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Vergewaltigt und schwanger – wie Mütter damit leben

Dr. Susanne Heynen, 49, Leiterin des Jugendamts der Stadt Karlsruhe hat untersucht, welche Folgen es für Mütter hat, wenn sie vergewaltigt und dadurch schwanger werden.

BRIGITTE.de: In Diskussionen um Schwangerschaftsabbrüche fällt oft das Argument: "Käme für mich nicht in Frage – außer, ich wäre vergewaltigt worden..."

Dr. Susanne Heynen: Die Palette der Gefühle bei einer durch Gewalt entstandenen Schwangerschaft ist komplex und übersteigt das, was Außenstehende sich für gewöhnlich vorstellen können. Von den 27 Frauen, mit denen ich gesprochen habe, wurden sechs nach der Vergewaltigung schwanger - und keine entschied sich für einen Schwangerschaftsabbruch. Neben der Frage nach der Beziehung zum Täter und seiner Gewalttat beschäftigte diese Frauen ihr Verhältnis zum Kind: In wie weit erlebe ich das Ungeborene als Teil von mir oder als eigenständiger Mensch? Und hat ein Kind überhaupt Platz in meinem Leben? Allerdings sind die Ergebnisse meiner Befragungen nicht repräsentativ. Meine Gesprächspartnerinnen waren alle von ihrem Partner und in einem Fall von einem Verwandten vergewaltigt worden.

BRIGITTE.de: Das heißt, nach einer Vergewaltigung durch einen Fremden wird möglicherweise eher abgetrieben?

Heynen: Das halte ich für denkbar. Fakt ist aber auch: Nur ein sehr geringer Prozentsatz von Frauen gibt bei der Schwangerenberatung eine Vergewaltigung als Grund für eine Abtreibung an.

BRIGITTE.de: Wie oft kommen solche Schwangerschaften denn überhaupt vor?

Heynen: Eine US-Studie geht davon aus, dass auf 5 Prozent aller Vergewaltigungen eine Schwangerschaft folgt. Das wären bei über 8000 angezeigten Fällen von Vergewaltigung und schwerer sexueller Nötigung im Jahr 2006 in Deutschland rund 400 Schwangerschaften. Die erste deutsche repräsentative Prävalenzstudie des Bundesfamilienministeriums zeigt, dass es sich bei den Tätern zu knapp 50 Prozent um Expartner oder Geliebte handelt. 7 Prozent der 10.264 schriftlich befragten Frauen gaben an, sexuelle Gewalt durch den Partner erlitten zu haben.

BRIGITTE.de: In welcher Situation befinden die Frauen sich seelisch?

Heynen: Unsere Psyche verfügt über verschiedene Bewältigungsstrategien, um mit Belastungssituationen zurechtzukommen, etwa bei einem Unfall. Mit einer Vergewaltigung kann dieses System zusammenbrechen. Die Frau tut dann alles, um Situationen aus dem Weg zu gehen, die an das Geschehene erinnern. Sie meidet zum Beispiel den Weg, an dem es passiert ist. Und auch der Körper wehrt sich. War der Täter alkoholisiert, löst künftig etwa schon der Geruch von Alkohol Übelkeit aus. Ist die Frau durch die Vergewaltigung schwanger geworden, kann die Schwangerschaft selbst als "Trigger" erlebt werden, sprich: durch sie wird die Frau permanent an das Geschehene erinnert. Unter Umständen blendet sie die Schwangerschaft aus, um die Konfrontation mit dem traumatischen Ereignis, der Vergewaltigung, zu vermeiden.

BRIGITTE.de: Wie sind die Frauen, mit denen Sie gesprochen haben, damit umgegangen?

Heynen: Ich konnte drei verschiedene Bewältigungsmuster finden, die sich später auch durch die Beziehungen zu den Kindern ziehen können. Beim ersten Muster bleibt die Ambivalenz bestehen. Im Kind wurden auch der Täter und seine Gewalttaten wahrgenommen. Mal wurde es direkt ausgesprochen: "Hätte ich doch besser abgetrieben." Mal wurde der Impuls eher verpackt: "Ich kann’s kaum erwarten, bis er endlich groß ist und auszieht." Auffällig bei diesen Frauen: Es wurde keine bewusste Entscheidung gefällt, weder für noch gegen das Kind. Eine hatte heiße Bäder genommen, war mit dem Mofa in rasendem Tempo über holprige Straßen gefahren, alles Methoden, um nicht direkt Verantwortung für einen Abbruch übernehmen zu müssen, wenn es dazu käme. Dabei handelte es sich um junge und durch ihre Lebenssituation überforderte Frauen, die sich nicht wirklich mit ihrer Situation auseinandersetzen konnten.

BRIGITTE.de: Und die zwei anderen Strategien?

Heynen: Bei einem zweiten Bewältigungsmuster sah eine Frau nach einem intensiven Auseinandersetzungsprozess das Kind wie sich selbst als Opfer des Gewalttäters. Dies führte zu einer besonderen Nähe zum Kind. Eine dritte Möglichkeit scheint, das Kind unabhängig vom Gewalttäter wahr zu nehmen: Es kann nichts dafür, ist ein eigenständiger Mensch.

BRIGITTE.de: Entlastet es die Betroffenen, wenn sie es schaffen, dem Täter zu verzeihen?

Heynen: Für Gewaltopfer spielt es eine große Rolle, sich von einer zwanghaften und negativen Beschäftigung mit dem Gewalttäter befreien und für sich positive Konsequenzen ziehen zu können, zum Beispiel in der Beziehung zu dem Kind. Immer wieder ist die Rede davon, durch diesen inneren Schritt würde etwas ins Rollen gebracht, man bliebe dadurch nicht im Hass, in der Angst, in Schuld- und Schamgefühlen gefangen.

BRIGITTE.de: Sich von traumatischen Erlebnissen zu lösen ist ja ein schwieriger Prozess...

Heynen: ... der oft nicht alleine bewältigt werden kann, schon gar nicht in so kurzer Zeit. Vom Feststellen einer Schwangerschaft bis zum letztmöglichen Abbruchtermin vergehen wenige Wochen. Gute Hilfsangebote, die rasch verfügbar sind, sind das A und O. Etwas anderes als die ergebnisoffene Beratung kommt dabei nicht in Frage. Mit allem, was dazugehört: Wahrnehmen ambivalenter Gefühle, Raum für Abwägungsprozesse, im Falle der Entscheidung für einen Abbruch auch Hilfe beim Umgang mit den Gefühlen, die diese Entscheidung auslöst. Auch über mögliche Alternativen wie die Freigabe eines Kindes zur Adoption und weitere Hilfsangebote während der Schwangerschaft und nach der Geburt, zum Beispiel im Rahmen der Frühen Hilfen, sollten die Frauen informiert werden.

BRIGITTE.de: Lebensschützer behaupten gern: durch den Abbruch einer Schwangerschaft, die durch Gewalt zustande gekommen ist, könne das Trauma nicht gelöst werden – der Abbruch würde vielmehr als weiterer Gewaltakt empfunden, gegen sich selbst. Was sagen Sie dazu?

Heynen: Ich weiß nicht, auf welchen nachprüfbaren Grundlagen solche Aussagen beruhen. Es gibt zahlreiche Untersuchungen, die zeigen, dass Frauen nach Schwangerschaftsabbrüchen nicht an ihrer Entscheidung zweifeln und leiden. Das gilt sicher auch für einen Abbruch nach einer durch Gewalt erzwungenen Schwangerschaft. Wichtig erscheinen mir weitestgehend bewusste Entscheidungen, so sie denn möglich sind. Die helfen den Frauen und ihren Kindern. Und dabei sollten wir den Frauen helfen, ihren eigenen, ganz individuellen Weg zu gehen. So oder so.

Interview: Elisabeth Hussendörfer

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