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"Es muss reichen, 'Nein' zu sagen"

Ein Paragraph sorgt in Deutschland dafür, dass nur wenige Vergewaltiger vor Gericht verurteilt werden. Katja Grieger vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe fordert, dass das Sexualstrafrecht verschärft wird.
Katja Grieger
vom Bundesverband Frauen- beratungsstellen und Frauennotrufe (bff) ist Diplom-Psychologin. Im bff sind rund 170 Anlaufstellen zusammen- geschlossen, seit mehr als 30 Jahren helfen sie Frauen und Mädchen, die Opfer von Gewalt wurden.
© bff

BRIGITTE: Frau Grieger, sollte ich Opfer einer Vergewaltigung werden, kann ich das Arschloch doch zumindest anzeigen und sichergehen, dass der Täter verurteilt wird – oder?

Katja Grieger: Nein, das können Sie leider nicht.

Wie kann das sein?

Wir haben unglaublich niedrige statistische Zahlen bei den Verurteilungsquoten. Nur 8,4 Prozent der Frauen, die eine Vergewaltigung angezeigt haben, erlebten die Verurteilung des Täters. Die restlichen 91,6 Prozent bekamen entweder schon von der Staatsanwaltschaft einen Bescheid geschickt, dass gar nicht erst angeklagt wird. Das passiert sehr häufig. Der Rest der Frauen erlebte einen Prozess und den Freispruch des Täters.

Woran liegt das?

Eine Ursache ist die Gesetzeslage. Einige typische Fälle, in denen ein Großteil der Bevölkerung davon ausgehen würde, dass es eine Vergewaltigung war, werden vom Gesetz her gar nicht darunter gefasst. Das sind zum Beispiel Fälle, in denen der Täter, und das sage ich jetzt ausdrücklich in Anführungszeichen, "zu wenig" Gewalt angewendet hat. Oder gar keine Gewalt anwenden musste, weil die Frau sich nicht "ausreichend" gewehrt hat. Der Grundgedanke des Gesetzes ist: Sie muss sich wehren und der Täter muss diesen Widerstand bewusst mit Gewalt brechen.

Das heißt, ausschlaggebend für eine Straftat ist bisher die Gewalt des Täters, und nicht das fehlende Einverständnis des Opfers?

Ja. Man könnte es sogar noch mehr zuspitzen und sagen: Eigentlich liegt die Verantwortung dafür, ob es eine Straftat ist oder nicht, beim Verhalten des Opfers. Wenn sie sich nicht wehrt, muss er keine Gewalt anwenden und dann ist es - in den allermeisten Fällen - nicht strafbar.

Und wenn ich einfach nur "Nein" sage? Mehrfach?

Sie können auch weinen, das reicht überhaupt nicht. Wir haben 107 Fälle schwerer sexueller Übergriffe untersucht, anhand von Einstellungsbescheiden und Freispruchsbegründungen. In jedem zweiten Bescheid, den wir analysiert haben, steht: Geschlechtsverkehr gegen den Willen einer Person ist in Deutschland nicht strafbar. Das "Nein" ist gesetzlich irrelevant. Es zählt allein die Abwehrhaltung.

Und wenn ich zu geschockt bin, um irgendwas zu tun? Oder Angst habe, mich zu wehren?

Das ist ein ganz großes Problem der Rechtslage. Die meisten sexuellen Übergriffe passieren im sozialen Nahraum, der Täter ist also entweder ein guter Kumpel, von dem ich das nie gedacht hätte. Oder mein eigener Partner. Ich brauche also erst mal eine Weile, um zu verstehen: Was passiert hier eigentlich gerade? Viele Frauen fallen zuerst in eine Schockstarre. Diese Situation ist vom Gesetz aber nicht erfasst.

Ich als Opfer trage also die Verantwortung, ob der Kerl belangt werden kann oder nicht?

Ja. Es gibt zwei Ausnahmen: Wenn er eine schutzlose Lage ausnutzt, dann muss er keine Gewalt anwenden, damit es eine Straftat ist. Diese Ausnahme wurde von der Rechtssprechung aber sehr stark eingeschränkt. Konkret heißt das: Wenn in der Nachbarwohnung theoretisch andere Menschen hätten sein können und die Frau gar nicht versucht hat, um Hilfe zu rufen, dann war sie auch nicht schutzlos. Eine dunkle, einsame Straße ist auch keine schutzlose Situation, weil dann hinterher überprüft werden muss, ob jemand zufällig gerade seinen Hund ausgeführt hat. Das kann die Frau in so einer Situation ja oft gar nicht merken. Aber wenn das der Fall ist, ist die Lage nicht schutzlos. Eigentlich haben wir also nur eine schutzlose Lage in schalldichten, abgeschlossenen Gebäuden oder in absolut einsamen Gegenden, wo die Frau überhaupt nicht wegkäme. Das kommt im realen Leben kaum vor.

Und die andere Ausnahme?

Wenn Opfer widerstandsunfähig sind, also beispielsweise Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung, dann nennt sich das "Missbrauch Widerstandsunfähiger". Das ist strafbar. Oder wenn eine Frau schläft oder sturzbetrunken ist, und nicht mehr reagieren kann. Dann wird auch davon ausgegangen, dass sie komplett widerstandsunfähig ist. Allerdings haben wir jetzt durch unsere Untersuchung herausgefunden, dass auch das in den seltensten Fällen greift. Diese Widerstandsunfähigkeit muss nämlich erst objektiv bewiesen werden. Das Gericht untersucht dann, ob ihr Arm doch gezuckt hat und die Frau sich nicht doch theoretisch hätte wehren können.

Das klingt absurd.

Absolut. Bei Raub zum Beispiel ist das etwas ganz anderes. Wenn ich wie erstarrt bin, weil mir jemand das Portemonnaie entrissen hat, und ich trotzdem keinerlei Anstalten mache, den Täter zusammenzuschlagen, ist es trotzdem ein strafbarer Diebstahl. Das Eigentum ist gut geschützt, die sexuelle Selbstbestimmung hingegen nicht, die muss ich selber schützen.

Sie haben auch Fälle analysiert, in denen den Frauen seelische Grausamkeiten angedroht wurden. Was zeigten diese Fälle?

Bisher gilt laut Gesetz: Nur wenn mit einer Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben eine sexuelle Handlung erzwungen wird, gilt dies als strafbar. Also etwa die Drohung: "Ich bringe dich um." Oder die Drohung zur Körperverletzung. Weil aber die meisten Taten im sozialen Umfeld stattfinden, kennen viele Täter ihre Opfer sehr genau. Sie wissen, was für die Frauen wichtig ist, sei es das Haustier oder der Arbeitsplatz. Das mag für Außenstehende banal erscheinen. Was subjektiv für Menschen wichtig sein kann in ihrem Leben, wird nicht vom Gesetz erfasst. In den Beratungsstellen berichten uns Frauen, dass sie Drohungen erhalten wie: "Ich sage deinem Chef, du hast in die Kasse gegriffen." Oder, ein ganz häufiger Fall: die Aufenthaltserlaubnis für eine nicht-deutsche Frau. Der deutsche Ehemann sagt: "Wenn du nicht jede Nacht deine ehelichen Pflichten erfüllst, trennen wir uns und dann organisiere ich deine Abschiebung." Das gilt vor dem Gesetz so, als sei die Frau einverstanden gewesen mit dem Sex.

Das klingt alles ziemlich entmutigend. Wie viele Frauen erstatten überhaupt Anzeige?

Zwischen 5 und 10 Prozent der Vergewaltigungen werden angezeigt, das haben unterschiedliche Studien der Dunkelfeldforschung herausgefunden. Beides nicht wirklich viel.

Dabei würde man meinen, dass es den Frauen auch hilft, die Männer anzuzeigen. Um sich wieder stärker zu fühlen, die Ohnmacht zu verlieren. Wie ist da Ihre Erfahrung?

Wenn Frauen den Raum bekommen, öffentlich zu sagen: Mir ist Unrecht geschehen, ich wurde gehört, dann ist es eine unheimliche Stärkung. Aber im Moment läuft es leider oft so, dass Verfahren eingestellt oder die Täter freigesprochen werden. Den Frauen bleibt das Recht auf Opferentschädigung verwehrt. Dann bleibt oft nur das Gefühl, als Verliererin aus der Sache rausgegangen zu sein. In vielerlei Hinsicht. Manche Frauen bereuen, dass sie überhaupt angezeigt haben.

Warum gibt es solche löchrigen Gesetze? Wann wurden sie gemacht?

Das "Vergewaltigungsgesetz" wurde zuletzt 1998 reformiert. Damals war es schon ein riesiger Fortschritt, die Vergewaltigung in der Ehe wurde endlich strafbar. Der Kampf um diese Reform allein hatte 19 Jahre gedauert.

Da denkt man, Deutschland sei ein fortschrittliches Land.

Ja. In Sierra Leone ist die sexuelle Handlung gegen den Willen einer Person strafbar. Es gibt einige Länder auf der Welt, in denen das selbstverständlich ist.

Warum hat sich in Deutschland bisher so wenig getan?

Die Ängste vor Falschbeschuldigungen sind groß. Aber aus Sicht vieler Expertinnen gibt es gar keinen Grund, warum es nach einer Reform mehr Falschbeschuldigungen geben sollte. Ich persönlich glaube, es geht um die Grundfesten des Geschlechterverhältnisses. Es geht um die Frage, wie Sexualität in der Gesellschaft verhandelt wird.

Wofür kämpft Ihr Verband mit der aktuellen Kampagne um §177?

Wir wollen, dass sexuelle Handlungen gegen den ausdrücklichen Willen einer Person unter Strafe stehen. Es muss ausreichen, "Nein" zu sagen. Dazu müssen wir Debatten führen: Warum muss denn ein "Nein" ausreichen? Warum denkt man scheinbar immer noch, dass Frauen "Nein" sagen und "Ja" meinen? Wie kommt es überhaupt dazu, dass es in unserer Gesellschaft scheinbar als normal gilt, dass ich meine sexuelle Selbstbestimmung verteidigen muss?

Wie sind denn die Aussichten?

Ich bin optimistisch. 2011 hat Deutschland die sogenannte Istanbul-Konvention gezeichnet, eine Konvention des Europarates, die nicht einverständliche sexuelle Handlungen unter Strafe stellt. Sie muss jetzt nur noch von der Bundesregierung ratifiziert werden. Das ist unsere Chance, von der Politik gehört zu werden. Wir müssen diesen Schwung jetzt nutzen.

Inzwischen fordern auch Politiker wie die Landesjustizministerin von Mecklenburg-Vorpommern Uta-Maria Kuder (CDU) eine Verschärfung des Sexualstrafrechts.

Ja, in den letzten Wochen hat sich viel getan. Jetzt hängt es am Bundesjustizministerium.

Die Kampagne "Vergewaltigung verurteilen"

Mit der Kampagne "Vergewaltigung verurteilen" möchte der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) auf die Gesetzeslücke aufmerksam machen. Im Auftrag des bff haben Experten 107 Fälle von schweren sexuellen Übergriffen analysiert. Das Ergebnis: Das aktuelle Sexualstrafrecht führt dazu, dass viele Vergewaltiger vor Gericht nicht belangt werden können. Sie fordern eine Reform von §177, sodass die sexuelle Selbstbestimmung in Deutschland voraussetzungslos geschützt wird.

Hilfe und Informationen für Betroffene gibt es hier: www.frauen-gegen-gewalt.de

Interview: Sarah Levy Teaserbild: istock/Thinkstock

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