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Warum das Votum für begrenzte Zuwanderung in der Schweiz ein Warnsignal für Europa ist

Warum das Votum für begrenzte Zuwanderung in der Schweiz ein Warnsignal für Europa ist
© boing/photocase.com
Etwas mehr als die Hälfte der Wähler stimmte am 9. Februar dafür, die Zuwanderung in die Schweiz zu begrenzen. Bis zum Jahresende soll ein entsprechender Gesetzentwurf stehen. Die Schweizer Journalistin Laurina Waltersperger fordert ein Umdenken - auch von uns.

Es ist nicht nur eine Ohrfeige für die Schweizer Regierung - sondern auch für beinahe jeden zweiten Schweizer Bürger, der sich gegen die rechtspopulistische Initiative der Schweizer Volkspartei (SVP) zur "Begrenzung der Masseneinwanderung" aussprach. Viele sind beschämt, weil sich eine Mehrheit der Schweizer vor den Karren der Rechtspopulisten spannen ließ. Und viele sind frustriert, dass es in bestimmten Fragen keinen Gegenpol zur SVP gibt.

Denn das Lager linksliberaler Denker hat versagt. Auch der Wirtschaftselite ist es nicht gelungen, angemessen auf die Stimmung der Bevölkerung zu reagieren. Großkonzerne wie Nestlé, Novartis oder ABB haben im Vorfeld der Abstimmung argumentiert, dass die Schweiz Zuwanderung braucht, um das Wirtschaftswachstum zu sichern. Diese Firmen benötigen gut ausgebildetes Fachpersonal aus dem Ausland, weil es nicht genügend Schweizer mit entsprechender Ausbildung gibt. Doch mit diesem Argument schafften sie es nicht, die Bevölkerung bei ihren Ängsten abzuholen und für ihre Seite zu gewinnen. Die wirtschaftlichen Argumente zogen nicht - anstelle der Ratio gewannen Emotionen. Mit dem Ja zur Begrenzung der "Masseneinwanderung" steht die Schweiz in Europa nun am Pranger. Auf der institutionellen Ebene bedeutet das postwendende Sanktionen aus Brüssel: Die Strom-, Bildungs- und Forschungsabkommen mit der Schweiz wurden gestoppt.

Müssen sich die ausländischen Arbeitskollegen hinten anstellen oder gleich ganz gehen?

Auf der persönlichen Ebene bedeutet das Votum vor allem Ungewissheit. Die ausländischen Arbeitskollegen, viele davon sind Deutsche, fragen sich, ob und wie lange sie noch hierbleiben können. Und was passiert, wenn sie ihren Job verlieren - müssen sie sich dann bei der Vergabe der Job-Kontingente für EU-Bürger hinten anstellen oder gleich ganz gehen? Man spricht darüber, wie es ist, im Café, am See oder in der Bahn zu sitzen - mit dem Wissen, dass man nicht erwünscht ist. Aber auch für viele Schweizer stellen sich Fragen. Vor allem für diejenigen, die ihr Land als Teil Europas verstehen, die vernetzt sind, kulturelle Vielfalt schätzen, vielleicht gerne in Berlin ein Startup gründen oder in Paris studieren wollen. Wie drastisch die weiteren Konsequenzen ausfallen werden, kann man zum aktuellen Zeitpunkt höchstens mutmaßen. Den bilateralen Weg, basierend auf 120 vertraglichen Abkommen, wie ihn die Schweiz und die EU in den vergangenen Jahren pflegten, haben sich die Schweizer mit der jüngsten Abstimmung verbaut.

Die Autorin
Laurina Waltersperger arbeitet als Wirtschaftsredakteurin bei der Handelszeitung in Zürich.
© privat

Doch so sehr sich die Menschen und Regierungen in Brüssel, Berlin und Paris über den Entscheid ihres Nachbarn empören, so besorgniserregend ist deren Zustimmung in den eigenen Reihen. Es sind nicht nur die rechtspopulistischen Strömungen in diesen Ländern, die dem Schweizer Votum Zuspruch verleihen. Es sind auch viele einzelne europäische Bürger, die sagen: "Wenn wir könnten, würden wir genauso wählen."

Nicht nur viele Schweizer sehen die offenen Grenzen als Gefahr. Das Beispiel Schweiz steht für eine europaweite Entwicklung. Rasantes Wirtschaftswachstum geht nicht ohne den Zuzug ausländischer Arbeitskräfte. Einst waren es die Italiener auf dem Bau, heute sind es vorwiegend hochqualifizierte Deutsche, etwa in der Industrie und im Krankenwesen. Mit diesem Wachstum können viele nicht umgehen, denn die Internationalität vermischt Kulturen und verwischt die Konturen unterschiedlicher Nationalitäten. Die Folge sind ein verstärktes Traditionsbewusstsein, die Sorge um die eigene Identität und die Sehnsucht nach der "guten alten Zeit".

Andererseits bedeutet mehr Wachstum auch mehr Ungleichheit. Diese Ungleichheit sorgt bei vielen Europäern für Unbehagen. Für die Politiker in Brüssel ist die Personenfreizügigkeit "unverhandelbar", aber viele Bürger wünschen sich die alten Grenzen zurück. Deshalb müssen alle Regierungen handeln, um den Rechtspopulisten in ihren Ländern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Mit weniger Bürokratie, mehr Beweglichkeit, einem größeren Reaktionsvermögen und der Einsicht, dass eine rein wirtschaftliche Argumentation die Ängste der Bevölkerung und die Rhetorik der Populisten nicht zu entkräften vermag. Das lehrt der fatale Entscheid in der Schweiz - bleibt zu hoffen, dass die EU-Länder daraus lernen und es besser machen.

#MEI: Die Diskussion um die Masseneinwanderungsinitiative auf Twitter

Laurina Waltersperger

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