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Sheryl Sandberg im Interview: "Als Mutter trauert man doppelt"

Facebook-Chefin, Bestsellerautorin, Gründerin von "Lean In", einem weltweiten Netzwerk karrierewilliger Frauen: Sheryl Sandberg ist eine der mächtigsten Frauen der Welt. Völlig unerwartet starb vor zwei Jahren ihr Mann. Ein Gespräch über Trauer und ihr Leben danach.
Sheryl Sandberg
Sheryl Sandberg, Tochter einer Lehrerin und eines Augenarztes und in Miami aufgewachsen, studierte Wirtschaft in Harvard, arbeitete für die Weltbank und die Berater-Firma McKinsey. Fünf Jahre war sie Stabschefin im Finanzministerium unter Bill Clinton, 2001 wurde sie Vize-Chefin des globalen Online-Verkaufs von Google. 2007 wechselte sie zu Facebook, seit 2008 ist sie Geschäftsführerin. 2013 schrieb sie den Bestseller "Lean In".
© Getty Images / Stephen Lam

Sheryl Sandberg betritt einen Besprechungsraum der Facebook-Zentrale in Menlo Park, Kalifornien. Kaffeebecher in der Hand, sportliche, informelle Kleidung, die dunklen Haare schulterlang und glatt nach hinten gestrichen. Wir sind zur Video-Konferenz verabredet, für sie ist es zehn Uhr morgens.

Sie setzt sich, dreht einen Stuhl zu sich und legt die Füße lässig auf die Sitzfläche. Das Thema unseres Gesprächs ist ein ernstes:

Sheryl Sandberg hat ein Buch über die Zeit nach dem Tod ihres Mannes geschrieben, es heißt "Option B"*; der Titel steht dafür, dass man Trauer akzeptieren muss, weil es Option A – das Leben, wie es war – nicht mehr gibt.

Sie redet offen über die Zeit nach dem Tod ihres Mannes Dave Goldberg, mit dem sie zwei Kinder hat. Einige Male kommen ihr unvermittelt die Tränen, einmal bricht die Stimme weg, aber das löst kein sichtbares Unbehagen bei ihr aus, keinen verschämten Griff zum Taschentuch. Sheryl Sandberg trauert öffentlich, teilt ihre Gefühle, so wie es dem Facebook-Geist entspricht.

BRIGITTE: Ihr Ehemann Dave ist am 1. Mai 2015 während eines Mexiko-Kurzurlaubs an einem Herzleiden gestorben. Gerade haben Sie seinen zweiten Todestag erlebt. Wie war das für Sie? 
SHERYL SANDBERG: Ich war trauriger, als ich erwartet hatte. Alle hatten mir gesagt, das erste Jahr sei das schlimmste, weil man zum ersten Mal alles ohne den anderen erlebt – Geburtstage, Jahrestage. Ich war erleichtert, als das Jahr herum war, ich dachte: keine ersten Male mehr! Es stimmte, das zweite Jahr war leichter – nur der Todestag nicht. Ich wusste nicht, ob ich zum Grab gehen sollte, die Kinder wollten nicht in die Schule, auch nicht zum Grab, ich ging dann ohne sie ... Also, es war furchtbar. Dann habe ich eine sehr, sehr ehrliche Nachricht in eine "Option B"-Gruppe gepostet ...

... ein Facebook-Netzwerk von Betroffenen, in dem es – analog zu Ihrem Buch "Option B" – um die Bewältigung von Trauererfahrungen geht ...
... ja, ich schrieb: Ich trauere. Nur das. Mir war nicht klar, wie sehr ich das brauchte. 

Ihnen half ein Post mehr als Ihre Freunde?
Ich habe sehr gute Freunde – aber wenn sie nicht wissen, wie es ist, jemanden zu verlieren, ist die pure Trauer so eines Tages für sie schwer zu verstehen.

Wie aktiv sind Sie bei Option B?
Sehr aktiv. Ich poste bisher wenig, aber ich lese viel darin, kommentiere, like. Das Besondere ist, dass dort niemand über dich und deine Trauer urteilt. Einer in der Gruppe schrieb: Mein Sohn ist heute Morgen gestorben (ihre Stimme schwankt). Eine andere schrieb: Sein Tod ist 26 Jahre her, aber heute wäre unser Jahrestag. Da gibt es kein "Du solltest damit fertigwerden", kein "Du solltest weiterleben". Ich bin noch immer traurig, (sie weint jetzt), aber der Austausch hilft auf tiefe Weise.

Sheryl Sandberg und ihr verstorbener Mann Dave Goldberg
Von 2004 bis zu seinem Tod 2015 war Sheryl Sandberg mit Dave Goldberg verheiratet, vormals Manager bei Yahoo und später Chef des Online-Umfrageunternehmens SurveyMonkey. Die gemeinsamen Kinder sind zwölf und neun.
© Getty Images / Kevork Djansezian

Können Sie sagen, was für Sie der Moment Ihrer größten Verzweiflung war? 
Da stehen viele zur Auswahl. Dave zu finden, zu wissen, dass er tot ist – aber wenn ich mich entscheiden müsste, würde ich sagen, es war der Moment, als ich es den Kindern sagte. Als Mutter trauert man doppelt, für sich selbst und seine Kinder. Ich hatte das Gefühl, darin versagt zu haben, sie zu schützen. Ich beschäftige mich auch deshalb jetzt so viel mit den Schicksalen anderer Menschen, weil ich ihnen helfen möchte, sich keine Selbstvorwürfe zu machen. Nach einem Verlust gibt es 2000 Möglichkeiten, sich schuldig zu fühlen, aber das bringt niemanden zurück.

Es heißt immer, dass nur Zeit gegen Trauer hilft. In Ihrem Buch klingt es, als könne auch ein starker Wille, sich aufs Weiterleben zu konzentrieren, helfen. Manchmal scheint es fast so, als müsse man sich nur richtig anstrengen, dann könnte einen das Leid sogar läutern.
Beides ist wichtig, Zeit und die innere Einstellung. Von allein aber macht Zeit nichts besser. Anfangs hat man eher zu viel davon, die ersten Wochen, Monate – ich bin zur Arbeit gegangen, von 9 bis 14 Uhr, und habe danach die Kinder abgeholt. Ich habe versucht, im Büro nicht zu weinen, es war fast unmöglich. Als ich im Auto saß, war ich fast hysterisch.

Haben Sie geglaubt, dass Sie je wieder Freude empfinden könnten?
Nein, ich dachte auch nicht, dass Zeit wirklich hilft. Adam Grant, mein Psychologe, mit dem ich das Buch geschrieben habe, sagte: Stell das nicht infrage, es ist so! Wenn dir jemand sagt, Zeit heilt alle Wunden, dann gibt dir das Hoffnung, und allein das ist wichtig.

Sie schreiben, Ihre größte Angst war, dass Ihre Kinder keine glückliche Kindheit haben würden. Wie hat der Verlust sie verändert?
Sie vermissen ihren Vater, fangen an, ihn zu vergessen, und das macht sie noch trauriger. Sie waren sehr jung, als Dave starb, sieben und zehn Jahre. Es gibt Augenblicke, in denen sie ängstlich zu mir kommen und sagen: Ich kann mich nicht an Daddy erinnern, Mom (sie weint). Ich mache jetzt dauernd Videos meiner Familie.

Wie ein Backup Ihres Lebens?
Ja, wir haben auch früher Videos gemacht, aber Dave war oft derjenige, der gefilmt und fotografiert hat, trotzdem haben wir noch Tausende Fotos, Hunderte Videos. Diese Bilder und Filme sind jetzt sehr wichtig für uns.

Geht es Ihren Kindern inzwischen besser?
Ja, sie sind sehr resilient. Als das Basketball-Team meine Sohnes ein Ausscheidungsspiel verlor und alle anderen Jungs weinten, sagte mein Sohn: Es ist nur Basketball, Mom, 6. Klasse.

Resilienz bedeutet, psychisch in der Lage zu sein, Krisen auszuhalten und sich daraus weiterzuentwickeln. Ist das Ihren Kindern als Grundausstattung in die Wiege gelegt oder haben sie es erlernt?
Resilienz ist eine Kombination, weder ist sie nur angeboren noch nur erlernt. Es braucht noch einen dritten Faktor: Hilfe und Unterstützung. Man kann Resilienz nicht erzeugen, nicht willentlich herstellen. Wenn man aber Unterstützung bekommt, dann ist sie wie ein Muskel, den man trainiert.

Sie meinen die Unterstützung von Menschen, die einem persönlich nahestehen? 
Nicht nur, auch von Kollegen, der Nachbarschaft, der Gemeinde – man muss kollektiv in Menschen investieren. Das ist etwas sehr Amerikanisches, in Ländern wie Deutschland mit einem besseren sozialen Netz ist diese Form der Unterstützung nicht so ausgeprägt, weil sie nicht in derselben Weise nötig ist. Aber hier ist sie essenziell.

Sie sind sehr bald nach dem Tod Ihres Mannes wieder zur Arbeit gegangen. Wie war das für Sie?
Früher habe ich geglaubt, wenn ein Kollege eine schwere Zeit hatte, müsse ich ihn schonen, den Druck rausnehmen. Als die Leute mich geschont haben, fühlte ich mich immer schlechter und dachte, ich kann meinen Job nicht mehr machen. Leute zu schonen untergräbt ihr Selbstbewusstsein. Ich ging zur Arbeit und machte Fehler, ich war unkonzentriert, schlief in Konferenzen ein. Ich rief Mark (Facebook-Chef Mark Zuckerberg, Anm. d. Red.) an und sagte, ich bin total ineffektiv, vielleicht war es doch zu früh – der Psychologe hatte mir geraten, die Kinder in die Schule zu geben und ins Büro zu gehen, um wieder in eine Routine zu kommen, aber vielleicht hatte er unrecht. Mark sagte zu mir: Nimm dir Zeit, wenn du sie willst, aber du hast heute auch gute Sachen gemacht, und es sind schon andere Leute in Meetings eingeschlafen. Es stimmte, zur Arbeit zu gehen ist besser, als zu Hause zu sein. Zu Hause sitze ich in meiner Küche und warte auf Daves Schlüssel in der Tür.

Wie haben Sie Ihr Selbstbewusstsein zurückerlangt?
Mit einer einfachen Methode. Ich begann damit, jeden Abend drei Dinge aufzuschreiben, die mir am Tag gelungen waren, banale Dinge wie: Ich habe heute einen guten Cappuccino gekocht. Das habe ich acht Monate lang gemacht. Dann war irgendwann mein Selbstvertrauen zurück, aber nicht das Gefühl von Glück – das ist es nach wie vor nicht. Seither schreibe ich jeden Abend drei Momente auf, in denen ich froh war. Wenn man sich darauf fokussiert, wird das Leben nicht perfekt, aber es hilft.

Wenn man sich im Büro von seiner verletzlichen Seite zeigt: Ist das nicht auch riskant? Schließlich geht es im Job auch um Auftreten, Karriere, Konkurrenz. 
Wenn man sich um seine Kinder sorgt, Krebsangst hat – dann bringt man das sowieso mit. Wenn man zugibt, was los ist, und damit offen umgeht, ist das effizienter, als sich zu verstecken.

Zehn Monate nach dem Tod Ihres Mannes traten Sie öffentlich mit Ihrem neuen Freund auf, Robert Kotick. Sie wurden dafür verurteilt: Erlaubt man Männern eine neue Partnerschaft eher als Frauen? 
Definitiv, Männer daten häufiger und schneller wieder, über Frauen wird viel strenger gerichtet. Mich regt das auf, das ist Sexismus. Über mich wurde öffentlich harsch geurteilt, privat aber bekam ich Unterstützung, meine Schwiegereltern waren für mich da. Ich hatte nicht vor, noch mal zu daten, ich hatte ja den Menschen schon gefunden, mit dem ich mein Leben verbringen wollte. Es ist symptomatisch, dass es riesige Selbsthilfe-Abteilungen in Buchläden gibt, aber keine Hilf-anderen-Abteilungen. Zu dieser Hilfe gehört es auch zu sagen: Es ist okay, sich wieder mit Männern zu treffen, ich unterstütze dich, wenn du so weit bist! Du darfst sogar über den Tod lachen, wenn du willst!

 Waren Sie früher selbst unsicher im Umgang mit Trauernden?
Ja, ich habe so viel falsch gemacht. Ich dachte zum Beispiel: Wenn ich jemanden frage, wie es ihm geht, erinnere ich ihn daran, dass er Krebs hat. Das ist Unsinn, man kann keinen Krebskranken an den Krebs erinnern.

In "Lean In" haben Sie geschrieben, es sei für Frauen-Karrieren entscheidend, ihren Partner zu einem echten Partner zu machen. Dafür wurden Sie viel kritisiert, weil Sie dabei die Alleinerziehenden außer Acht ließen.
Mir tut es heute leid, dass ich das damals so geschrieben habe.

Jetzt sind Sie selbst alleinerziehend.
Eine Alleinerziehende mit viel Unterstützung und Ressourcen – die Mehrheit der Single Moms in den USA lebt in Armut. Selbst für mich, mit der Hilfe, die ich bekomme, ist das Leben allein mit den Kindern anspruchsvoll. Das war mir vorher nicht in dem Maße bewusst, aber das hat sich jetzt geändert.

brigitte-2 Das Interview erscheint in der BRIGITTE 14/2017 - ab 21.6.2017 am Kiosk

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