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Diskussion über Sterbehilfe: Hier erzählt eine Tochter, wie sie ihre Eltern in den Tod begleitete

Sterbehilfe
Die Schweizerin Sonja Grob, 58, begleitete vor 15 Jahren ihre Eltern in den freiwilligen Tod. Anders als in Deutschland ist Sterbehilfe in der Schweiz legal.
© PEPPERSMINT / Shutterstock
Deutschland diskutiert über Sterbehilfe. Der Bundesverfassungsgericht hat jetzt entschieden: "Geschäftsmäßige Sterbehilfe" ist in Deutschland nicht länger verboten. Hier erzählt eine Tochter, wie sie ihren Eltern in der Schweiz den Tod ermöglichte,

Komisch, den Tod in Gestalt einer Person kommen zu sehen. Handtasche, Pagenkopf, sommerliche Bluse. Ich holte die Frau für ein Vorgespräch am Bahnsteig ab. Für mich war es merkwürdig, jemanden willkommen zu heißen und ihn doch eigentlich am liebsten gleich wieder wegschicken zu wollen. Wie löst man das? Mit Smalltalk. Wir saßen im Auto und plauderten. Das Wetter, die Bahnfahrt, die Züge haben in letzter Zeit so oft Verspätung. Vor allem aber löst man es, indem man sich bewusst macht, warum man tut, was man tut.

Meine Eltern warteten auf uns. Mir fiel auf, dass Paps sich umgezogen hatte, ein Pyjama aus Seide. Mama hatte sich die Lippen geschminkt. So waren sie, meine Eltern: Haltung bewahren, immer. Hätte das Gespräch mit der Sterbehelferin nicht im Schlafzimmer stattgefunden, hätte man meinen können, es gehe um den Abschluss einer Versicherung. Sachlich wurden Beweggründe, Abläufe und Wirkungsweisen erklärt. Und aufgenommen.

Sie durften nicht zusammengehen - ein Schlag ins Gesicht

Dann sagte die Frau: "Ich darf Sie nicht gemeinsam gehen lassen." Drei Tage müssten dazwischen liegen. So wolle es das Gesetz. Worte wie ein Schlag ins Gesicht für meine Eltern. Trotzdem erinnere ich sie als stimmig, die Tage, bis es dann am Donnerstag drauf so weit sein würde. Paps hatte beschlossen, zuerst zu gehen. Die Entscheidung, meinen Eltern beim Sterben zu helfen, hatte eine lange Vorgeschichte.

Mama litt unter einem Lungenemphysem. War oft panisch, wenn ihre Atmung wieder schlechter geworden war. Aber dass sie offen über ihre Sorgen sprach, bestätigte meine Hoffnung: Wir stehen das zusammen durch, irgendwie. Vater erkrankte vier Jahre nach ihr. Die Diagnose Lungenkrebs war ein Schock. Paps, dieser stolze, sportliche Mann. Der Mutter, seit sie krank war, so rührend gepflegt und umsorgt hatte. Ich werde sie nie vergessen, die Wochen nach Vaters Tumor-OP, die meine Eltern zusammen in einer Höhenklinik verbrachten. Auf sonnigen Terrassen, in Decken gehüllt.

Es war bewegend, noch mal so deutlich zu fühlen, was diese Liebe ausmachte. Meine Mutter war Engländerin, mein Vater ein Schweizer Geschäftsmann, viel unterwegs. 21 war sie, als sie ihn in einem Tanzlokal in Manchester kennen lernte. Und alles für ihn aufgab: Die Heimat. Und die Selbständigkeit. Sie waren ein gutes Paar und blieben es, ihr Leben lang. Mir ist nie eine glücklichere Beziehung begegnet. Aber eben auch keine symbiotischere. Und mit der Freude, meine Eltern so innig zu sehen, kam die Angst: Was, wenn dann einer ohne den anderen wäre? Ich ahnte nicht, wie rasch diese Frage näher rücken würde. Die Ärzte hatten uns zunächst Hoffnung gemacht. Aber der Krebs breitete sich explosionsartig im Körper meines Vaters aus. Selbst Morphium kam irgendwann nicht mehr gegen die Schmerzen an.

Ich dachte: Man kann die eigenen Eltern doch nicht einfach aufgeben.

Schon früh, als sie noch vollkommen fit waren, hatten meine Eltern beschlossen, Mitglied bei einer Sterbehilfe-Organisation zu werden. Als meine Mutter mir damals den Umschlag überreichte - er enthielt Patientenverfügung, Testament und zwei Ausweise der Sterbehilfe-Organisation Exit -, habe ich geweint. Und die Dokumente erst mal irgendwo ganz unten im Sekretär verstaut. Ich hatte ihn fast vergessen. Verdrängt.

Und dann war es so weit, sie wollten sterben. Wie ferngesteuert ging ich zum Sekretär. Nahm die Dokumente, las sie genau durch. Mir wurde bewusst, dass ich gefordert war. Stellung beziehen musste, konkret, nicht allgemein. Ich dachte: Kann man doch nicht machen, die eigenen Eltern so mir nichts, dir nichts aufgeben. Und was, wenn sie in Wirklichkeit etwas ganz anderes wollten? Wie konnte ich das wissen?

Ich zog bei ihnen ein, die Fahrstunde zwischen uns war auf Dauer einfach zu lang. Ich kochte, sorgte, redete schließlich Klartext: Die Chefin hätte mich beurlaubt, würde das auch längerfristig tun, einen Teil der Arbeit könnte ich online erledigen. Da nahm meine Mutter mich still in den Arm. Das war der Moment, da wusste ich, sie würde bei Exit anrufen.

Sie griff noch am selben Tag zum Telefon. Und mir war klar, dass es bei diesem Gespräch nicht nur um meinen Vater gehen würde. Ich ging auf den Balkon. Denn man hält das nicht aus, so weh tut das. Auch fürs zweite Telefonat, mit dem Hausarzt, verließ ich den Raum. Atteste sollten die Unheilbarkeit ihrer Krankheiten bestätigen. Hin und her gerissen war ich. Ich konnte doch jetzt nicht einfach nichts dazu sagen. Ich musste doch kämpfen, für sie, für mich. Aber: Wie egoistisch darf Liebe sein?

Einen Vorteil hat der geplante Tod: Nichts bleibt unausgesprochen

Und dann saß sie bei meinen Eltern, diese Frau, die ihnen den Tod schenken würde. Ich selbst hatte sie in die Wohnung geführt, der Gedanke tat weh. Ich redete mir im Stillen gut zu: Sie meint es ja gut, die Frau. Tut ja nur, was wir wollen. Tut es sogar freiwillig und ehrenamtlich, Sterbebegleiter dürfen nichts verdienen. Meine Eltern blieben im Bett für das Gespräch. Mein Vater hätte unter normalen Umständen Tee aufgebrüht, Kuchen hingestellt. Einen Platz angeboten. Die Frau holte sich selbst einen Stuhl. Sortierte Unterlagen. Da wurde ich ruhiger. Weil es nun definitiv kein Zurück mehr gab? Es war wohl eher diese Dankbarkeit, die ich fühlte in diesem Moment, bei beiden. Und dieses gegenseitige Vertrauen, von dem ich wusste, dass es jetzt tatsächlich durch nichts mehr zu erschüttern war.

Einen Vorteil hat der geplante Tod: Nichts bleibt unausgesprochen. Über viele Stunden saßen wir zu dritt bei runtergelassenen Rollläden in ihrem Ehebett. Und ließen unsere Silhouetten eine gemeinsame Vergangenheit erschaffen. Hier eine Anekdote, da ein für wichtig befundener Abschnitt. Vor allem: die Jahre im Ausland; Papas Job hatte uns erst nach Australien, dann in die USA geführt. Später haben wir von der Schweiz aus unzählige Fernreisen miteinander unternommen.

Wir waren überall in der Welt zu Hause und doch als Familie immer sehr bei uns, das war immer so gewesen. Es ist schön, so bewusst miteinander sein zu dürfen, bevor man Abschied nimmt. Zu lachen. Zu weinen. Zu fühlen, dass es nicht besser hätte sein können. Dazwischen lag ich einfach nur da und lauschte dem Atem meiner Eltern, wenn sie wieder für Stunden weggenickt waren, sich aber selbst im Schlaf weiter an den Händen hielten. Bevor mein Vater zielstrebig das Glas hob und den Medikamentencocktail trank, haben wir uns voneinander verabschiedet. Ein Bild, das ich nie vergessen werde. Fast selig wirkten die aneinander gelegten Gesichter meiner Eltern bei ihrer letzten Umarmung. Als sei da diese Gewissheit, sich bald wiederzusehen.

Als man mich allein ließ, brach ich zusammen

Eingeschlafen ist mein Vater schnell. Aber sein Herz muss stark gewesen sein, es schlug noch über Stunden. Und meine Mutter saß die ganze Zeit im Nebenraum und quasselte. Und war auch am nächsten Tag rastlos und telefonierte rum und sagte, der Fritz sei gestorben, am Krebs, und beendete jedes Telefonat mit "Wir sehen uns bald."

Ich wurde skeptisch. War sie wirklich so weit? Konnte ihr Leben nicht auch allein und bei fortschreitender Krankheit wenigstens in Ansätzen lebenswert sein? Ich könnte weiter bei ihr im Bett sitzen, mich mit ihr gemeinsam erinnern, erzählen. Dachte ich zunächst. Dann aber hörte ich sie nachts über Stunden weinen und "Fritz" rufen. Und ich sah ihr erwartungsvolles Lächeln, als dann schließlich die Frau wiederkam.

Beide Male wurden hinterher die Polizei und der Amtsarzt gerufen. Die Beamten gingen durchs Haus, überprüften die unterschriebenen Verträge, die Gläser, das Fläschchen mit der giftigen Substanz, die Sterbebegleiterin hatte alles auf einem Tablett hergerichtet. Die Vorgänge wirkten routiniert, und ich empfand dabei eine innere Ruhe.

Als man mich dann aber allein ließ, passierte etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Der totale Zusammenbruch. Zittern. Weinen. Und diese Frage, die sich dann lange wie in einer Endlosschleife durch mein Hirn wand: Hatte das wirklich sein müssen? Ich hab mich das auch Jahre später noch ein paarmal gefragt, beim Shoppen, beim Reisen, bei Musicalbesuchen, all den Dingen eben, die Mama so gern tat. Zwei, drei Jahre hätte sie vielleicht noch gehabt. Aber was für ein Leben wäre es gewesen? Die Sehnsucht produziert Zerrbilder. Sich das klarzumachen heißt akzeptieren, dass es besser so ist, wie es war.

Es gab komische Beileidsbekundungen damals, vor 15 Jahren. Man hoffe, ich könne diesen Schritt akzeptieren, irgendwann. Als sei es etwas Schlimmes, Verbotenes, mit dem ich da klarzukommen hätte. Als mein Pferd vor ein paar Jahren wegen eines Kiefertumors eingeschläfert wurde, war es anders. Die mitleidigen Blicke hatten was von Zustimmung: Man kann einem Tier ja auch nicht zumuten, dass es sich quält. "Einem Lebewesen" hätte ich am liebsten korrigiert. Hab ich aber nicht. Denn das hätte bloß wieder Diskussionen ausgelöst.

Info: Sterbehilfe - ist sie in Deutschland erlaubt?

Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden: Bei uns ist die "geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung" (war bisher durch Paragraf 217 verboten) jetzt erlaubt. Das heißt juristisch aber nicht gewerblich, sondern dass sie wiederholt angeboten wird. Beispiel: Ein Arzt verschreibt regelmäßig seinen totkranken Patienten Medikamente, mit denen sie Selbstmord begehen können. Die aktive Sterbehilfe, also selbst jemandem ein tödliches Medikament oder Injektion zu verabreichen, ist weiterhin verboten. Um Rechtssicherheit zu haben, gingen bisher viele Menschen, die Sterbehilfe wünschen, in ein anderes Land, bevorzugt in die Schweiz. In der Regel gilt überall: Das todbringende Medikament muss von der Person selbstständig eingenommen werden. 

Hast du Selbstmordgedanken oder kennst jemanden, der solche schon einmal geäußert hat? Dann wende dich bitte sofort an die Telefonseelsorge. Die kostenlose Hotline erreichst du unter 0800-1110111 oder 0800-1110222.

Ein Artikel aus der BRIGITTE 

Protokoll: Elisabeth Hussendörfer

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