Anzeige

Kopfkarussell Wie schnell aus einem männlichen Opfer ein "Schlappschwanz" wird

Sexistische Doppelmoral: Wie schnell aus einem männlichen Opfer ein "Schlappschwanz" wird
Wir leben in einer Gesellschaft, die sexistische Doppelmoral betreibt.
© khosrork / Adobe Stock
Zwei 18-Jährige rufen die Polizei, weil die Mitfahrerinnen auf der Rückbank Sex haben. Der Fall zeigt deutlich, wie alle Geschlechter unter sexistischer Doppelmoral leiden – und wie schnell ein männliches Opfer als Witzfigur dargestellt wird.

"Ein unmissverständliches sexuelles Angebot hat einen Polizeieinsatz an der A6 im Landkreis Ansbach ausgelöst", heißt es auf der Seite eines Nachrichtenmediums. Damit wird ein Fall eingeleitet, bei dem sich – mal wieder – sehr deutlich zeigt, wo wir auch im Jahr 2022 beim Thema toxische Genderrollen stehen. Es zeigt, mit was für einer Doppelmoral sexuell übergriffiges Verhalten, Exhibitionismus und der Umgang mit Opfern behandelt werden. Dabei ging es oberflächlich betrachtet doch eigentlich nur um eine Mitfahrgelegenheit.

Was an der A6 im Landkreis Ansbach passiert ist

Der Verlauf der Ereignisse gestaltete sich wie folgt: Zwei 18-jährige Männer sprachen am Sonntagabend, den 19. Juni 2022, gegen 10 Uhr abends an der Tank- und Rastanlage "Frankenhöhe-Nord" an der A6 eine Polizeistreife der Ansbacher Verkehrspolizei an. Die beiden hatten über eine Mitfahrzentrale zwei Frauen im Alter von 28 und 26 Jahren mitgenommen. 

Während der Fahrt auf der Autobahn hatten sich die beiden Frauen auf der Rückbank betrunken und fingen an, Sex miteinander zu haben. Als sie die beiden jungen Männer einluden an den "Sexspielen teilzunehmen", hielt der Fahrer an der besagten Anlage und die beiden Männer wandten sich hilfesuchend an die Polizei. Die beschrieben die Situation derart, dass das so von manchen Medien bezeichnete eindeutige sexuelle Angebot "das Männer-Duo offenbar überfordert" hätte.

Was dieser Fall über uns als Gesellschaft aussagt

Schaut man sich die Berichterstattung über den Fall an, kann man wirklich nur den Kopf schütteln. Fangen wir mit dem einleitenden Satz zu Beginn dieses Artikels an: Können wir bitte in so einem Fall von einer sexuell übergriffigen Handlung sprechen und nicht von einem "unmissverständlichen sexuellen Angebot"? Die unsägliche Doppelmoral dahinter zeigt sich doch wohl sehr deutlich, wenn wir uns die Freiheit nehmen und die Geschlechter in diesem Fall austauschen. 

Würden zwei junge, aber immer noch bedeutend ältere Männer auf der Rückbank Sex haben und die beiden 18-jährigen Frauen auf den Vordersitzen dazu "einladen", an den "Sexspielen teilzunehmen", wie viele Medien würden dann noch von einem "Sechser im Lotto" schreiben? Würden sich die (zurecht) verstörten Frauen dann an die Polizei wenden, würde man dann im Bericht von einem "überforderten Frauen-Duo" lesen? Würde die Geschichte witzelnd als "wertvoller Eintrag" in das "Skurrilitäten-Kabinett an Mitfahrgelegenheit" eingehen, wie manche Medien es beschreiben? Man darf es bezweifeln.

Rechtlich folgt aus dem Ganzen – nichts

Die Krönung des Ganzen stellt das Ende der Geschichte dar: Denn ja, gegen eine der beiden Frauen werden rechtliche Schritte eingeleitet. Doch nicht etwa, weil sie zwei gerade erst volljährig gewordene de-facto Kinder zum Sex drängen wollte, sondern weil die Polizei bei der Durchsuchung des Autos 1 Gramm Haschisch im Besitz der einen Frau gefunden hat. Kein Wort wird darüber verloren, dass es sich hierbei um eine eindeutige sexuelle Grenzüberschreitung gehandelt hat, die rechtlich verfolgt werden müsse – schlicht, weil sich rechtlich nicht viel machen lässt, schaut man sich die Paragrafen zu dem Thema einmal genauer an.

Bei diesem Fall handelt es sich doch eindeutig um sexuelle Belästigung – oder nicht? Laut §184i des Strafgesetzbuchs (StGB) redet man juristisch nur von sexueller Belästigung, wenn jemand "eine andere Person in sexuell bestimmter Weise körperlich berührt und dadurch belästigt". Man könnte nicht einmal einen Strafantrag wegen "Exhibitionistischer Handlungen" stellen – denn der dazugehörige §183 I richtet sich laut StGB ausschließlich (!) an Männer. Hier steht: "Ein Mann, der eine andere Person durch eine exhibitionistische Handlung belästigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft." Spannend, sind wir nicht – wenn schon nicht gesellschaftlich, dann doch bitte vor dem Gesetz – eigentlich alle gleich? Das Grundgesetz scheint hier, überspitzt gesagt, nicht zu greifen.

Das Recht ist wandelbar – doch lässt der Gesellschaft immer erst den Vortritt

Sicherlich, Justitia, Göttin der Gerechtigkeit und des Rechts, gehört nicht zu den Flottesten: Bevor sich juristisch etwas anpasst, muss es gesellschaftlich schon in Fleisch und Blut übergegangen sein. Das Transsexuellengesetz wurde und wird beispielsweise ja noch immer angepasst und ggf. bald ganz abgeschafft, weil man als Gesellschaft mit der Zeit eben doch festgestellt hat, dass trans Menschen – oh, welch Überraschung – immer noch Menschen sind und wie solche auch per Gesetz behandelt werden wollen und unbedingt müssen.

Gendervorstellungen gehen auch heute noch gerne in eine Richtung, in der der Mann ein sexwütiges Monstrum ist, das nur darauf wartet, die Frau (und nur die Frau, wir bleiben bitte auch gleich heteronormativ) zu begatten oder sich und sein Gemächt als eine Art "Einladung" zu präsentieren. Und die Frau? Die ist das passive Objekt in diesen Fällen, selten die Handelnde - so jedenfalls die gesellschaftliche Grundstimmung, schauen wir uns die amüsierte, überraschte Reaktion auf den Fall mit den zwei jungen Männern und ihrer "sexuell aktiven" Mitfahrgelegenheit an.

Können wir bitte anders über solche Themen sprechen?

Es ist zu bezweifeln, dass den beiden jungen Männern von ihren Freund:innen (oder doch zumindest von ihrem sozialen Umfeld) für dieses Erlebnis auf die Schultern geklopft wird. Da wird wohl kaum jemand sagen: "Super, dass ihr eine klare Grenze gezogen habt!" oder "Das war unfassbar übergriffig von den beiden Frauen." Wahrscheinlicher ist, dass man sie als "Schlappschwanz" oder ähnliches verunglimpfen wird – das gleiche Bild, das auch viele Medien und sogar der Polizeibericht malten. Welcher "richtige Mann" verzichtet schon auf die Einladung einer Frau zum Sex?

Wir müssen es doch besser machen, wir sind im Jahr 2022, Gleichberechtigung wird von allen Seiten gefordert. Doch es braucht selten mehr als eine Situation wie diese, die Gender-Klischees herausfordert, gar mit ihnen bricht – und schon wird aus Männern, die in dieser Situation nichts anderes als Opfer waren, eine Witzfigur.

Verwendete Quellen: rtl.de, sueddeutsche.de, infranken.de, allgaeuer-zeitung.de, jura-online.de

Brigitte

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel