beiden noch, weil Thordis wie leblos in Toms Armen hängt. Die Männer wollen einen Krankenwagen rufen, weil sie fürchten, das Mädchen könne eine Alkoholvergiftung haben. Aber Tom lehnt ab, versichert, er werde sich um sie kümmern. In ihrem Zimmer vergewaltigt er sie dann „zwei endlose Stunden lang“, wie Thordis schreibt. Tom gibt später zu, dass er damals das unbestimmte Gefühl hatte, „ ein Recht auf ihren Körper zu haben“.

Thordis schwieg über das Verbrechen - jahrelang

Thordis spricht mit niemandem darüber, Scham und Schuldgefühle halten sie davon ab, ihren Freund anzuzeigen. Weil das den Frauen gern eingeredet wird, gibt sie sich selbst die Schuld an der Tat: falsch angezogen, zu betrunken, nicht laut genug geschrien. Außerdem hat sie Angst, dass niemand ihr glauben würde. Und erst viel später versteht sie überhaupt, was passiert war: Als 16-Jährige habe sie noch geglaubt, „Vergewaltigungen seien Verbrechen, die von bewaffneten Verrückten begangen werden.“

In den Jahren danach betäubte sie den Schmerz „mit Alkohol, mit Selbsthass und mit Essstörungen“. Dann, neun Jahre nach der Vergewaltigung, schreibt sie Tom eine Mail.

Er antwortet und gibt alles zu. Dass er sich noch genau an die Vergewaltigung erinnere, und wie er jahrelang versucht habe, die Tat vor sich selbst zu leugnen. Doch sie suche ihn immer heim, sobald er allein mit sich sei. „Es ist ein dunkler Teil meines Gedächtnisses. Ich habe versucht, ihn zu unterdrücken.“

20 Jahre danach treffen sie sich wieder

Nachdem sie sich acht Jahre lang schriftlich über die Geschehnisse und ihre Folgen ausgetauscht haben, treffen sich die beiden in Kapstadt. Thordis möchte das Kapitel ein für allemal schließen. Sie hat das Gefühl, dass Vergebung der einzige Weg für sie ist, um Frieden zu finden.

Aus dem Prozess der Annäherung und Versöhnung haben Thordis und Tom nun das Buch „South of Forgiveness“ gemacht und touren damit durch Großbritannien. Ihr TED-Talk wurde bereits von Millionen Zuschauern gesehen.

Warum gibt Thordis ihrem Vergewaltiger eine Bühne?

Einige Kritiker sind begeistert, andere verstört, weil Thordis ihrem Vergewaltiger eine Bühne gibt. Doch damit übernehme er die Verantwortung für seine Tat, sagt sie. Die Vergewaltiger, mit denen wir fast täglich zu tun hätten – der Verkäufer, der Nachbar, der Kollege – würden niemals zur Verantwortung gezogen, weil die Opfer aus Scham oder Schuldgefühlen schwiegen. Oder weil die Taten verjährt seien. Auch Toms Tat wäre heute verjährt.

Thordis sagt: „Vergebung spielte eine wichtige Rolle in dem Prozess, den eigenen Schuldgefühlen zu begegnen. Und doch ist Vergebung in meinen Augen nicht das zentrale Thema unserer Geschichte. Unser zentrales Thema ist Verantwortung“.

Die Isländerin Thordis Elva ist Autorin und Journalistin und hat bereits ein gefeiertes Buch über geschlechtsspezifische Gewalt geschrieben. Sie lebt mit ihrer Familie in Stockholm. Der Australier Tom Stranger ist heute Landschaftsgärtner in Sydney, wo er mit seiner Frau wohnt. Die Website zum Buch: www.southofforgiveness.com

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