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"Mein Kind hat Alpträume über Boko-Haram-Angriffe"

"Mein Kind hat Alpträume über Boko-Haram-Angriffe"
© Afolabi Sotunde / Reuters
Wie kann der Terror der Boko Haram in Nigeria gestoppt werden? Wie sieht dort der Alltag aus? Ein Gespräch mit der Schriftstellerin Lola Shoneyin, die in Nigeria mit ihrer Familie lebt.

Der Terror hat Nigeria seit Monaten fest im Griff. Noch immer fehlt von fast 300 Schülerinnen, die im April in Chibok von Boko-Haram-Kämpfern entführt wurden, jede Spur. Auch die weltweiten Proteste unter dem Motto #BringBackOurGirls führten nicht dazu, dass die Mädchen gerettet wurden. Kürzlich machte die Meldung, die Regierung hätte einen Waffenstillstand mit den Boko Haram vereinbart, den Angehörigen Hoffnung. Doch diese wurde zerstört. Stattdessen gab es weitere Entführungen. Und vereinzelte Mädchen, die fliehen konnten, berichten von grausamen Taten der Täter.

Wie fühlt man sich in einem Land, das gelähmt ist vor Entsetzen und zunehmend das Vertrauen in die eigene Regierung verliert? Darüber haben wir mit Lola Shoneyin gesprochen. Die Schriftstellerin lebt im Süden Nigerias mit ihrer Familie. Gerade erschien in Deutschland ihr Buch "Die geheimen Leben der Frauen des Baba Segi", in dem sie vom Alltag in polygamen Ehen erzählt.

Lola Shoneyin
1974 in Ibadan, Nigeria geboren, ist eine Dichterin und Autorin. Ihre Arbeit umfasst drei Gedichtbände und zwei Kinderbücher. Ihr Debütroman "Die geheimen Leben der Frauen des Baba Segi", war auf der Longlist für den "Orange Prize for Fiction 2011" und gewann den "PEN Oakland Josephine Miles Literary Award 2011". Nachdem sie für viele Jahre in Nigeria und im Ausland als Lehrerin gearbeitet hat, lebt Shoneyin heute in Lagos, Nigeria und organisiert das Ake Arts and Book Festival.
© Habie Schwarz

Frau Shoneyin, Sie haben mal in einem Interview gesagt, Nigeria sei "ein Land der Männer, die Frauen verehren". Doch es ist auch ein Land, in dem Männer Frauen schreckliche Gewalt antun, wie im Fall der Boko Haram. Wie passt das zusammen?

Nigeria ist ein sehr komplexer Ort mit fast 300 verschiedenen ethnischen Gruppen. Es gibt hier die furchtbare Narbe des Kolonialismus und aktuell eine Welle von religiösem Fundamentalismus. Wir haben in der Geschichte oft gesehen, dass Menschen unaussprechliche Dinge im Namen der Religion getan haben. Aber was derzeit im Norden Nigerias passiert, ist entsetzlich. Man muss dazu sagen, dass dort nicht nur Frauen brutal behandelt werden, sondern auch Männer. Aber natürlich ist es besonders verstörend, wenn die Verletzlichsten einer Gesellschaft angegriffen werden - also junge Frauen, die in vielen Fällen gerade dabei waren, sich durch Bildung einen anderen Status zu erarbeiten.

Nach der ersten Protestwelle hören wir hier in Europa nur noch hin und wieder etwas über das Schicksal der entführten Mädchen. Wie gehen in Nigeria Medien und Menschen auf Straße damit um?

Die normalen Menschen auf der Straße sind erstarrt vor Entsetzen. Es gab viele friedliche Demonstrationen und manche versammeln sich immer noch jeden Monat, um zu protestieren, zu beten und die Regierung daran zu erinnern, dass die Chibok-Mädchen nach Hause gebracht werden müssen. Das Tragische ist, das wir wohl noch mehr solcher Verbrechen erleben werden. In den letzten Wochen wurden immer mehr junge Mädchen geraubt. Es ist unmöglich, angesichts dessen keine Trauer, Angst und Sorge zu fühlen. Aber auch Wut. Die Nigerianer wollen, dass ihre Regierung mehr tut. Sie fordern von den Regierenden eine Sprache, aus der Mitgefühl spricht.

Was sagt es denn über die Regierung in Nigeria, wenn sie es nach all den Monaten nicht geschafft hat, die Mädchen zu befreien? Und sogar noch weitere Entführungen zulässt?

Es zeigt, dass die Arbeit unserer Sicherheitsbehörden und Geheimdienste mangelhaft ist. Es zeigt auch Schwäche, Unbeholfenheit und fehlenden politischen Willen. Erst vor einigen Tagen vermeldete die Regierung, dass sie eine Waffenruhe mit Boko Haram verhandelt habe. Nicht mal 24 Stunden später gab es einen Bombenanschlag, und kurz darauf tauchte ein neues Video auf, in dem der Anführer der Boko Haram eine Waffenruhe abstritt. Mit wem hat die Regierung dann also gesprochen? Mit der Attrappe eines Boko-Haram-Vermittlers? Die Art und Weise, wie versucht wird, gegen die Terroristen vorzugehen, kann man nur noch als lustlos bezeichnen.

Wie kommen die Familien der entführten Mädchen mit der schrecklichen Situation klar? Bekommen sie ausreichende Unterstützung?

Ich weiß nur das, was engagierte Nigerianer in den sozialen Netzwerken berichten. Es gibt viele Menschen, die den Familien helfen und versuchen ihnen das Warten auf gute Nachrichten irgendwie zu erleichtern. Ich glaube, dass die Angehörigen auch irgendeine Form von staatlicher Unterstützung bekommen. Aber am meisten hilft ihnen doch der emotionale Rückhalt in ihrer Community, und natürlich die Anteilnahme einer noch viel größeren Menge an Menschen in der ganzen Welt. Es ist daher von entscheidender Bedeutung für die Betroffenen, dass die Proteste und Kundgebungen nicht aufhören.

Sie selbst haben lange in England gelebt und sich dann entschieden, mit Ihrer Familie nach Nigeria zurückzukehren. Haben Sie den Schritt nach all diesen Ereignissen bereut?

Nein, überhaupt nicht. Deine Heimat ist deine Heimat. Für meine Töchter, die eine englische Großmutter haben, sind es eben zwei Heimatländer. Du ziehst deine Loyalität nicht einfach zurück, nur weil dein Team gerade verliert. Nigeria macht gerade eine schwere Phase durch, die es selbst verursacht hat. Aber die Dinge werden sich bessern, so oder so.

Aber fürchten Sie nicht auch im Ihre eigene Sicherheit und die Ihrer Familie?

Ich habe erst neulich mit Bekannten darüber gesprochen, als mein jüngstes Kind begann, Alpträume über Boko-Haram-Angriffe zu haben. Es hat mich nicht überrascht zu hören, dass andere Eltern mit ihren Kindern ähnliche Erfahrungen machen. Ich erzähle meinem Sohn so wenig wie möglich von den schrecklichen Ereignissen, aber er bekommt in der Schule genug davon mit. Ich versuche, ihm auch klarzumachen, dass seine Alpträume für ein anderes Kind die Realität sind. Dieser Aufstand und seine begleitende Blutrünstigkeit wird ein dunkler Fleck in unserer Geschichte werden, auch wenn wir derzeit nicht direkt um unser Leben fürchten.

Das Leben der Frauen in Nigeria ist auch von der Polygamie beeinflusst, über die Sie in Ihrem neuen Buch schreiben. Warum ist die Vielehe in Nigeria noch so weit verbreitet?

Eine neue demografische Studie hat ergeben, dass 33 Prozent der Frauen in Nigeria in polygamen Ehen leben. Das ist ein recht hoher Wert. Ich denke, der Grund dafür ist die weitverbreitete Armut, und diese wiederum entsteht durch einen geringen Bildungsstandard und eine große Anzahl an Menschen ohne Qualifikation. Es gibt natürlich auch den religiösen Aspekt - der Islam erlaubt die Vielehe, wenn der Ehemann alle Frauen gleich behandelt. Aber in Nigeria ist es auch eine kulturelle Sache. Die Polygamie entsteht selten, weil zwei Menschen sich ineinander verlieben. Es geht hier um Trophäen, Ausbeutung und reine Wollust, den Wunsch nach finanzieller Sicherheit und den Druck, eine Mrs. Irgendwer zu werden.

In der Regel entstehen diese Ehen nicht unter Zwang, sondern freiwillig. Warum wählen Frauen eine so archaische Form der Ehe?

Viele haben einfach keine Perspektive und nicht den Luxus, eine andere Wahl zu treffen. Wenn es eine Alternative gibt, wird sich wohl kaum eine Frau freiwillig für die Polygamie entscheiden.

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Und die, die es tun - was macht es mit ihnen, in einer Ehe mit mehreren Konkurrentinnen zu leben?

Ich habe mit vielen Frauen in Nigeria gesprochen, die in polygamen Ehen leben oder in einem polygamen Zuhause aufgewachsen sind. Die Polygamie ist vor allem für die ersten Frauen eine Enttäuschung, sie sind oft verbittert und aus gutem Grund! Denn die wenigsten von ihnen erwarteten bei der Hochzeit, dass ihr Ehemann sich noch eine weitere Frau nehmen würde. Die meisten Frauen hier strengen sich sehr an, allen Wünsche und Anforderungen ihres Ehemannes zu entsprechen. Wenn er dann eine neue Frau heiratet, bedeutet das für sie, dass das aktuelle Arrangement unzureichend und nicht erfüllend war. Für eine Ehefrau ist es niederschmetternd, akzeptieren zu müssen, dass sie ihrem Ehemann nicht genug ist.

Es geht also auch hier wieder um die Unterdrückung von Frauen - begünstigen solche kulturellen Bräuche am Ende auch die Entstehung brutaler Terroristengruppen? Die Boko Haram behandeln die entführten Frauen und Mädchen wie Sklaven.

An den Orten, wo Frauen kaum mehr wert sind als das Fleisch auf dem Buffet, wo sie wie Eigentum oder Gebärmaschinen behandelt werden, an diesen Orten geht es auch den Männern kaum besser. Auch sie sind die Opfer der Umstände. Natürlich sollten mächtige Männer und Frauen mehr für die Menschen tun, die in Regionen großer Armut leben. Sie müssen ihnen eine bessere Zukunft bieten. Denn darum haben Gruppen wie die Boko Haram so viel Zulauf, weil sie einen Sold bieten und drei Mahlzeiten am Tag.

In Ihrem Buch zeigen Sie den Lesern etwas, was sie selten sehen: die Perspektive der Frauen in der von Männern dominierten Welt. Glauben Sie, dass Ihr Buch etwas ändern kann in der nigerianischen Gesellschaft?

Mein Roman zeigt den Lesern ein Beispiel einer polygamen Familie. Ich konzentriere mich auf Themen wie Eifersucht, sexuellen Missbrauch und Unsicherheit. Das Buch basiert auf einer wahren Geschichte. Sowohl mein Vater als auch meine Mutter sind in polygamen Familien aufgewachsen, ich habe daher einen guten Eindruck davon, wie solche Beziehungen funktionieren. Sicher haben wir es in der Geschichte oft erlebt, dass Bücher das Denken ganzer Generationen beeinflussen können. Viele Leute sagen mir, das Buch sei ein Augenöffner. Andere sagen, es sei belehrend. Für mich erzählt es einfach die Geschichte von Menschen, die sich in einer aussichtslosen Lage befinden.

Was muss Ihrer Ansicht nach passieren, um den Status und die Situation der Frauen in Nigeria zu verbessern?

Wir brauchen mehr Bildung für die Frauen. Bildung hat einen unglaublichen Domino-Effekt. Sie sorgt dafür, dass es den Frauen selbst besser geht, ihren Familien und den Gemeinden, in denen sie leben. Gleichzeitig gibt sie den Frauen Stärke, Selbstbewusstsein und mehr Perspektiven. Das ist sehr wichtig.

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