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Sexueller Missbrauch: Ein bis zwei Kinder pro Schulklasse sind betroffen

Kindesmissbrauch - Junge duckt sich vor Angst
© Twin Design / Shutterstock
Dr. Sabine Andresen hört Opfern sexuellen Missbrauchs zu – als Vorsitzende einer Kommission, die erreichen will, dass das Thema nicht mehr totgeschwiegen wird.

BRIGITTE: Fast jeder siebte Deutsche ist nach Studien in seiner Kindheit oder Jugend sexuell missbraucht worden. Ist Missbrauch ein Grundrisiko der Kindheit?

SABINE ANDRESEN: Das kann man so sehen. Europaweit gibt es rund 18 Millionen minderjährige Betroffene. Das heißt für Deutschland, dass ein bis zwei Kinder pro Schulklasse betroffen sind. Pädagogen haben also, auch wenn sie es nicht wissen, sehr häufig mit Kindern zu tun, die sexuelle Gewalt erlebt haben oder erleben.

Sind Lehrer darauf vorbereitet?

Schulen sind wichtige Anlaufstellen, aber die wenigsten Lehrkräfte verfügen über das nötige Wissen, in nur wenigen Schulen laufen systematische Präventionsprogramme. Doch nur bei richtiger Aufklärung verstehen betroffene Kinder: Wenn ich mich der Lehrerin anvertraue, dann weiß sie, was zu tun ist, sie erschreckt nicht.

Was verschreckt denn die Lehrer?

Viele fühlen sich unsicher; der Umgang mit sexuellem Missbrauch ist noch nicht regulärer Teil der pädagogischen Ausbildung. Wenn sie nicht professionell reagieren können, wollen manche lieber nichts davon wissen. Andere schieben es weg, weil sie es sich nicht vorstellen mögen - das ist bei Lehrern nicht anders als in der Bevölkerung generell.

Stimmt das gängige Bild, dass Kinder über Missbrauch lange schweigen?

Missbrauch ist eine Form von Gewalt, über die Betroffene oft erst spät im Leben sprechen, auch, weil die Gesellschaft lieber nicht richtig hinhören möchte. Nur wenigen, die versucht haben, sich als Kind anzuvertrauen, wurde geholfen, viel häufiger wurde ihnen nicht geglaubt oder das Geschehene bagatellisiert. Die Scham sitzt tief, denn die Strategie der Täter ist ja, dass sich das Kind mitschuldig fühlt. Es unterliegt dem Geheimniszwang. Das wirkt.

Vor acht Jahren machte das Thema durch die Skandale in Kirchen und Schulen Schlagzeilen. Hat sich danach etwas verbessert?

Es gibt mehr Kampagnen, auch in den Schulen, mehr Berichterstattung, das hilft. Aber es fehlen nach wie vor Strukturen, die Kinder und Jugendliche wirksam schützen. Sie brauchen Beratung im Alltag, in der Schule, der Kita, eine Anlaufperson - das gibt es zu wenig. Und es braucht generell eine andere Haltung Kindern und Jugendlichen gegenüber. Es muss viel selbstverständlicher sein, dass sie Rechte haben - auf gewaltfreie Erziehung, auf Schutz.

Als Vorsitzende der Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs werten Sie seit 2016 Erfahrungsberichte von Betroffenen aus. Rund 1000 Menschen sollen bis 2019 angehört werden. Was genau tut die Kommission?

Der Kern unserer Arbeit sind die vertraulichen Anhörungen, Gespräche mit heute meist erwachsenen Betroffenen. Zudem gibt es öffentliche Hearings, bisher zu Familie und sexualisierter Gewalt in der DDR und Mitte 2018 zu den Kirchen.


Wie laufen die vertraulichen Anhörungen ab?

Wir haben dafür in einem Hotel Räume gemietet, wir sitzen in einem großen Wohnzimmer, daneben ist ein weiteres Zimmer, falls sich die oder der Betroffene zurückziehen möchte. Manche bringen einen Freund oder Angehörigen mit. Es ist auch immer jemand da, der psychologische Hilfe leisten kann.

Was sind die Motive der Betroffenen, sich ihrem Leid noch mal vor einer Kommission zu stellen?

Sie wollen ihrer Geschichte Sinn geben, einen Beitrag leisten, damit Kinder künftig besser geschützt werden. Dass es eine unabhängige Kommission gibt, die sich für sie interessiert, wird von vielen als eine Art Anerkennung wahrgenommen.

Sie sagen, bei Missbrauch gibt es ein System aus Methode, Mitwissern und passiven Unterstützern. Wie schätzen Sie die Rolle der Mütter ein?

Ganz unterschiedlich. Viele sahen und sehen weg. Einige Betroffene berichten aber auch von Müttern, die sehr schnell gehandelt haben. Manche Mütter sind da in größter Not. Kommt es zur Trennung, verschweigen sie den Missbrauch oft und zeigen ihren Mann nicht an, weil sie dem Kind kein Strafverfahren zumuten wollen, so entgehen die Täter der Strafe.

Nach Schätzungen sind zehn bis 20 Prozent der Täter weiblich. Eine unglaubliche Zahl ...

Ja, wir wissen wenig darüber; weil es so schwer vorstellbar ist, hatten wir es hier lange mit einer Tabuisierung zu tun, was es für die Betroffenen noch mal schwerer macht, darüber zu sprechen. In den Anhörungen gab es solche Fälle, gerade im Bereich von ritualisiertem oder organisiertem Missbrauch.

Sollte man sexualisierte Handlungen stärker kriminalisieren? In Amerika gilt schon als verdächtig, wenn ein Mann ein Kind umarmt.

Eine gute Prävention kann keinen hysterischen Umgang gebrauchen. Kinder und Jugendliche brauchen vertrauensvolle Beziehungen und respektierte Grenzen. Ein Generalverdacht gegen Erwachsene wird keinen Täter, der sexualisierte Gewalt strategisch plant, abhalten.

Was also braucht es?

Es braucht vor allem Erwachsene, die Kindern und Jugendlichen zuhören, glauben und handeln. Seitens der Gesellschaft ist eine klare Haltung gegenüber sexueller Gewalt nötig. Es braucht das Wissen, wie im Verdachtsfall zu handeln ist. Es braucht eine flächendeckende Beratungs- und Unterstützungsstruktur. Und für Betroffene braucht es ein Signal der Politik, dass sie auf allen Ebenen anerkannt werden, da warten viele zu lang, auch bei der Opferentschädigung. 

Prof. Dr. Sabine Andresen lehrt Erziehungswissenschaften an der Universität Frankfurt/ Main. Ihr Schwerpunkt ist die Kindheits- und Familienforschung. Seit 2016 ist sie Vorsitzende der per Bundestagsbeschluss eingesetzten Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs.
Mehr Infos:www.aufarbeitungskommission.de 
Infotelefon: 08 00 403 00 40

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