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Skandal um Hartz-IV-Kinder

Skandal um Hartz-IV-Kinder
© Rike./photocase.com
Taschengeld von der Oma? Kassiert der Staat. Und wenn Kinder von Hartz-IV-Empfängern in den Ferien jobben, dürfen sie vom Lohn fast nichts behalten. Ein Skandal, denn so stempelt der Staat schon die Kinder als Sozialfall ab.

Der 41-jährige Familienvater schaut auf den Boden, als er das Mendener Amtsgericht betritt. Er hat Angst. Womöglich muss er viel Geld bezahlen, Geld, das er nicht hat, vielleicht wird er das Gericht sogar als Vorbestrafter verlassen. Er versteht die Welt nicht mehr. Der Hilfsarbeiter verdient im Monat zwischen 800 und 900 Euro, zusätzlich bekommt er monatlich Geld von der Arbeitsgemeinschaft (Arge). Dafür ist er dankbar, es sichert seiner Familie das Existenzminimum. Aber als Hartz-IV-Empfänger muss er alle seine Einkünfte offenlegen. Monatlich listet er seinen Verdienst und das, was seine Frau fürs Putzen bekommt, penibel für das Jobcenter auf. Nun geht es um 554,40 Euro, die auf der Einnahmeliste fehlen. Diesen Betrag hatte seine Tochter in den Schulferien als Erntehelferin verdient, die 17-Jährige will für den Führerschein sparen.

Es ist absurd und skandalös: Für Kinder in so genannten Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften, also Familien, die auf Sozialgeld oder Arbeitslosengeld II angewiesen sind (siehe Seite 163), macht es wenig Sinn, in den Ferien zu jobben. Nur 100 Euro dürfen sie behalten. Von allem, was sie darüber hinaus verdienen, werden 80 Prozent abgezogen. Sie lernen, dass sich Arbeiten nicht lohnt. Das Bundesarbeitsministerium sieht darin kein Problem, im Gegenteil: Der Freibetrag von 100 Euro stelle für Kinder und Jugendliche "faktisch einen Arbeitsanreiz dar", antwortet ein Sprecher des Ministeriums auf eine BRIGITTE-Anfrage. "Ein höheres 'Motivationsgeld' ist gerade im Hinblick darauf, dass die Ferien der Erholung dienen, nicht erforderlich, da Schulpflichtige gerade nicht zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit motiviert werden sollen."

Viele der von diesem Gesetz betroffenen Kinder und Jugendlichen fühlen sich doppelt diskriminiert. Sie sind arm - und können aus eigener Initiative nichts daran ändern. Sie haben nicht genug Geld für Schulbücher, Hefte, Fahrkarten, Ausflüge - denn das müssen die Eltern vom knappen Regelsatz zwischen 211 und 281 Euro pro Monat und Kind bestreiten. Für Bildung ist da kein Cent vorgesehen. Wurden nach dem alten Bundessozialhilfegesetz für den Schulbesuch noch einmalige Beihilfen gewährt, muss heute 1,60 Euro im Monat für Schreibwaren reichen. Für die unerschwingliche Klassenreise könne sie zwar einen Antrag auf Zuschuss stellen, meist komme das Geld dafür aber viel zu spät, erzählt eine Hartz- IV-Mutter. Bescheidener Luxus wie eine CD oder ein Kinobesuch ist für Kinder aus "Bedarfsgemeinschaften" nicht drin.

Dass ihre Kinder selbst verdientes Geld abgeben müssten, auf die Idee kommen viele Eltern nicht. Dem Mendener Vater flatterte nach der Rückzahlungsanordnung auch noch ein Strafbefehl ins Haus. Immerhin hatte er das Glück, an Amtsgerichtsdirektor Jens Festersen zu geraten. Der wollte ohnehin ein Zeichen setzen gegen diese Ungerechtigkeiten. Er machte gemeinsam mit dem Staatsanwalt kurzen Prozess: "Wissen Sie was?", sagte er in der Verhandlung, "ich glaube Ihnen! Ich will, dass Sie erhobenen Hauptes das Gericht verlassen und erzählen, dass Sie keine Strafe bekommen haben. Jeder, der Sie dafür verurteilt, müsste sich schämen, zumal Ihnen die Arge das Geld längst wieder abgezogen hat."

Festersen sagt, es sei ihm auf die Nerven gegangen, dass er sich fast nur noch mit vermeintlichen Arge-Betrügereien beschäftigen musste, "ein ganz hoher Anteil aus Versehen - eben wegen mangelnder Beratung und unverständlicher Formulare". Da mache dann einer einen Fehler und setze damit den verhängnisvollen Automatismus eines Strafverfahrens gegen ihn in Gang. Es liege in der Struktur, dass der Richter dann häufig der erste Mensch sei, der sich leibhaftig mit diesen vermeintlichen Betrügern befasse. Bis zur Gerichtsverhandlung laufe alles schriftlich, "einen Sachbearbeiter vom Jobcenter bekommen die meisten gar nicht zu sehen".

Ob Zeitungen austragen, kellnern oder Supermarktregale einräumen - die meisten Eltern finden es gut, wenn ihre Kinder sich etwas dazuverdienen. Und dabei Erfahrungen in der Arbeitswelt sammeln. Nur Hartz-IV-Kinder müssen auch hier leider draußen bleiben. Im Internet-Forum "Tacheles" klagt eine Arbeit suchende Mutter, der Großvater habe für ihren 14-jährigen Sohn ein Konto eingerichtet und dort monatlich 15 Euro eingezahlt, "damit sein Enkel lernt, mit Geld umzugehen". Nach dem "Abgleich" aller Konten, der im Jobcenter stattfindet, wurde der Mutter das Taschengeld und auch ein Weihnachtsgeschenk von 85 Euro angerechnet, 205 Euro soll die Alleinerziehende nun zurückzahlen. Es half nichts, dass die Mutter mit dem Einwand "zweckgebundene Einnahme" argumentierte: Der Junge kaufte von dem Taschengeld monatlich für 11,50 Euro eine Fahrkarte für die öffentlichen Verkehrsmittel, sein Ticket, am Leben teilzunehmen, sich mit Freunden in der Stadt treffen zu können.

Das Bundesarbeitsministerium, mit diesem Fall konfrontiert, verteidigt die rigide Maßnahme: "Jede Einnahme in Geld oder Geldeswert, die einem Leistungsempfänger während des Bezugs vor Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld zufließt, ist grundsätzlich Einkommen." Also auch Geldgeschenke von Verwandten, Kinder dürfen davon nicht mehr als 50 Euro im Jahr behalten. Nur Geld, das fest angelegt wird, steht auch minderjährigen Kindern bis zu einem Vermögensfreibetrag von 3100 Euro zu. Im Sozialhilfe-Forum jedenfalls hat keiner einen Rat für die Mutter, die nun nicht weiß, wie sie das Geld zurückzahlen soll.

Am besten sei es, Taschengeld immer sofort auszugeben oder es unter der Matratze zu verstecken, überlegen die anonymen Teilnehmer. Doch auch dafür drohen Strafen - von der Kürzung der Bezüge bis hin zu einem Strafverfahren wegen Betrugs. Weil schon jeder kleine Abzug für Menschen am Abgrund des Existenzminimums ein schwerer Schlag ist, haben die Hartz-IV-Eltern Angst. Angst, sich zu wehren, und Angst vor jedem Brief von der Behörde.

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Die alleinerziehende Mutter Martina Bedregal sagt, sie bekomme Herzrasen bei jedem grauen Umschlag im Briefkasten. Richtig schlecht wurde ihr, als sie im Februar einen Bescheid vom Jobcenter erhielt, adressiert an ihren 15-jährigen Sohn, der in die 8. Klasse eines Kieler Gymnasiums geht. "Jetzt kriegen die ihn auch noch am Wickel", dachte sie und wartete, bis der Junge aus der Schule kam: "Lass uns das zusammen aufmachen."

Im Umschlag fand sich eine Eingliederungsvereinbarung für den Schüler. Mit einer solchen schriftlichen Abmachung zwischen Arge und Hartz-IV-Empfänger verpflichtet sich ein Arbeitssuchender, Schritte zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt zu unternehmen. Er soll an Maßnahmen teilnehmen und Fortzahlungsanträge stellen. Und der Schüler solle regelmäßig beim Jobcenter vorsprechen, hieß es in dem Schreiben. Es wurden in diesem Bescheid Sanktionen angedroht, von der Kürzung der Bezüge um 30 Prozent bis hin zur kompletten Streichung.

Der Sohn war geschockt, die Mutter wütend. Sie wandte sich an den Kieler Schuldenberater und Sozialanwalt Helge Hildebrandt. Der weiß von vielen solcher Fälle: "Es ist ein Problem, wenn Schüler wie Arbeitslose behandelt werden." Dabei liegt es im Ermessen der Jobcenter, ob sie 15-Jährigen eine solche Anweisung schicken oder nicht. Viele tun es. Und verunsichern damit Teenager, die ohnehin oft am Rande stehen. Die fühlen sich dann erst recht als Sozialfall abgestempelt.

Eigentlich sollte das Gegenteil mit den Eingliederungsvereinbarungen für unter 25-Jährige erreicht werden: "Wir wollen jungen Leuten damit helfen, dass sie den Sprung von der Schule in den Beruf schaffen", erklärt Kurt Eikemeier von der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg. Kinder von Hartz-IV-Empfängern würden allzu häufig auch wieder Bedürftige, ihnen sollten rechtzeitig Angebote gemacht werden. Dass dies wohl kaum durch einen schwer verständlichen Bescheid mit Drohungen erreicht werden kann, ist allen klar. Beim Arbeitsministerium in Berlin heißt es denn auch, eine solche Vereinbarung müsse in einem Beratungsgespräch mit dem Jugendlichen und den Eltern erarbeitet werden.

Martina Bedregal kann darüber nur lachen. Mit ihr wurde nie ein vertrauensvolles Beratungsgespräch geführt, in den drei Jahren ihrer Arbeitslosigkeit waren elf Sachbearbeiter für sie zuständig. Vor dieser Mühle wollte sie ihren Sohn schützen. Dass die Praxis oft anders aussieht als die Theorie, weiß auch Anwalt Hildebrandt, er vermutet, dass viele unterschriebene Eingliederungsvereinbarungen den Jobcentern gute Erfolgszahlen bescheren.

Im Fall Bedregal ging sein Widerspruch glatt durch. "Ich muss nun jedes halbe Jahr eine Schulbescheinigung für meinen Sohn vorzeigen", sagt die Mutter. Sie wundert sich, denn das musste sie als Empfängerin von ALG II ja ohnehin schon immer. Sie weiß, dass es für sie nur einen Ausweg aus dem Bürokratie-Elend gibt: bald einen Job zu finden. Sie hofft weiter auf ein neues Leben ohne Eingliederungsvereinbarungen, Ferienjobprobleme und Taschengeldabzüge. Mit besseren Chancen für ihr Kind.

Hartz IV: Wann und wie viel wird gezahlt?

Das seit dem 1. Januar 2005 geltende Hartz-IV-Gesetz umfasst Sozialhilfe und Arbeitslosengeld II (ALG II), das anders als das Arbeitslosengeld I keine Versicherungsleistung, sondern eine aus Steuermitteln finanzierte Fürsorgeleistung ist. Die Höhe orientiert sich am Bedarf der Empfänger/in und nicht am letzten Nettolohn. ALG II erhalten erwerbsfähige, Arbeit suchende Personen. Nicht erwerbsfähige Menschen erhalten Sozialgeld. Für Kinder in ihrer "Bedarfsgemeinschaft" bekommen die Erziehungsberechtigten Sozialgeld, Sozialhilfe oder - bei geringem Verdienst - einen Kinderzuschlag. Das Kindergeld wird angerechnet, also vom Regelsatz abgezogen. Alleinstehende erhalten 100 Prozent des Regelsatzes (351 Euro), volljährige Partner 90 Prozent (316 Euro). Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres bekommen 60 Prozent (211 Euro), Kinder zwischen 15 und 25 Jahren 80 Prozent (281 Euro). Und es werden bis zu einer bestimmten Wohnungsgröße Miete und Heizkosten bezahlt.

Text: Eva Meschede Foto: Rike./Photocase.com Ein Artikel aus der BRIGITTE 23/08

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