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So wollten wir doch nie sein

Zerissen, gestresst. Muss das sein? Nein, findet BRIGITTE-Autorin Daniela Stohn: Wenn wir ehrlich zu uns sind - und Mut haben, uns zu ändern.

1. Wir lügen uns was vor

Vor einigen Jahren stand Annette vor einer schweren Entscheidung: Sollte sie Vollzeit in einer Werbeagentur weiter­ arbeiten – oder ihre Ehe retten, die kurz davor war, wie eine vernachlässigte Pflanze einzugehen? Denn so wie bisher, mit Überstunden, Abendkonferenzen und ständiger Erschöpfung, konnte es nicht weitergehen. Sie entschied sich für ihren Mann und die Familie, kündigte und suchte sich ein Jahr später einen Job mit geregelten Arbeitszeiten. Heute ist sie immer noch verheiratet.

Kerstin bekam das Angebot, als Part­nerin in eine Personalagentur einzu­steigen, als ihre Kinder sieben und vier waren. Jeden Tag fuhr sie acht bis zehn Stunden herum, um neue Kunden zu gewinnen. Anderthalb Jahre später wech­selte sie zurück in die Selbständigkeit, weil ihr Sohn in der Schule Probleme hatte und Unterstützung brauchte.

Klingt extrem? Vielleicht. Aber auch mutig. Denn wir haben die Botschaft von der Vereinbarkeit so verinnerlicht, dass wir es als Schwäche empfinden, wenn wir sie nicht hinbekommen. Also machen wir weiter und erleben, dass es zwar irgend­ wie funktioniert mit Arbeit und Fami­lie, aber zu einem verdammt hohen Preis: der Vernachlässigung der wichtigsten Menschen in unserem Leben, der Kinder und des Partners. Oder uns selbst.

Manchmal höre ich mich reden und denke: So wolltest du nie sein. Eine Meckerziege, die ihre Kinder kritisiert, ständig erschöpft ist und sich abends nicht mehr aufraffen kann, mit dem Mann noch ein Glas Wein trinken zu gehen. Mein Leben ist straff durchgetaktet. Und wenn nur ein Rädchen entgleist – das Kind Grippe hat, der Wagen in die Werk­ statt muss – haut es mich aus der Kurve.

In einer Allensbach-­Studie sagten 82 Prozent der deutschen Frauen zwischen 40 und 59, sie fühlten sich von Beruf, Familie und der Pflege von Angehörigen immer wieder überfordert. Weil wir spä­ter Kinder bekommen als unsere Mütter, fällt die Erziehung oft zusammen mit den ersten Karrieresprüngen, manchmal sogar mit der Pflege der Eltern. Wir sind also doppelt bis dreifach belastet.

Das gefühlte Fazit der heute 35­ bis 50­-Jährigen lautet daher: Wirklich kom­patibel sind Familie und Job nicht. Jeden­ falls nicht so, dass wir entspannt leben können. Die Journalistinnen Susanne Garsoffky und Britta Sembach behaupten in ihrem viel diskutierten Buch "Die Alles ist möglich-­Lüge" sogar, dass Familie und Beruf gar nicht zu vereinbaren seien. Der Ansatz scheint mir lebensfern, aber wahr ist: Kinder, Arbeit und Partner brauchen Zuwendung, Zuwendung kostet Zeit, und diese Zeit fehlt woanders. Das Leben als berufstätige Mutter ist oft ganz schön hart. Das mal offen auszusprechen tut gut und ist wichtig.

2. Unsere Wünsche passen nicht zu unserem Leben

Leider können wir kaum jemanden um Rat fragen, wie es funktioniert mit der Vereinbarkeit und der Gleichberechti­gung. Unsere Eltern haben diese Situa­tion ja meist nicht erlebt. Wir sind die erste Generation, die es ausprobiert, und wie so viele Generationen vor uns, die bei irgendetwas die Ersten waren, profitieren meistens erst unsere Nachkommen von den Kämpfen, die wir durchgestanden haben. Wenn wir also mal wieder erschöpft sind, weil uns alles zu viel wird, hilft es, daran zu denken, dass wir das vor allem für unsere Kinder tun.

Und dass wir schon Wichtiges erreicht haben – nämlich die Möglichkeit zu wählen, welche Rolle wir ausfüllen. Wollen wir Karriere­-Mutter sein, die Haupt-­Ernährerin, die Zuverdienerin oder die Mehrfach­-Job­berin? "Dass Frauen erwerbstätig sein sollen, ist heute gesellschaftlicher Kon­sens", sagt die Arbeitssoziologin Kerstin Jürgens von der Universität Kassel. "Und auch, dass wir Vereinbarkeit wollen – und zwar nicht mehr nur die Frauen, sondern auch die Männer, die Politik und die Unternehmen. Nur die Rahmenbe­dingungen stimmen noch nicht. Wir befinden uns in einer Phase des Übergangs." Und die macht es vor allem für uns Frauen schwierig. Denn die meisten von uns arbeiten nach der Geburt nach wie vor maximal Teilzeit oder in Mini­jobs und setzen damit ihre Unabhängig­keit und Altersvorsorge aufs Spiel.

Dabei hatten wir uns das mal ganz anders vorgestellt: 60 Prozent der Eltern mit Kindern zwischen einem und drei Jahren wünschen sich, dass beide Partner gleich viel arbeiten und sich gemeinsam um die Betreuung kümmern. Aber nur 14 Prozent geben an, dass das auch wirklich klappt. Vor der Geburt des ersten Kindes arbeiten 71 Prozent der Frauen Voll­zeit, danach nur noch 15 Prozent. Laut Statistischem Bundesamt sind 69 Prozent der Mütter Teilzeit beschäftigt, aber nur sechs Prozent der Männer. Nach der Geburt rutschen die meisten Familien nach wie vor in alte Rollenbilder zurück.

Wie kann es passieren, dass unsere Wünsche und die Wirklichkeit so weit auseinanderklaffen?

Das hat verschiedene Gründe. Zum Beispiel, dass die familienpolitischen Rahmenbedingungen noch nicht stimmen. Dass es noch nicht überall ausreichende Kinderbetreuungsmöglichkeiten gibt. Dass die Aufgaben zu Hause nicht fair verteilt sind. Dass beruflicher Erfolg in den meisten deutschen Unternehmen immer noch an Vollzeitstellen, lange Anwesenheit und Verfügbarkeit gekoppelt ist. Dass sich Wirtschaft und konservative Parteien nach wie vor am klassischen Modell orientieren: Mann Haupternährer, Frau Zuverdienerin in Teilzeit. Und dass wir uns mit all dem viel zu einfach abfinden.

3. Familienpolitik ist eine Insel

Rund 200 Milliarden Euro gibt der Staat jedes Jahr für Familien aus. Das Problem dabei: Er hat kein einheitliches Konzept. Noch immer gibt es die beitragsfreie Mitversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung und das Ehegattensplitting, das die Alleinverdiener-Ehe unterstützt. Das Betreuungsgeld, das die Regierung eingeführt und das inzwischen vom Bundesverfassungsgericht wieder kassiert wurde, belohnt Frauen, die ihr Kind lieber zu Hause lassen, als es in eine Kita zu geben, um arbeiten zu können. Gleichzeitig baut die Regierung die Kinderbetreuung aus und schafft das Elterngeld-Plus, das gleichberechtigte Familienmodelle unterstützt.

"Die Familienpolitik ist in vielen Aspekten fortschrittlich, aber sie ist eine Insel in der politischen Landschaft", meint Dr. Christina Boll, Forschungsdirektorin am Hamburgischen WeltWirtschaftsInstitut (HWWI), und fordert "eine Politik aus einem Guss", auch von Seiten der anderen Ministerien und Parteien, um bessere Rahmenbedingungen für Familien zu schaffen. Die Journalistin Stefanie Lohaus kritisiert in der "FAS": "Zwei Vätermonate und Betreuungsplätze für unter Dreijährige reichen bei Weitem nicht aus. Was ist mit Ganztagsschulen, Home-Office, Job-Sharing für Führungskräfte, 32-Stunden-Woche, flexible Kinderbetreuung für Menschen mit Schichtdienst?" Dass diese Werkzeuge nicht eingesetzt würden, glaubt sie, liege auch daran, dass die Menschen an den Schaltstellen in Politik und Wirtschaft aus einer älteren Generation stammen, die immer noch das konservative Familienmodell favorisiert.

Nehmen wir nur mal die 32-Stunden-Woche. Die Idee: Väter arbeiten weniger, Frauen mehr, Väter haben mehr Zeit für die Familie und Mütter verlieren im Beruf nicht den Anschluss. Leider wurde der Vorschlag von Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sofort wieder kassiert. Ihr Argument: zu starre Raster für die Unternehmen, Wettbewerbsnachteile. Schade, dass bislang noch niemand untersucht hat, wie wettbewerbsfähig Deutschland mit ausgeruhten und motivierten Eltern wäre.

4. Zu Hause bleiben, ist keine Option. Keine Kinder kriegen auch nicht

Solange das mit dem Ausgeruhtsein und der Motivation eine Zukunftsvision ist, entscheiden sich immer mehr Frauen für eines von beidem: Kind oder Karriere.
Nora ist Lehrerin. Seit ihr Sohn Leon vor zwölf Jahren auf die Welt kam, hat sie nicht mehr gearbeitet. Warum? "Weil mein Mann viel arbeitet und ich alles selbst organisieren müsste. Wenn ich sehe, wie gestresst berufstätige Mütter sind, bleibe ich lieber gleich zu Hause."

Was sie nicht sagt: Wenn ihr Mann sie morgen verlassen würde, stünde sie vor dem Nichts. Keine Rente, das Haus erst zur Hälfte abbezahlt, kaum Berufserfahrung. Und Unterhalt müsste er nach dem neuen Scheidungsrecht für sie auch nicht zahlen. Nora weiß das zwar alles, aber sie glaubt, dass ihr das nicht passieren wird. Helma Sick, Finanzberaterin der BRIGITTE, warnt: "Ich beobachte immer noch eine große Blauäugigkeit vieler Frauen, die auf ein traditionelles Familienmodell vertrauen. Mit einem langen Ausstieg aus dem Beruf gehen sie existenzielle Risiken ein."

Die Alternative ist nicht besser: Das Kinderkriegen gleich ganz sein zu lassen, weil beides zusammen, Arbeit und Familie, eben nicht funktioniert. Nur noch 1,41 Kinder bekommen deutsche Mütter im Schnitt. Unsere Geburtenrate, so das HWWI, ist die niedrigste weltweit.

Mal ganz ehrlich: Beide Optionen können wir nicht wollen, weder die finanzielle Abhängigkeit vom Mann noch den erzwungenen Verzicht auf eines der schönsten Erlebnisse des Lebens überhaupt. Wir wollen zumindest die Freiheit haben, zu wählen.

5. Die Zeit für Veränderung war nie besser

Tatsächlich? Ja! Aber wie bei einer Hausrenovierung sieht man die Fortschritte kaum, wenn man mitten im Chaos steht. Durch den Druck des Fachkräftemangels besinnen sich immer mehr Unternehmen darauf, als Arbeitgeber attraktiv für uns Frauen zu werden und passende Arbeitsbedingungen für Eltern zu schaffen. "Frauen können heute mehr durchsetzen als vor 20 Jahren", meint die Soziologin Kerstin Jürgens. "Wir haben die historische Chance, als Fachkräfte gebraucht zu werden – und damit endlich ein Druckmittel in der Hand." Die Expertin, die eine Kommission zur "Arbeit der Zukunft" leitet, weiß, dass Unternehmen und Gewerkschaften verstärkt darüber nachdenken, wie sie die berufliche Laufbahn der Beschäftigten in Deutschland so gestalten können, dass diese genug Zeit für Erholung, Kindererziehung und die Pflege von Angehörigen haben.

Der Trendforscher Andreas Steinle vom Zukunftsinstitut glaubt, dass Frauen die Arbeitskultur in den kommenden Jahren nachhaltig verändern werden. Dafür müsse die Wirtschaft neue Karrieremodelle zulassen und den beruflichen Erfolg von der Präsenzpflicht in Unternehmen entkoppeln. Was konkret bedeutet: andere Arbeitszeiten, Home-Office, Videokonferenzen statt Reisen und Phasen im Berufsleben, in denen man auch mal kürzertreten kann. Wären Karrieren nämlich noch jenseits der 50 möglich, wäre die Lebensphase davor nicht so überfrachtet.

Was sich für uns wie ein wunderbarer Traum anhört, ist gar nicht so weit entfernt. 80 Prozent der Führungskräfte, die für eine Studie von Roland Berger Strategy Consultants befragt wurden, sind überzeugt davon, dass partnerschaftliche Modelle, bei denen Frauen und Männer Familien- und Jobzeiten unter sich aufteilen, bereits in den nächsten fünf bis zehn Jahren Standard sein werden.

6. Wir müssen raus aus unserer Wohlfühlzone

Wir können die Verantwortung aber nicht nur den anderen zuschieben. Für die Volkswirtin Christina Boll vom HWWI fängt das Dilemma bereits bei der Berufswahl an. "Frauen bevorzugen noch immer stark die herkömmlichen Frauenberufe. Sie trauen sich zu wenig zu und begnügen sich mit kargen Verdiensten. Dadurch verdienen sie bei der Familiengründung weniger als ihr Partner, übernehmen die Betreuungslast, stecken weiter zurück und landen in der Teilzeitfalle."

Fast 200000 Euro verliert eine Frau mit mittlerer Bildung bis zu ihrem 46. Lebensjahr brutto an Lohn, wenn sie drei Jahre Elternzeit nimmt und danach drei Jahre Teilzeit arbeitet, hat Boll ausgerechnet. Doch ihr Fazit nach diversen Forschungsarbeiten zum Thema Vereinbarkeit ist: Diese Zahlen sind bei vielen Frauen noch nicht angekommen. "Sie sehen sich oft in der Opferrolle, nur: Das bringt sie nicht weiter. Sie müssen mehr einfordern. Aber ich habe den Eindruck: Viele Frauen wollen das gar nicht."

Sind wir vielleicht zu bequem? "Das Beharrungsvermögen in Teilzeit ist groß",bestätigt Boll. "Viele Frauen arbeiten auch dann noch Teilzeit, wenn die Kinder schon groß sind, bei Kindern im Alter von 15 bis 18 im Schnitt 22 Stunden pro Woche. Die Mütter wollen ihr Mehr an Freizeit nicht mehr hergeben. Das verträgt sich nur bedingt mit der Forderung nach Männergleichen Verdiensten und Heiner auskömmlichen Rente." Hinzu komme eine weitere deutsche Besonderheit: Die verbreitete Überzeugung, Kinder könnten nur in einer traditionellen Familienstruktur glücklich aufwachsen, mit einer Mutter, die sich rund um die Uhr um sie kümmert. Wissenschaftlich belegt sei diese Vorstellung nicht, so Boll, im Gegenteil: "Umfragen zeigen: Kinder sind froh über zufriedene Eltern. Und auch Kinder berufstätiger Eltern sind nicht der Meinung, dass ihre Eltern zu wenig Zeit für sie haben."

Etwas mehr Gelassenheit ist also erlaubt. Und setzt Energien frei für wichtige Auseinandersetzungen im Büro, nämlich um ein angemessenes Gehalt. Immer noch verdienen Frauen im Schnitt weniger als ihre männlichen Kollegen. "Der Arbeitsmarkt profitiert zurzeit von den Frauen, die sich mit wenig Geld zufrieden geben und froh sind, wenn sie überhaupt arbeiten dürfen", bestätigt die Soziologin Kerstin Jürgens. Forscherin Boll nennt diese Frauen polemisch "Sparmodelle aus Arbeitgebersicht" und rät: "Frauen müssen ihre Rechte stärker einfordern und auch, wenn der Job Spaß bringt, ein angemessenes Gehalt verlangen, das sie finanziell absichert."

7. Wir können nicht alles haben

Wir können aber noch mehr tun, um unser Leben zu vereinfachen. Eine Freundin sagte neulich zu mir: "Du bist eine von diesen typischen Servietten-Muttis, die sich auf den Listen für Klassenfeiern bei den Dingen eintragen, die am wenigsten Arbeit machen." Trotzig dachte ich: Sie hat zwar recht, aber auf diese ollen Käse-Trauben-Spieße, die eh keiner isst, habe ich keine Lust. Und Zeit, sie aufzuspießen, schon mal gar nicht. Warum müssen Mütter bloß so schrecklich perfektionistisch sein? Es ginge doch viel einfacher, wenn man zum Geburtstag der Tochter statt 30 selbst gebackener Muffins fertiges Eis am Stiel mit in die Schule gibt. Die Wohnung nicht sofort, sondern erst am Wochenende aufräumt. Die Kinder zu Fuß zur Schule gehen und die Hausaufgaben selbst erledigen lässt. Klar, das entspricht nicht immer den Ansprüchen, die wir eigentlich an uns stellen. Aber es macht vieles leichter.

Ach ja, auch bei uns selbst ist natürlich nicht alles möglich. Wir können nicht aussehen wie Penélope Cruz, eine Firma leiten, für einen Marathon trainieren und drei Kinder großziehen. Vielleicht brauchen wir eine andere Haltung zu Erziehung und Leben. Etwas weniger Helikoptern und Selbstoptimierung und etwas mehr Pragmatismus täten uns gut.

8. Schluss mit dem Kontrollwahn

Der Vater meiner Kinder hat eine andere Vorstellung davon, wie ordentlich und sauber es bei uns zu Hause sein soll. Er kauft ein, wenn er im Kühlschrank nichts mehr findet, und stellt die Waschmaschine an, wenn der Kleiderschrank leer ist. Solange mag ich nicht warten, dann mache ich es lieber gleich selbst. Experten haben ein Fachwort für dieses Phänomen: "Maternal Gatekeeping". Kurz zusammengefasst bedeutet es, dass wir unser Selbstbewusstsein aufpäppeln, wenn wir uns unseren Männern gegenüber als Herrscherinnen der Haushaltsdomäne aufspielen.

Noch immer erledigen Frauen den Großteil der Arbeit zu Hause: 37 Stunden pro Woche verbringen sie mit putzen, waschen und bügeln, Männer nur 16. "Hausarbeit", sagt die Soziologin Kerstin Jürgens, "bleibt in Frauenhand, auch in Beziehungen, in denen Frauen mehr arbeiten und verdienen als ihre Männer." Schuld sei unsere Sozialisation: Weil wir bei unseren Eltern gesehen haben, dass diese Aufgaben Frauensache sind. "Bei den 30- bis 50-Jährigen sind diese Rollenbilder tief verankert." Keine Frage, wir müssen dringend mit unseren Partnern reden und die Verteilung der Haus- und Familienarbeit neu verhandeln. Gleichzeitig sollten wir uns aber fragen, was schlimm daran ist, wenn eine Windel schief gebunden ist. Und wie viel wir bereit sind abzugeben. Wir können nicht einerseits mehr Hilfe bei Kinderbetreuung und Haushalt verlangen und gleichzeitig ständig kontrollieren, wie unsere Männer ihre Aufgaben erledigen. Vereinbarkeit bedeutet auch: loslassen können. Und zwar auch, damit unsere Kinder das mal besser machen, wenn sie groß sind.

9. Vereinbarkeit ist nicht gleich Vereinbarkeit

Was wir in der Debatte um die Vereinbarkeit gerne vergessen: Viele Frauen stehen gar nicht vor der Frage, ob sie arbeiten gehen wollen oder nicht – sie müssen, weil ein Gehalt für die Familie gar nicht ausreicht. Für sie ist laut einer Studie der Universität Duisburg-Essen die Diskussion um mehr Zeit für Freunde und Sport eine abgehobene Mittelschichtsdebatte. "Vereinbarkeit ist in den verschiedenen Bildungsmilieus auch ein unterschiedliches Problem", bestätigt die Arbeitssoziologin Kerstin Jürgens. "Geringer qualifizierte Frauen sind im Betrieb in der Regel nicht unverzichtbar und haben eine schlechtere Verhandlungsposition. Ihr Lohn ist so niedrig, dass sie sich keine Putzhilfe oder Babysitter leisten können. Viele dieser Frauen können ihre Arbeitszeit nicht reduzieren, weil sie es sich gar nicht leisten können. Die arbeitspolitischen Akteure müssen sich überlegen, wie sie Vereinbarkeit auch für die unteren Lohngruppen herstellen können."

Und: Für alleinerziehende Mütter ist Vereinbarkeit noch mal ein ganz anders gelagertes Problem, weil kein Partner da ist, der zur Not mal einspringen kann.

10. Zusammen ist man weniger allein

Meine ideale Vereinbarkeits-Welt sieht so aus: Konferenzen fänden nur zwischen 9 und 15 Uhr statt, und wenn das Kind mal krank ist, würde meine Chefin verständnisvoll sagen: Kein Problem, du kannst von zu Hause arbeiten. Ich würde ohne schlechtes Gewissen zur Arbeit gehen und mich nachmittags freuen, dass um diese Zeit noch andere Kinder im Hort sind. Und was das Schönste ist: Andere Eltern würden mir verschwörerisch zublinzeln, denn wir sitzen schließlich alle im selben Boot.
Vielleicht ist es genau das, was wir brauchen: mehr Solidarität und Team- geist. Klar, Vereinbarkeit ist individuell, sie hängt ab von der Branche, vom Partner (und ob man einen hat), vom Gehalt und vom Arbeitgeber, vom Wohnort und der Kita-Dichte, ob Großeltern in der Nähe sind und von der eigenen Belastbarkeit. Aber wenn wir zusammenhalten und unsere Wünsche laut äußern, dann wären wir plötzlich eine Gruppe und kein zerstrittener Haufen mehr. Erst der Chor vieler kritischer Stimmen bringt die Veränderung.

Wir sollten außerdem unsere Männer in die Pflicht nehmen, selbst wenn wir nicht mehr mit ihnen zusammenleben. Denn wenn mehr Männer länger zu Hause blieben, kranke Kinder und Eltern pflegten und abendliche Konferenzen boykottierten, würde die Arbeitswelt schneller familienfreundlich werden. Und der Chor der Unzufriedenen wäre mit einem Schlag doppelt so groß.

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