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Rechtsstreit Sie überlebte eine brutale Vergewaltigung – doch eine Opferrente will ihr das Gericht nicht zuerkennen

Sie überlebte eine Vergewaltigung: Schreibtisch im Gericht
© mojo cp / Shutterstock
Seit acht Jahren lebt Ann-Kristin Waitschekauski mit ihrem Trauma und Ängsten. Doch die sieht man von außen nicht – weshalb sie bis heute um eine sogenannte Opferrente, die Geschädigten eines Verbrechens eigentlich zusteht, kämpft.

Wenn sie darüber reden muss, kommen ihr noch immer die Tränen, und die Stimme stockt. Dabei sollte doch, so sehen es zumindest verschiedene (männliche) Richter, nach acht Jahren eigentlich alles verarbeitet und vergessen sein. Für Ann-Kristin Waitschekauski aus Nordrhein-Westfalen, und vermutlich auch für viele andere Betroffene von sexuellen Übergriffen, könnte jedoch keine Aussage weiter entfernt von der Realität sein.

Seit acht Jahren leidet die 30-Jährige unter Ängsten, muss dagegen Medikamente nehmen, traut sich viele Dinge nach wie vor nicht allein. In einen Supermarkt gehen, zum Arzt oder mit dem Hund Gassi gehen. Dennoch hat sie sich mit großer Entschlossenheit ein beinahe normales Leben zurückerkämpft: Ann-Kristin Waitschekauski hat einen guten Job, ist heute glücklich verheiratet und Mutter. Aber heißt das, dass ihr Trauma nicht mehr zählt? Dass es sie nicht mehr belasten und einschränken darf? Der zuständige Landschaftsverband Rheinland (LVR) will ihr jedenfalls keine Opferrente zugestehen – obwohl diese gerade einmal 130 Euro im Monat betrüge.

Eine junge Frau kämpft für ihr Recht

Es passierte im Frühling 2013, als die junge Frau mit einer Freundin und zwei guten Bekannten eine letzte kleine Party in einer alten Wohnung feiern wollte, die nach dem Umzug gerade leergeräumt war. Es wurde gegrillt, eigentlich war es anfänglich ein schöner Abend. Dann bat der Täter die junge Frau, mit ihm ins Nebenzimmer zu kommen. Sie kannte ihn seit fast fünf Jahren als guten Bekannten und dachte, er wolle reden. Doch er versuchte, sie zu küssen. "Es ging alles ganz schnell", sagt sie. "Ich habe ihn dann weggeschubst und gesagt: Sei mir nicht böse, aber du bist ein Freund von mir. Als ich ihn weggeschubst habe, hat er mir auch schon mit der Faust auf die Schläfe gehauen."

Sie fiel hin, war kurz bewusstlos. Der Täter riss ihr Oberteil kaputt, ging auf ihre Bitten nicht ein, vergewaltigte sie. Ihre Hilfeschreie hörte niemand, weil im Nebenzimmer laut Musik lief. Die junge Frau trug blutige Verletzungen davon. Nach der Tat ließ er sie einfach im Zimmer zurück. Was Ann-Kristin Waitschekauski nicht wusste: Der andere männliche Bekannte hatte währenddessen versucht, über ihre Freundin herzufallen. Die konnte glücklicherweise fliehen – und Hilfe holen. Die Polizei kam, nahm sie mit auf die Wache. Nackt, nur in eine Decke gewickelt. Sie wurde gynäkologisch untersucht, "und dann kam ich nach Hause, und mein altes Leben war vorbei."

Der Täter wurde gefasst

Ann-Kristin Waitschekauski musste wegen der Tatumstände zumindest nicht darum kämpfen, dass ihr geglaubt wurde – aber um nahezu alles andere. Sie bekam keine seelsorgerische Betreuung, keine psychologische Beratung, kein Schmerzensgeld. Um einen Therapieplatz musste sie sich selbst kümmern. Dem Täter begegnete sie vor Gericht wieder, stieß im Flur fast mit ihm zusammen, weil niemand dafür sorgte, dass er auf Distanz gehalten wurde. Sie musste sich deshalb noch im Gerichtssaal übergeben. "Man ist ja doch, obwohl man 21 ist, ein kleines, verletzliches Kind", kommentiert sie die Situation. Immerhin wurde der Täter verurteilt, zu drei Jahren und drei Monaten Haft.

In ihren Augen eine gerechte Strafe? "Nein", sagt die inzwischen 30-Jährige. Es klingt bitter. Vor allem ist es eine Strafe, die der Mann nie absitzen musste: Er packte seine Sachen und floh ins Ausland. Später spürte Waitschekauski Social-Media-Acoounts von ihm auf, mit Fotos, auf denen er – womöglich in der Stadt Donezk – mit Waffen posiert. "Das ist für mich ganz schlimm", sagt die junge Frau. "Der weiß auch, wo ich hier wohne." Sie hatte nie Hinweise darauf, dass die Polizei intensiv nach ihm suchte, oder noch sucht.

Die junge Frau wird nach der Tat alleingelassen

Sie fühlt sich nicht geschützt, sie fühlt sich nicht verstanden, sie fühlt sich nicht fair behandelt. Sie leidet nach wie vor seelisch unter allem, was vorgefallen ist. Die sogenannte Opferrente, offiziell Opferentschädigungsrente, ist für Menschen, die "eine dauerhafte Gesundheitsschädigung, kausal auf die Gewalttat zurückzuführen" erlitten haben, gedacht. Bei einem Gespräch mit dem "Weissen Ring" hatte man Waitschekauski geraten, diese zu beantragen. Das erste Mal scheiterte es daran, dass es die damals 21-Jährige es, zwei Monate nach der Tat, nicht fertigbrachte, sich "einem Gutachter zu stellen", sagt sie. "Ich konnte das einfach nicht." Sie wollte nicht mehr über die Tat sprechen, konnte nicht einmal mit ihren engsten Freunden und Verwandten darüber reden. "Mangelnde Mitwirkung", so das Gericht – Antrag abgelehnt.

2015 versuchte sie es erneut, diesmal gestand man ihr die Rente zu – allerdings nur für ein Jahr. In den Augen des LVR bestanden die psychischen Probleme, die man ihr 2016 noch zuerkannt hatte, 2017 plötzlich nicht mehr. "Von einem auf den anderen Tag eine plötzlich Heilung", kommentiert die junge Frau das sarkastisch. Mit ihr gesprochen hatte vorab niemand, die Beendigung der Rentenzahlungen wurde einfach in irgendeinem Büro beschlossen. Ann-Kristin Waitschekauski hatte mittlerweile ihren jetzigen Mann kennengelernt, der ihr den Rücken stärkte. Sie entschied sich, alle Kraft zusammenzunehmen und gegen den LVR zu klagen.

Ann-Kristin Waitschekauski kämpft weiter

Die Odyssee begann nun allerdings erst. "Die Klage wurde abgewiesen", berichtet sie. Im Urteil stehen merkwürdige Sätze, wie "Die Klägerin kann sich zu sportlichen Aktivitäten zuhause motivieren", "Die Klägerin fährt einen eigenen Pkw", "Es gibt auch Freunde". Nichts davon widerlegt die Tatsache, dass Ann-Kristin Waitschekauski viele Dinge noch immer nicht allein kann, psychisch leidet, Ängste hat und Medikamente einnimmt. Doch in den Augen vieler – vor allem männlicher – Außenstehender wirkt sie offenbar einfach nicht leidend genug. "Es ist acht Jahre her, aber es ist jeden Morgen ein Kampf für mich, aufzustehen", sagt sie. Das sieht aber nur ihr Mann.

Die junge Frau, die einfach nur ihr Recht wollte, kämpft seither, bis heute, trotz Beleidigungen, Frustration und Unverständnis, weiter. "Ich kann verstehen, dass viele Frauen aufgeben", sagt Waitschekauski, "ich hätte auch schon dreißig Mal aufgegeben, wenn mein Mann und der Rest meiner Freunde mir nicht kräftig in den Po getreten hätten." Als ihre Klage am Gericht in Aachen abgelehnt wurde, sagte ihr der Richter: "Frau Waitschekauski, wenn Sie im Rollstuhl sitzen müssten, hätten keine Arme, keine Beine, dann wäre das eine offensichtliche Folgeschädigung der Gewalttat." Ihr kommen die Tränen, als sie das sagt. Ihre Folgeschädigung ist seelisch und nicht sichtbar, deshalb für das Gericht offenbar nicht existent.

Seelische Spuren sind nicht sofort sichtbar

Ihre Motivation "Es geht mir nicht um diese 130 Euro, es geht darum, dass das für mich ein ganz großer Schritt ist, und für viele andere. Es muss sich definitiv etwas ändern." Sie ist genau deshalb mit ihrem Fall an die Öffentlichkeit gegangen, ist sehr aktiv auf Social Media. Auf Instagram folgen Ann-Kristin Waitschekauski inzwischen rund 36.000 Menschen. "Ich bekomme so liebe Nachrichten. Dass ich nicht nur für mich kämpfe, sondern für alle anderen. Das ist unglaublich, was man da zurückbekommt. Ich will nicht aufgeben, ich will nicht mehr, dass wir so behandelt werden." Sie weiß, dass sie einen Kampf kämpft, für den viele andere Betroffene nicht die Kraft haben. "Viele trauen sich ja nicht einmal die Anzeige."

Sie ist in Berufung gegangen, will vor Gericht weiterkämpfen. Nicht um 130 Euro im Monat – sondern um Respekt für die seelischen Folgen sexueller Gewalt, um die Anerkennung des Leids, das solch brutalen Taten folgt. Auch nach acht Jahren noch. Über ihr Schicksal hat sie zudem ein Buch geschrieben. "Ich bin kein Opfer" wird in diesem Winter beim Nibe-Verlag erscheinen.

Dieser Artikel erschien ursprünglich bei stern.de.

wt/stern

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