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Julia von Weiler "Digitale Medien wirken wie ein Brandbeschleuniger"

Julia von Weiler: Sexuelle Übergriffe gegen Kinder verhindern
Julia von Weiler (52) setzt sich unermüdlich für das Wohl von Kinder ein
© privat
Es ist ihre Lebensaufgabe: Julia von Weiler (52) engagiert sich seit 30 Jahren gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern. Obwohl das oft ein Kampf gegen Windmühlen ist, gibt sie nie auf.

Soziale Medien wie Tiktok oder Instagram sind die digitalen Spielplätze unserer Kinder. Leider bergen diese mehr und ganz andere Risiken als Rutsche und Schaukel. Als langjährige Vorständin von "Innocence in Danger e.V." kennt Julia von Weiler die Gefahren im Netz genau. Mit ihrer Organisation engagiert sie sich gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern, insbesondere gegen die Verbreitung von Kinderpornografie im Netz. Doch das Internet bringt noch weitere Gefahren mit sich: Beim "Cybergrooming" etwa kontaktieren Pädokriminelle gezielt ihre Opfer im Netz, bei der "Sharegewalt" werden intime Inhalte ungefragt digital verbreitet, beim "Livestream-Missbrauch" Kinder geschickt manipuliert. Laut einer neuen globalen Studie ist mehr als die Hälfte der Jugendlichen im Netz schon sexuell belästigt worden.

BRIGITTE.de: Eine globale Studie* kam zu dem Ergebnis, dass das Ausmaß von sexuellem Missbrauch an Kindern im Netz rasant wächst. Die Rede ist von einer globalen Krise.

Julia von Weiler: Das Problem hat längst pandemische Ausmaße angenommen. Gesellschaft und Politik haben lange die Augen davor verschlossen und hinken hinterher. Weder Personal noch Ausstattung der Strafverfolgungsbehörden sind ausreichend, um diesem Wahnsinn zu begegnen. Und wenn es um Filter geht, etwa um Cybergrooming zu überwachen, wird sofort die Privatsphärendebatte losgetreten. Diese Diskurse dauern sehr lange, und Kriminelle müssen diese Diskurse nicht führen. Sie haben sowieso immer einen Vorteil, weil sie sich nicht an Gesetze halten.

Kinder kommen im Netz ungewollt in Kontakt mit Pornografie, sie werden von Pädokriminellen sexuell belästigt, kinderpornografisches Material wird massenhaft für das Netz produziert. Welche Gefahren gibt es noch?

Die digitalen Medien haben das Phänomen sexualisierter Gewalt fundamental verändert, sie wirken wie ein Brandbeschleuniger. Täter:innen nutzen immer die ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, und das bedeutet, dass sie auf die Kommunikation im digitalen Raum zurückgreifen. Mit dem Smartphone haben sie zu jeder Zeit direkten, unbeobachteten und ungestörten Kontakt mit ihrem Opfer. Das haben sie nirgendwo sonst. Das Smartphone bedeutet: Ich bin immer bei dir, egal was du machst, egal wohin du gehst, egal woran du denkst. Ich kann mich zu jeder Zeit einmischen. Das gilt übrigens auch für Täter:innen im familiären Umfeld.

Die Kinder werden ihre Peiniger nicht mehr los.

Es bedeutet für die Betroffenen, dass es keine Besinnungspausen und keine Möglichkeit mehr gibt, sich zu sortieren und Abstand zu gewinnen. Auch Täter:innen, die ein Kind im digitalen Raum kennenlernen, haben das Ziel, so schnell wie möglich die direkte Kommunikation aufzumachen, dann haben sie es am Haken. In England hat man festgestellt, dass im vergangenen Jahr 44 Prozent aller Missbrauchsdarstellungen "selbstgeneriert" waren, 77 Prozent mehr als im Vorjahr. Das ist gigantisch.

Wie muss man sich das vorstellen?

Ein:e Täter:in manipuliert online ein Kind, sie treffen sich bei Skype oder Facetime, und er oder sie gibt Regieanweisungen, wie es sich auszuziehen, sich zu berühren oder wie es sich Gegenstände in den Körper einzuführen hat. Das heißt, der oder die Täter:in missbraucht das Kind, ohne sich psychisch in einem Raum mit ihm zu befinden, und generiert zugleich Missbrauchsdarstellungen. 

Die Täter:innen zeichnen auf und verbreiten das Material potenziell weiter?

Ja, genau.

So ein "Livestream-Missbrauch" findet fast immer im eigenen Kinderzimmer statt, quasi unter den Augen der Eltern. Was können die tun?

Wenn die Familie zu Hause ist, denken Eltern, alles ist gut. Aber das gilt nicht mehr: Beim Livestream-Missbrauch dringt der Täter von außen in ihr Zuhause ein. Eltern, die ihrem Kind so ein Gerät kaufen, sollten sich klar sein, dass sie sich erst mal mit ihm in diesem Raum bewegen und gemeinsam Regeln festlegen müssen. Je kleiner die Kinder sind, desto mehr Kontrolle ist nötig. So macht man es ja auch im Straßenverkehr: Wenn die Kinder noch winzig sind, dürfen sie eben nicht allein mit dem Fahrrad zum Freund fahren, sondern man begleitet sie. Je älter sie werden, desto mehr Verhandlungen sind nötig, am besten, man schließt ein Digitalabkommen mit festen Regeln. Die Eltern müssen sich auch immer wieder informieren. Das ist ein riesiger Raum, in dem das Kind sich bewegt, und da passieren tolle, aber auch verstörende Dinge.

Dass Eltern solche Geräte kaufen, liegt vor allem daran, dass sie das Gefühl haben, ihr Kind würde sonst zum Außenseiter.

Wir als Gesellschaft tun ja immer so, als wollten Kinder und Jugendliche in den sozialen Medien unterwegs sein. Aber wenn jeder Sportverein sich über Facebook- oder Whatsapp-Gruppen organisiert, lassen wir ihnen keine wirkliche Wahl. Wenn sie da nicht dabei sind, sind sie raus und zwar richtig. Die Quengelware an der Kasse ist ein gutes Beispiel dafür, wie Gesellschaft und Politik sich den Unternehmen beugen. Doch während Sie als Eltern an der Kasse immer noch relativ autark entscheiden, 'Nee, das kriegst du jetzt nicht', ist das bei digitalen Medien komplizierter, weil Sie wirklich das Gefühl haben: Dann ist mein Kind ein sozialer Außenseiter, und das will ich nicht.

2019 haben Sie ein Smartphone-Verbot für unter 14-Jährige gefordert. Viele Eltern fanden das gut, doch die Politik hat nicht mitgezogen. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey sagte, sie wolle lieber "sichere Kommunikationsräume" für Kinder im Netz. Aber die gibt es ja nach wie vor nicht.

Als ich sagte, dass man über solch ein Verbot nachdenken müsse, gab es einen Aufschrei in der Politik. Das fand ich bemerkenswert. Ich wollte damit ja nur einen Impuls setzen, denn es kann doch nicht angehen, dass wir alle dasitzen, Däumchen drehen und sagen: 'Ist halt so'. Aber keiner traut sich, sich mit Facebook oder Google anzulegen, auch nicht die Politik. Die Tech-Unternehmen sind wahnsinnig groß und mächtig und machen, was sie wollen. Die bemühen sich zwar auch, die Probleme anzugehen, aber am Ende sind es Wirtschaftsunternehmen, die Interesse am Geldverdienen haben und nicht an der psychischen Gesundheit ihrer Nutzer:innen. Das Verrückte ist, dass wir im Netz ein real stattfindendes Megaexperiment mit unseren Kindern und Jugendlichen zulassen. Das Internet wurde ja ursprünglich für die Wissenschaft entwickelt, von Erwachsenen für Erwachsene, und so sind auch die Strukturen.

Man hat nicht den Eindruck, dass das Thema in der Politik Priorität hat. Wie kann es sein, dass Kinder im Netz nicht geschützt werden?

Politisch sind ja immer nur die Themen interessant, die man in einer Legislatur nennenswert bekämpfen kann. Dieses Thema ist unbequem und unsexy, es ist eine Daueraufgabe, die nicht weggehen wird. Aber wir tun immer so, als wäre das Problem ein reines Internetphänomen. Das ist Quatsch – sowohl die Menschen, die Missbrauchsdarstellungen konsumieren, als auch die Menschen, die die Kinder in diesen Darstellungen missbrauchen, und die Kinder selbst, die leben ja irgendwo. Das sind unsere Nachbarn, sie gehen mit unseren Kindern in die Schule, das ist der Typ am Eingang der Kleingartenlaube. Es ist nicht nur ein Problem der Strafverfolgungsbehörden, es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem.

Müssen wir alle achtsamer werden?

Alle Menschen, die mit Kindern zu tun haben, müssen fit gemacht werden für dieses Thema. In einer Schule muss ich nicht nur besser darin werden, ein potenziell gefährdetes Kind zu erkennen, sondern auch potenzielle Gefährder:innen. Laut WHO sind mindestens zwei Kinder pro Klasse von sexualisierter Gewalt betroffen. Das heißt für Lehrer:innen, sie kennen betroffene Kinder, und aller Voraussicht nach kennen sie auch die Täter:innen, die ja meistens aus dem Nahfeld kommen. Auch in den Missbrauchsdarstellungen im Netz kommt das Gros der Täter:innen aus der Verwandtschaft, der Familie, dem Freundeskreis oder dem Sportverein. Wir müssen auf allen Ebenen agieren: Menschen müssen geschult werden, die Tech-Unternehmen müssen agieren, die Politik muss dafür verbindliche gesetzliche Rahmenbedingungen schaffen, sie muss die Strafverfolgungsmöglichkeiten verbessern und Staatsanwaltschaften und Gerichte besser ausstatten. Nicht selten muss unausgewertete Technologie zurückgegeben werden, weil Fristen verstrichen sind.

Was konnten Sie selbst bisher mit Ihrem Verein "Innocence in Danger" erreichen?

Dass man begriffen hat, dass dieses Phänomen ein ernstzunehmendes Problem ist. Wir haben zur Aufklärung von Politik und Gesellschaft beigetragen und haben Anteil daran, dass ein Bewusstsein dafür entstanden ist. Und wir entwickeln praktische Programme, die Menschen befähigen, mit dem Problem umzugehen und aufgeklärter zu sein. Ich weiß nicht, wie viele Zigtausend Kinder und Fachkräfte wir damit schon erreicht haben. Erst kürzlich rief eine Lehrerin an, die sagte: 'Wir sind so froh, wir haben neulich das Programm mit Ihnen gemacht, und jetzt hat sich ein Mädchen an uns gewandt, und wir waren viel sicherer in unserem Vorgehen.'

Sie beschäftigen sich schon seit 30 Jahren mit dem Thema. Wie kam es dazu?

Totaler Zufall. Ich habe in New York Psychologie studiert und versäumte es, mich um ein Praktikum zu kümmern. Dann brauchte ich ganz schnell einen Platz und landete zufällig beim Children's Safety Project, das mit von sexualisierter Gewalt betroffenen Kindern arbeitet. Aus drei Monaten Praktikum wurden eineinhalb Jahre. Und im Flieger nach Hause lernte ich einen Professor kennen, dessen Schwester im Kreis Warendorf die erste Wohngruppe für missbrauchte Mädchen eröffnet hat. Da habe ich dann weitergemacht. Ich würde mal sagen, das Thema hat mich gefunden – und wir sind noch lange nicht fertig miteinander.

Lesetipp: Julia von Weiler ist auch Autorin des Buches "Im Netz: Kinder vor sexueller Gewalt schützen" (Herder Spektrum, 4,96 Euro).

*Die weltweite Studie "Global Threat Assessment Report 2021" wurde von der "WeProtect Global Alliance" in Auftrag gegeben, an der 98 Regierungen und zahlreiche Unternehmen und Organisationen beteiligt sind. Mehr als 5000 Jugendliche aus 54 Ländern wurden zu ihren Erfahrungen im Netz befragt.

Brigitte

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