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Warum syrische Kinder unsere Hilfe so dringend brauchen

Rund 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge, die Hälfte davon Kinder, leben im Libanon. Sie hoffen, eines Tages einfach über die nahe Grenze in ihre Heimat zurückkehren zu können, doch ihre Lage wird immer trostloser. Vor allem die Kinder leiden. Mit unserer Aktion "Ein Schal fürs Leben" unterstützt ihr Projekte, die wirklich helfen

Es war der Tag nach seiner Einschulung, als der Krieg in Syrien aus Imad*, dem Erstklässler, Imad, den Analphabeten machte. Sechs Jahre war er alt, saß mit seinen Mitschülern in seinem Klassenraum in der westsyrischen Stadt Homs, Zweiertische, Blick zur Tafel, da hörte er, wie in der Nähe Schüsse fielen. Die Kinder rannten aus der Klasse, Imad lief so schnell er konnte nach Hause, die Straße entlang, von der seine Eltern ihm gesagt hatten, er müsse aufpassen, wegen der Heckenschützen. Keinen seiner Mitschüler hat er je wiedergesehen.

Seit vier Jahren lebt die Familie in einem engen Zelt

Heute ist er zehn, ein ernster Junge mit erwachsenem Gesicht, sehr bedacht in seinen Reaktionen. Wenn man ihm gegenübersitzt, im Wohnraum des engen Zeltes, in dem seine Familie seit ihrer Flucht vor vier Jahren lebt, versteht man, dass diese Schüsse auf seine Schule mehr waren als eine Unterbrechung seines Bildungsweges. Sie waren der Moment, in dem Imad das System verließ, den Automatismus ziviler Gesellschaften, der aus Kindern Schüler, dann vielleicht Studenten und später Menschen mit einem Job und einer Position im Leben macht. Das ist die schlimmste Folge von Flucht: Sie macht aus Kindern Verlierer. Jedes Jahr ohne Unterricht steigert die Wahrscheinlichkeit massiv, dass ein Kind nie wieder eine Schule besuchen wird.

Acht Geschwister hat Imad, fünf Schwestern, drei Brüder. Keiner von ihnen geht zur Schule. Rund 1,5 Millionen Syrer sind in den Libanon geflohen, einem Land mit vier Millionen Einwohnern. Imads Familie lebt in der Bekaa-Ebene, einem weitläufigen Tal im Osten des Libanon, gesäumt von der Anti-Libanon-Gebirgskette, die wie eine graublasse Tuschezeichnung den Blick nach Syrien verstellt. Die Grenze ist nur wenige Kilometer entfernt, deshalb lebt der Großteil der rund 1,5 Millionen syrischen Flüchtlinge in dieser Ebene, auch wenn es hier nicht viel mehr gibt als Obstplantagen und Gemüsefelder.

Ihre Camps sind über das ganze Tal verstreut, niemand weiß genau, wie viele es sind, in manchen leben 20, in anderen 200 Familien. Für die libanesischen Behörden sind sie Migranten, keine Flüchtlinge. Damit sie sich nicht dauerhaft einrichten, sind nur provisorische Unterkünfte erlaubt - auf Holzgestelle gezimmerte Plastikplanen, die Dächer von Autoreifen zusammengehalten. Um die 500 Dollar Pacht muss jeder Flüchtling pro Jahr für das Stück Land zahlen, auf dem er siedelt.

2014, als BRIGITTE gemeinsam mit der Kinderrechtsorganisation Save the Children die Aktion "Ein Schal fürs Leben" ins Leben rief, besuchten wir zum ersten Mal die Camps in der Bekaa-Ebene. Damals trafen wir Menschen in einer Wartehaltung, dankbar, in Sicherheit zu sein, bereit, sich mit dem Elend ihrer Unterkünfte abzufinden, weil sie glaubten, bald zurückkehren zu können. Jetzt sind aus zwei Jahren Abwarten vier geworden, und aus dem Glauben ein Sich-fügen. Die Wartezeit hat die Familien erschüttert, man spürt es, sie liegt, nach dem Trauma der Flucht, wie ein zweites Unglück über ihnen.

Die Spenden der BRIGITTE-Leserinnen haben geholfen, traumatisierten Kindern Hilfe zukommen zu lassen und in den Camps geschützte Räume, sogenannte "Child Friendly Spaces", einzurichten. Räume, in denen die Kinder für ein paar Stunden am Tag außerhalb ihrer Familien toben, basteln, sich balgen, Bücher ansehen, spielen können, und in denen Betreuerinnen, oft sind es Mütter aus den Camps, merken, wenn ein Kind zu still oder zu laut ist, und nach den Gründen fragen.

Hier könnt ihr bei Save the Childen für die syrischen Kinder spenden.

Aber noch erreicht die Hilfe nicht alle. Denn gerade für die Kinder ist die Lage verzweifelt: 80 Prozent derer, die in den Zeltcamps groß werden, gehen nicht zur Schule, obwohl es genug Plätze an den öffentlichen Schulen gibt, seit die Regierung eine zweite Schicht eingeführt hat; die libanesischen Kinder werden vormittags, die syrischen nachmittags unterrichtet. Oft sind die Gründe banal, den Eltern fehlt das Fahrgeld für den Bus, oder sie sorgen sich um die Sicherheit der Kinder, denn im Winter wird es um vier Uhr dunkel. Häufig aber sind die Eltern, selbst überfordert mit ihrem Leben im Camp, auch gleichgültig, kümmern sich nicht oder haben Pachtverträge mit den Besitzern des Landes, auf dem ihr Zelt steht, die vorsehen, dass die Kinder auf deren Äckern arbeiten müssen.

Imad lebt in Camp Kahle 008; Kahle ist die nahe Kreisstadt, die Siedlungen werden durchnummeriert. Nummer 008 steht auf einem schmalen Streifen zwischen zwei Äckern, davor ein Graben.

Imads Mutter Saba, 45, eine kleine, rundliche Frau, sitzt mit gekrümmtem Rücken im Wohnraum ihres Zeltes, das bis unter die Decke mit dunkelbraunem Stoff ausgekleidet ist. Sie hat Schmerzen, Nierensteine, aber es fehlt Geld für einen Eingriff. Ein paar Matratzen liegen auf dem Boden, an der Wand ein einzelnes Brett, darauf ein Fernseher.

"In Syrien heiraten die Mädchen mit 20, aber hier ist alles anders"

Ein Mädchen kommt herein, es rafft sein Kleid unter dem gerundeten Bauch, es sieht stolz aus. "Meine Schwiegertochter Amal", sagt Saba. Amal ist 15 und seit acht Monaten mit Sabas Sohn Said, 20, verheiratet, die Eltern arrangierten die Ehe während zweier gegenseitiger Besuche; zuerst beobachtete Saba Amal dabei, wie sie im Haus ihrer Eltern Tee ausschenkte, dann kam Amals Vater nach Kahle, um Saids Ruf zu prüfen.

"In Syrien heiraten die Mädchen mit 20, aber hier ist alles anders", sagt Saba. "Es ist besser, wenn ein Mädchen früh einen Mann hat, sicherer für sie." Für Amal heißt die Schwangerschaft, dass sie nicht mehr auf dem Feld arbeiten muss, so wie Imads Schwester Nour, 15, die ein Tablett mit Tee bringt und dann mit Amal tuschelt. Jeden Tag pflückt sie von fünf Uhr früh bis ein Uhr mittags Erbsen, Zwiebeln, sammelt Kartoffeln ein.

"Ein Kind, das arbeitet, hält sich für erwachsen und verhält sich auch so."

Vier Dollar verdient sie am Tag, davon muss sie die Gebühr bezahlen, die der selbsternannte Dorfchef, der die Arbeit vermittelt und die Kinder zum Feld fährt, einbehält. Neben seinem Zelt parkt ein Auto, die anderen Bewohner haben höchstens ein Fahrrad. Nour sagt, sie arbeite gern, es sei eine Abwechslung zur Langeweile im Camp, wo sie die meiste Zeit zu Hause eingesperrt sei. Amal nickt. Jetzt habe sie ein neues Leben, sagt sie fröhlich. "Das Baby kommt im Dezember." Sie legt die Hand auf ihren Bauch. Es wird ein Mädchen.

Für Ali Kheireidin, 26, als Sozialarbeiter von Save the Children zuständig für den Kinderschutz in den Camps, ist das, was Nour als Abwechslung sieht, ihre größte Bedrohung. "Ein Kind, das arbeitet, hält sich für erwachsen und verhält sich auch so. Gerade bei den Jungs merken wir, dass sie als Kinder für uns kaum mehr erreichbar sind." Ali übt dann mit ihnen, positiv zu kommunizieren, etwas im Team zu machen, oder einfach, ruhig zu werden und sich zu konzentrieren.

Rafaa würde ihren Sohn gern in die Schule schicken, aber es geht nicht. Rabih, 6, leidet zu sehr darunter, dass er sich einnässt. Rafaa lebt mit ihrem Mann, ihrer Schwiegermutter und ihren zwei Kindern in Kahle 005, nahe der Familie von Imad. Sie hat ein weiches, freundliches Gesicht und einen offenen Blick; die schönen Dinge, die sie besitzt, hat sie auf einem Bord im Wohnraum aufgereiht, ihre Sonnenbrille, Kosmetik, Armreifen, daneben der Fernseher. Sie schaukelt ihre kleine Tochter auf dem Schoß, Rabih sitzt daneben, ein schmales Kind mit auffallend langen Wimpern, etwas Hartes liegt in seinem Blick, das man bemerkt, auch bevor man seine Geschichte hört.

"Wir hatten das Gefühl, die Piloten konnten uns sehen und warfen die Bomben gezielt auf Menschen."

Er war anderthalb, "ein schlauer Junge", sagt Rafaa, "er konnte gut sprechen und hatte sich die Windeln schon abgewöhnt." Es war 2012, wochenlang lag ihre Heimatstadt Homs unter Beschuss. Eines Tages, sie war gerade dabei, Rabih zu duschen, fielen Bomben auf ihr Wohnviertel, "wir hatten das Gefühl, die Piloten konnten uns sehen und warfen die Bomben gezielt auf Menschen." Sie riss Rabih in Todesangst aus der Dusche und rannte mit ihm auf die Straße, überall stieg Rauch auf. Während sie ihn trug, merkte sie, wie er pinkelte.

Neun Monate dauerte es, bis sie verstand, dass ihr Sohn traumatisiert war. "Er begann zu stottern, schrie nachts, hatte Angst vor Männern in Uniform, all seine Spiele hatten mit Gewalt und Waffen zu tun." Andere Kinder schlug er, teilte sein Spielzeug nicht. Noch ein Jahr hielten sie in Syrien durch, ihr Haus wurde ausgebombt, ihr Mann kam für drei Monate ins Gefängnis, ohne dass er den Grund kannte. Jetzt sind sie wieder zusammen, seit zwei Jahren leben sie in Kahle, ihre Tochter ist anderthalb.

Rafaa sagt, seit Rabih jeden Tag in die Kindergruppe gehe, sei er ausgeglichener geworden. Zum Beweis zeigt sie auf die Wand, auf ein Bild von ihm, ein Haus mit einem Baum daneben, dessen Früchte aussehen wie rote Herzen. Zum ersten Mal, sagt sie, habe er etwas ohne Gewehre und Checkpoints gemalt.

Noch immer kann er seinen Hahndrang nicht kontrollieren, sie geht mit ihm alle paar Stunden zur Toilette, weckt ihn nachts dafür. Dass er sich einnässt, ist ihm peinlich, vor allem vor dem Vater, der dann wütend wird und ihm sagt, dass er kein Taschengeld bekomme, wenn das nicht aufhöre. Nein, sagt Rafaa, "so kann ich ihn nicht in die Schule schicken, alle Kinder würden sich über ihn lustig machen." Also schaut Rabih Fernsehen, Cartoons, Tom & Jerry, den ganzen Tag.

Die Verzweiflung spielt den Islamisten in die Hände

Wenn man Ali Kheireidin, den Sozialarbeiter fragt, wie die Familien mit der Stagnation zurechtkommen, spricht er von "negative coping mechanisms", Negativ-Strategien, mit denen sie die Aussichtslosigkeit bewältigen. Kinderarbeit und Frühehen gehören dazu, aber auch eine Zunahme an Gewalt, auch sexueller. Für missbrauchte Kinder sucht Save the Children inzwischen Pflegefamilien in den Camps, die sie für ein Jahr aufnehmen. Die Verzweiflung spielt auch den Islamisten in die Hände, die über die nahe Grenze kommen und vor allem die 10- bis 15-Jährigen ansprechen. "Sie treffen auf perspektivlose Jugendliche, versprechen ihnen Geld und Waffen."

Der schönste Moment, sagt Ali, sei in den letzten Wochen gewesen, als er mit den Kindern zu einem Theaterstück nach Kahle gefahren ist und sie ihm zur Abfahrt Blumen mitbrachten. "Auf das Stück konnten sie sich dann überhaupt nicht konzentrieren, weil sie so aufgeregt waren."

Manchmal ist es nur eine Kleinigkeit, die das Leben eines Kindes verändern kann. Bei Karim, 10, ist es der Bücherbus. Karim, ein Junge mit einer versonnenen Ruhe, wurde als Baby am Rücken operiert, der Eingriff ging schief, seither haben sich seine Beine nicht mitentwickelt. Sie hängen an ihm wie Schläuche, er kann robben und sich hochstemmen, aber nicht allein in seinen Rollstuhl kommen, ein zerschlissenes Teil, das er von einem alten Mann aus dem Camp geerbt hat.

Normalerweise verbringt Karim die Tage drinnen. Gegen 17 Uhr, wenn es kühler wird, setzt seine Mutter Sonad ihn in den Rollstuhl vor dem Zelt, dann beobachtet er die anderen Kinder, manchmal spielen sie mit ihm Ball. Auch er kann weder lesen noch schreiben, seine Mutter hat ihm mal einen Stift und einen Block gegeben, "aber er wusste nichts damit anzufangen", sagt sie. Karim sagt, er schaue viel Fernsehen. Und denke an Syrien, an die Zeit, als sein Vater dort Taxifahrer war, "wir hatten ein eigenes Auto", sagt Karim, "und ich saß vorn bei ihm auf dem Schoß und konnte hinausgucken." Hier darf sein Vater nicht arbeiten, er hat kein Geld für die 200 Dollar, die eine Arbeitsgenehmigung kostet.

Zweimal in der Woche kommt ein Bus, vollgepackt mit Kinderbüchern, auf Englisch und Arabisch, die einzige Abwechslung für die Kinder. Dann rennen alle zu dem Unterstand, der mit blauen Matten mit Schlumpfmotiven ausgelegt ist, rangeln um die besten Plätze und schauen auf Ghinwa, die junge Frau von Save the Children, die ein Bilderbuch in die Höhe hält und von den Abenteuern eines kleines Fuchses erzählt. Und während die anderen sich boxen, wer wo sitzen darf, hockt Karim ganz hinten, auf seinem erhobenen Platz im Rollstuhl, mit einem stillen Lächeln im Gesicht.

HILFE VOR ORT

Save the Children engagiert sich im Libanon sowohl für die syrischen Flüchtlinge als auch für die Bevölkerung, die in weiten Teilen selbst unter schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen lebt. Die Organisation sorgt für psychosoziale Betreuung der Kinder, bietet für Vorschulkinder Grundlagenunterricht an und ermuntert in ihrer "Back to School"- Kampagne Eltern und Gemeinden, dafür zu sorgen, dass die Kinder zur Schule gehen. Weiterer Schwerpunkt ist die Einrichtung der "Child Friendly Spaces", Schutzräume, in denen die Kinder betreut werden und ein Stück Normalität erleben können.

Text: Meike Dinklage, Fotos: Nour Wahid Ein Text aus BRIGITTE 23/2016

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