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Sehnsucht nach Glück: Was kostet ein gutes Leben?

Was kostet Glück? Geldscheine
© Stanislav71 / Shutterstock
Die Gleichung viel Geld = viel Glück haben Wissenschaftler schon lange widerlegt. Sicher, theoretisch wissen wir das. Praktisch jagen wir trotzdem einem höheren Lebensstandard hinterher – Designerschuhen, neuen Autos und anderem, von dem wir uns schnelle Befriedigung erhoffen. Warum verwenden wir unsere Zeit nicht für Dinge, die uns wirklich glücklich machen?

Die Dinge, die zählen: Wärme und Lebensfreude

Der Moment, an dem mich das Glück überholte, kam an einem Freitagabend in einer unwirtlichen Hochhaussiedlung. Ich wollte eigentlich nur meine Tochter von einem Kindergeburtstag abholen, endete stattdessen jedoch in der Küche der Gastgeber mit billigem Sekt, einer weinenden Radiologin und neuen Erkenntnissen.

Und das kam so: Die Schule, auf die meine Tochter geht, liegt zwischen jener Hochhaussiedlung und einer wohlsituierten Villengegend, dementsprechend ist das soziale Spektrum ihres Freundeskreises. Als ich zusammen mit einer anderen Mutter in der Tür stand, um die Kinder abzuholen, donnerte uns aus dem Wohnzimmer Helene Fischer entgegen, darin wirbelte der Vater abwechselnd Frau und Kinder übers Parkett. Wir standen, peinlich berührt, zwischen Schuhhaufen in dem winzigen Flur und beobachteten das Schauspiel.

Als alle Tänzer vor Lachen zu Boden sanken, liefen der Mutter neben mir plötzlich Tränen über die Wangen. Es sei doch verrückt, schluchzte sie etwas später am Küchentisch, sie hätten alles – Geld, tolle Karrieren, der Mann Vorstand, sie mit eigener Praxis, drei Kinder, einen beheizten Pool, und doch fühle sich alles nicht gut an. Und hier, in dieser kleinen Wohnung, wäre so viel Unbeschwertheit und Wärme, dass sie jetzt leider weinen müsse und dringend Alkohol brauche.

Wir messen materiellen Gütern eine viel zu große Bedeutung bei - so wie unsere Eltern es uns vorgelebt haben

Es wurde ein langer Abend, der mich noch länger beschäftigte. Denn in vielen Dingen, die sich da zwischen Sekt und Tränen Bahn brachen, konnte ich mich wiederfinden.

Zwar haben wir keine Villa und keinen Pool, aber wenn ich zehn Jahre zurückblicke, haben mein Mann und ich viel geschafft – und viel angeschafft: ein Haus, ein Auto, Designerlampen, einen Mähroboter. Wir sind heute definitiv reicher – aber sind wir auch glücklicher? Oder war das Leben früher vielleicht sogar einfacher, unbeschwerter und schöner?

Der Zusammenhang zwischen Wohlstand und Zufriedenheit beschäftigt Forscher seit Jahrzehnten. Bis zu den 70er-Jahren war man fest von der Formel "viel hilft viel" überzeugt. Je höher das Einkommen, desto höher die Lebenszufriedenheit. In der Nachkriegszeit hatten viele eine regelrechte Wohlstandsexplosion erlebt, hatten Waschmaschinen, Kühlschränke und Fernseher gekauft, was das Leben spürbar angenehmer machte. Die vermeintlich logische Schlussfolgerung: Die Anhäufung von materiellen Gütern führt direkt zum Glück.

Doch irgendwann kamen die Zweifel. Als der US-Ökonom Richard Easterlin 1974 eine Langzeitstudie veröffentlichte, die ergab, dass es US-Amerikanern, deren Einkommen in den letzten 25 Jahren deutlich gestiegen ist, subjektiv nicht besser geht als vorher, legte er den Grundstein für eine neue Wissenschaft: die heutige Glücksforschung. Mit steigendem Einkommen, erklärte er, steigen auch die Ansprüche – eine "hedonistische Tretmühle".

65.000 Euro - ab diesem Jahreseinkommen lässt sich das Glücksempfinden nicht mehr steigern

Rund 40 Jahre später verkündeten der Psychologe Daniel Kahnemann und der US-Ökonom Angus Deaton dann, sie hätten eine finanzielle Glücks-Obergrenze gefunden. Sie liege bei einem Jahreseinkommen von rund 65.000 Euro.

Bis zu diesem Betrag könne das Glücksempfinden steigen. Sind die Grundbedürfnisse jedoch einmal gedeckt, erhöhe mehr Wohlstand das Wohlbefinden nicht. "Diesen Zustand der Sättigung haben wir in Deutschland wohl schon in den 80er-Jahren erreicht", erklärt Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Karlheinz Ruckriegel von der TH Nürnberg, der sich seit 15 Jahren mit interdisziplinärer Glücksforschung beschäftigt. Studien zufolge sei unser Lebensstandard sogar nur zu zehn Prozent an unserem Glücksempfinden beteiligt.

Dass wir dem Wohlstand dennoch so viel Gewicht beimessen, liegt auch an unseren Eltern. Sie haben es uns vorgelebt und uns entsprechend erzogen. Zudem mussten die Babyboomer, um in der Masse voranzukommen, leben, um zu arbeiten. Dass das für Gesundheit und Zufriedenheit nicht gerade ideal ist, wurde viel zu spät gemerkt.

Geld ist Mittel zum Zweck - um Grundbedürfnisse und einen Platz in der Gesellschaft zu sichern

Denn für Zufriedenheit sind materielle Werte nur Mittel zum Zweck. Der Soziologe Jan Delhey von der Universität Magdeburg hat drei Faktoren ausgemacht, die am Glück beteiligt sind: Haben, Lieben, Sein.

Haben, weil finanzielle Ressourcen Sicherheit garantieren. Lieben, weil wir nun mal soziale Wesen sind – und Familie, Partnerschaft, Freunde unser größtes Kapital. Und Sein, weil kaum etwas so befriedigt wie Selbstverwirklichung, sprich: eine erfüllende, sinnstiftende Tätigkeit. Das kann ein Beruf sein, ein Hobby oder ein Ehrenamt – wobei Letzteres sich Studien zufolge zur Glückssteigerung sogar besonders eignet. "Die Kunst", so Ruckriegel, "besteht darin, die einzelnen Faktoren auszubalancieren. Wenn ich viel Geld verdiene, muss ich dafür meist auch viel arbeiten – schon bleibt weniger Zeit für Familie, Freunde und Hobbys."

Er wünschte, sagte der Vater des Geburtstagskinds an jenem Abend, er könnte mit den Kindern mal so viel Achter- und Geisterbahn fahren, bis ihnen schwindelig würde. Aber das sei nicht drin beim Gehalt eines Busfahrers und einer Altenpflegerin. Sie wünschte, erklärte die Radiologin, die Familie würde überhaupt mal wieder irgendwas zusammen unternehmen. Aber wenn ihr Mann mal nicht auf Geschäftsreise sei, wäre sie garantiert auf einem Kongress.

Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, würde ich versuchen, beim nächsten Mal mehr Fehler zu machen.

"Unser Grundproblem heute ist nicht der Mangel an Materiellem, sondern an Zeit", bestätigt Volkswirt Ruckriegel. Aus ökonomischer Sicht reduziere sich die Glückssuche demnach auf eine simple Frage: Wie setze ich meinen Input (Zeit) ein, um einen größtmöglichen Output (Glück) zu erzielen? Denn nur dann steht am Ende der Bilanz ein gelungenes Leben.

Was das ist, hat niemand besser ausgedrückt als die 95-Jährige, die dem Schriftsteller Jorge Luis Borges am Ende ihres Lebens erzählte: "Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, würde ich versuchen, beim nächsten Mal mehr Fehler zu machen. Ich würde nicht mehr so perfekt sein, sondern viel entspannter. (...) Ich wäre verrückter und weniger auf Hygiene bedacht. Ich würde mehr Chancen ergreifen, mehr Berge besteigen, in mehr Flüssen schwimmen. (...) Ich würde mehr Eiskrem und weniger Bohnen essen."

Die Wissenschaft bestätigt diese wehmütige Rückschau. "Im Wesentlichen hängt das Gefühl, unser Leben sei gelungen, davon ab, wie wir Erlebnisse und Errungenschaften darin bewerten. Kann ich eine positive Bilanz ziehen, stellt sich das, was wir Lebenszufriedenheit nennen, ein", so Ruckriegel. Daher sei es wichtig, sich realistische und sinnstiftende Ziele zu setzen. "Sie dürfen ruhig ehrgeizig, aber sie müssen erreichbar sein, sonst droht Frustration."

Jeder Mensch entwickelt im Laufe seines Lebens ein bestimmtes Glücksniveau

Und eigentlich wissen wir das ja auch: Das Gefühl, etwas geschafft zu haben, befriedigt langfristig mehr als jeder Lottogewinn. Aktuelle Ereignisse werden ohnehin massiv überschätzt. Eine Trennung, eine Beförderung, selbst eine unheilbare Krankheit – all das wirkt sich zwar auf unser Wohlbefinden aus, aber meist nur kurzfristig. Nach einer Weile pendelt sich der Gemütszustand wieder auf altem Niveau ein. Denn jeder Mensch entwickelt im Laufe seines Lebens ein bestimmtes Glücksniveau, das mehr oder weniger stabil bleibt. Diese Balance passt sich nahezu jeder Veränderung der Lebensumstände an.

Bestes Beispiel: die Bahnradfahrerin Kristina Vogel, die seit einem Unfall querschnittsgelähmt ist. Trotz schwerer Momente blickt sie nach dem Unfall fast so positiv ins Leben wie vorher. Sie schmiedet Pläne, setzt sich Ziele und freut sich, wenn sie sie erreicht. Studien aus der Zwillingsforschung belegen, dass das individuelle Glückserleben etwa zur Hälfte durch unsere Gene festgelegt ist. Man hat inzwischen sogar bestimmte Gen-Varianten gefunden, die tendenziell eher unglücklich machen. "Das heißt aber nicht, dass wir der Biologie komplett ausgeliefert sind", beruhigt Ruckriegel. Ob ich mich am oberen oder unteren Ende des Glücksspektrums bewege, kann ich beeinflussen. Denn: "Unsere Gefühlsprogramme sind in etwa so alt wie das limbische System: 60 Millionen Jahre – also nicht mehr ganz up to date", so der Wissenschaftler.

Evolutionsmäßig wurde unser Gehirn darauf trainiert, besonders auf schlechte Nachrichten zu achten, Positives nehmen wir viel zu wenig wahr. Das mag früher Sinn gemacht haben, denn der gut gelaunte Leichtsinnige wurde eher vom Säbelzahntiger erlegt als der Misstrauische. Heute macht dieses extreme Verhalten aber natürlich keinen Sinn mehr.

Ein Dankbarkeits-Tagebuch schreiben: Was ist gut gelaufen, was besser als erwartet?

Damit wir die Welt realistisch sehen, gibt es verschiedene Ansätze. Ruckriegels Lieblingsmethode ist ein Dankbarkeits-Tagebuch. "Schreiben Sie über zwei oder drei Monate zwei- bis dreimal pro Woche kleine Stichwörter auf: Was ist gut gelaufen, was besser als erwartet? Wofür bin ich dankbar? Studien belegen, dass Menschen die Welt hinterher positiver wahrnehmen."

Mittlerweile bieten auch die ersten Krankenkasse Kurse zu diesen neuen Ansätzen an. Ich habe die Radiologin, die Altenpflegerin und den Busfahrer übrigens für nächste Woche zum Grillen eingeladen, denn Freunde kann man nie genug haben, weiß ich jetzt. Der Mann der Radiologin hat leider abgesagt. Er ist auf Geschäftsreise.

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BRIGITTE WOMAN 06/2019

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