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Drei Frauen aus der Türkei: Darum protestieren wir

Straßenkämpfe, Tränengas, Razzien: In den vergangenen Wochen wurde Istanbul zum traurigen Schauplatz nie dagewesener Gewalt. Drei Frauen erzählen, wie sie die Proteste erlebt haben und von welcher Zukunft sie träumen.

Es begann mit friedlichen Protesten und endete in Wut, Fassungslosigkeit und Polizeigewalt. Gewalt gegen die eigenen Bürger, die eine freie, demokratische Türkei fordern. Unter den Demonstranten in Istanbul sind viele, die seit Jahren die Politik der Regierung Erdogans kritisieren. Es sind aber auch zahllose junge Menschen dabei, die zum ersten Mal überhaupt auf die Straße gingen. Wir haben drei Frauen gefragt, was sie auf der Straße erlebt haben und was sie von der Regierung fordern.

"Der Park wurde zu unserem Zuhause"

Ece mit ihrer Mutter im Gezi Park
Ece mit ihrer Mutter im Gezi Park
© privat

Ece aus Istanbul ist 21 Jahre alt und hat gerade ihren Magister im Studiengang "Film und Medien" an der Kadir Has University gemacht.

Es war das erste Mal, dass ich an einer Demonstration teilgenommen habe. Anfangs habe ich die Ereignisse nur via Twitter verfolgt. Als aber die Polizei das erste Mal die Demonstranten attackierte, war ich geschockt - die Menschen haben doch nur Bücher gelesen, Lieder gesungen und versucht, Bäume zu retten! Der Angriff war das Ende unseres Schweigens. Gemeinsam mit anderen jungen Frauen ging ich auf die Straße, um den Gezi Park zurückzuerobern. Wir bedeckten unsere Gesichter mit Tüchern, um uns vor dem Tränengas zu schützen. Hubschrauber flogen über unsere Köpfe, aber wir hatten keine Angst mehr. Der Gezi Park wurde zu unserem Zuhause. Jeder brachte Essen mit, Getränke oder Erste-Hilfe-Material. Politische Gruppierungen waren nicht zu sehen, wir waren alle Zivilisten und unsere Waffe war unser Verstand. Ich war oft allein im Park, ohne Freunde und Verwandte, aber ich fühlte mich nie einsam.

Besonders erschreckt mich als angehende Medienschaffende die Berichterstattung im türkischen Fernsehen und in den Zeitungen. Es gab keine objektiven Berichte in den Nachrichtenkanälen, in manchen Zeitungen wurde überhaupt nicht über die Proteste geschrieben. Ich habe darum selbst auf der Straße Videos und Fotos gemacht und diese im Internet veröffentlicht. Wir sind die neuen Medien, mit Hilfe von Facebook und Twitter. Meine 60-jährige Mutter war bislang immer gegen Social Media, aber sogar sie legte sich einen Twitter-Account an, um an die echten Nachrichten zu gelangen.

Ich hoffe sehr, dass wir unseren Widerstand aufrechterhalten können. Ganz gleich, wie viele Menschen die türkische Regierung unterstützen - wir Kritiker der Regierung leben auch in diesem Land, und auch wir haben Rechte. Wenn ich eine Abtreibung will, dann möchte ich, dass das erlaubt ist. Ich möchte auch nach 22 Uhr Alkohol kaufen dürfen, wenn mir danach ist. Ich will nicht, dass irgendjemand über meine religiösen Ansichten bestimmt. Wenn 26 Männer ein 13-jähriges Mädchen vergewaltigen, dann sollen sie hart dafür bestraft werden und nicht dem Mädchen die Schuld dafür geben dürfen. Ich will nicht, dass unsere historischen Kinos und unsere Parks in Einkaufszentren verwandelt werden. Und ich will nicht als Plünderer bezeichnet werden, nur weil ich offen die Politik kritisiere. Ich hoffe, wir können irgendwann wieder in das System und in die Demokratie in unserem Land vertrauen.

"Die Bürgerbewegung muss sich in eine politische Bewegung verwandeln"

Freute sich über den intelligenten Protest: Eylem
Freute sich über den intelligenten Protest: Eylem
© privat

Eylem ist 38 Jahre alt und Universitäts-Dozentin

Ich lebe im Stadtteil Be?ikta?, wo Anfang Juni die brutalsten Polizeiattacken stattfanden. Ich war damals mit Freunden unterwegs in der Nähe des Taksim-Platzes. Doch ich kam nicht in mein Zuhause zurück: Meine Straße war abgeriegelt, Pflastersteine flogen und die Polizei sprühte im ganzen Viertel Tränengas bis in die Morgenstunden. Ich hatte Angst, aber vor allem erschütterte es mich, so viel Gewalt aus nächster Nähe zu sehen. Dabei waren die Proteste zu Beginn so friedlich, so jung, humorvoll und clever. Ich hatte Spaß an den frechen und intelligenten Graffiti an den Wänden und auf den Straßen. Ich spürte so viel Hoffnung und Zuversicht für unsere Zukunft, als ich diese klugen jungen Leute sah.

Doch die positiven Gefühle wurden von Frust und Enttäuschung verdrängt, als die Polizei am 15. Juni den Park räumte und den friedlichen Widerstand brach. Sie zerschlugen sogar die improvisierte Krankenstation, in der verletzte Demonstranten behandelt wurden. Die Polizisten zeigten keinerlei Mitgefühl, weder für die Verwundeten, noch für Frauen oder Kinder, die im Park waren. Ich fühlte mich so verletzt und erniedrigt, als ich das beobachtete. Die Regierung tritt demokratische Forderungen mit Füßen. Sie hält Informationen zurück und belügt sogar die eigenen Bürger, die sich auf das Versprechen verlassen haben, dass sie demonstrieren dürfen. Damit sich etwas ändert in unserem Land, muss diese breite Bürgerbewegung sich nun in eine politische Bewegung verwandeln. Es muss politische Allianzen zwischen den verschiedenen Gruppen geben, denn wir haben Wahlen in der Türkei im nächsten Jahr. Und spätestens dann muss die Regierung sehen, dass ein großer Teil der Gesellschaft mit ihrer autoritären Politik nicht glücklich ist.

"Die Regierung behandelt uns wie Feinde"

Bahar wurde vom Tränengas verletzt
Bahar wurde vom Tränengas verletzt
© privat

Bahar A?c? ist Vize-Präsidentin des "21. Yüzy?l Türkiye Enstitüsü", ein Think-Tank aus Ankara, der sich mit Außen- und Innenpolitik beschäftigt.

Ich war in den letzten Tagen ständig auf der Straße, und schlafe kaum mehr als zwei oder drei Stunden am Tag. Ich habe auch oft zuhause geweint um die Leute, die getötet und verletzt wurden. Ich will nicht, dass die Türkei eine Kriegsarena wird, und ich bete täglich für uns alle. Der Bombenanschlag von Reyhanli im Mai war der Beginn meines Engagements. Die Medien waren still und ich begann, mir "Warum?"-Fragen zu stellen. Warum reist unser Premierminister in die USA und nicht nach Reyhanli? Und dann die vielen Fragen zu den Demonstrationen. Warum sagt der Bürgermeister von Istanbul zu, dass es keine Angriffe auf Demonstranten geben soll, und befiehlt dann der Polizei eine brutale Attacke auf die Bürger? Ich bin so aufgebracht und das einzige, was ich dagegen tun kann, ist auf die Straße zu gehen. Ich schrieb außerdem einen Artikel auf unserer Website, über das Tränengas und die Nebenwirkungen dieses Gases. Ich selbst bin bei einer Demonstration in Ankara von Tränengas getroffen worden. Meine Lunge war geschädigt und ich musste eine Woche im Bett bleiben. Es ist wichtig, die demonstrierenden Menschen über diese Gefahren zu informieren.

Die Regierung behandelt uns säkulare Bürger wie Feinde. Erdo?an hat uns immer wieder zugesichert, dass die Trennung von Staat und Kirche der Türkei bestehen bleibt, doch die Einflüsse der Islamisten werden immer größer. Im Verlauf von Erdo?ans Regierungszeit wurden wir Zeugen einer andauernden Erosion unserer Bürgerrechte und Freiheiten. Zahlreiche Journalisten, Wissenschaftler, Soldaten und Künstler wurden verhaftet. Das alles sind Gründe für die Proteste im Gezi Park. Wir fürchten, dass es unsere Regierung nicht ernst meint mit der Demokratie. Die gemeinsamen Proteste geben mir aber auch Hoffnung: Ich glaube daran, dass die Türkei eine Republik bleibt und ein echtes demokratisches Land wird. Wir und die nächste Generation werden es der Welt zeigen.

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