Anzeige

Schwangerschaftsabbuch Die Angst vor dem Stigma ist riesig

Protestschilder Abtreibung
© Longfin Media / Adobe Stock
Was erleben ungewollt Schwangere, die sich für einen Abbruch entscheiden? Das hat eine Studie jetzt erstmals wissenschaftlich erforscht. Das Ergebnis zeigt, wie nötig eine Entkriminalisierung ist.

Einerseits könnte man sich wundern: In all den Jahren voller Zank um weibliche Selbstbestimmung hat sich nie jemand die Mühe gemacht, die Frauen selbst wissenschaftlich zu befragen, was sie bei einem Schwangerschaftsabbruch erleben. Andererseits ist das kein Wunder. Denn die Debatte ist stark ideologisiert und dreht sich auch deshalb in Deutschland im Kreis. "Uns ist immer wieder aufgefallen, dass viele Menschen zu diesem Thema eine vorgefertigte Meinung haben", sagt Dr. Jördis Zill, Psychologin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) und Leiterin der sogenannten CarePreg Studie* über die Erfahrungen ungewollt Schwangerer in Beratung und medizinischer Versorgung. "Unser Ziel war es, ihre Perspektive wissenschaftlich einzufangen. Nicht nur, weil es Daten dazu in Deutschland bisher kaum gab, sondern auch, um ungewollt schwangeren Frauen eine Stimme zu geben und damit hoffentlich auch die Versorgungssituation zu verbessern."

Dass das Thema kontrovers ist, zeigt schon das Zustandekommen der Studie. Im Februar 2019 beschloss der Bundestag eine Neuregelung des §219a zum sogenannten Werbeverbot für einen Schwangerschaftsabbruch (der 2022 dann ganz aufgehoben wurde). Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) wurden damals fünf Millionen Euro bewilligt, um die seelischen Folgen eines Abbruchs untersuchen zu lassen. Ein umstrittenes Vorhaben; Kritiker:innen sahen darin den Versuch, die Haltung von Abtreibungsgegner:innen zu untermauern: Diese führen die vermeintlichen psychischen Probleme durch einen Abbruch häufig als Argument gegen die Liberalisierung an. Dabei sind diese durch internationale Studien längst widerlegt, sogar das Gegenteil ist laut einer aktuellen Metaanalyse der Fall: Abtreibungsverbote können die psychische Gesundheit von gebärfähigen Personen gefährden. Die Bloggerin Nike van Dinther startete eine Online-Petition gegen die "Spahn-Studie" und sammelte 90 000 Unterschriften, auch Fachgesellschaften protestierten – mit Erfolg. Als die Studienprojekte knapp zwei Jahre später schließlich starteten, war der Fokus deutlich breiter. Nun sollten insgesamt die psychosoziale Situation, Erfahrungen und Bedürfnisse von Frauen, die nach der Beratungsregelung eine Schwangerschaft abbrechen, sowie die Versorgungslage wissenschaftlich untersucht werden. Der Großteil des Forschungsgeldes floss dabei an die ELSA-Studie (Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer – Angebote der Beratung und Versorgung) unter der Leitung der Hochschule Fulda, ein weiterer Teil in die CarePreg Studie des UKE, die ihren Forschungsschwerpunkt auf die Untersuchung der sogenannten Patient:innenorientierung in der Versorgung legt, also Bedürfnisse, Wünsche und Werte der betroffenen Frauen in den Mittelpunkt stellt.

Am meisten, sagt Jördis Zill, habe sie überrascht, wie verbreitet die Angst vor Stigmatisierung ist. Sie findet sich bei allen Beteiligten, also sowohl aufseiten der Versorgenden, die zum Abbruch beraten bzw. ihn vornehmen, als auch bei den Frauen selbst. "Drei Viertel der ungewollt Schwangeren machen sich Sorgen, dass andere negativ über sie urteilen könnten, knapp ein Viertel ist extrem besorgt."

Was fehlt: Zugang zu wissenschaftlich fundierten Informationen

Was die Frauen dann tatsächlich erlebten, war in den meisten Fällen besser als befürchtet: Einige fanden etwa das Beratungsgespräch sehr entlastend oder waren erleichtert über die zugewandte und verständnisvolle Behandlung in der Praxis. Doch die Angst vor Stigmatisierung erhöhe die Belastung der Frauen. "Eine ungewollte Schwangerschaft ist ein Ausnahmezustand und wie jede Krise mit Angst und Sorgen verbunden", so Jördis Zill. Zum Schock komme der Zeitdruck, sich zu informieren und das mehrstufige Prozedere (ärztliches Feststellen der Schwangerschaft, Beratung, Abbruch frühestens drei Tage später) zu organisieren. Dass Frauen gerade im ländlichen Raum oft mehrere Praxen anfragen, um einen Termin zu bekommen, und lange Fahrzeiten in Kauf nehmen müssen, macht es noch komplizierter. "Das alles ist eine enorme Herausforderung und Gefühle wie Ängste oder Sorgen sind nachvollziehbar", so die Psychologin. "Aber über die Hälfte beschreibt zusätzlich Gefühle von Scham und Schuld. Einige Frauen gaben auch an, erst im Zuge ihrer unbeabsichtigten Schwangerschaft realisiert zu haben, dass der Abbruch rechtlich nach wie vor als Straftat definiert ist, und sich sehr diskriminiert gefühlt zu haben."

Und es gibt eben auch immer wieder konkrete negative Erlebnisse von Abwertung, Desinformation oder Schikane. Acht Prozent geben diskriminierende Erfahrungen für die Beratungen an, 17 Prozent für die medizinische Versorgung. "Da rät etwa die Hausärztin von einem Abbruch ab wegen der angeblichen psychischen Folgen. Oder Frauen geraten an einzelne Beratungsstellen, die keinen Beratungsschein ausstellen und vor allem nicht ergebnisoffen beraten. Wenn dies nicht klar kommuniziert wird, kann es für die Frauen ein großes Problem werden, da das Zeitfenster für einen Abbruch häufig nur sehr klein ist."

Zudem zeigen die Ergebnisse, dass es dringend einen besseren Zugang zu wissenschaftlich fundierten Informationen über die unterschiedlichen Methoden zur Durchführung eines Abbruchs braucht, um für sich persönlich wählen zu können.

Schwangerschaftsabbrüche stellen noch immer eine Straftat dar

Laut Angaben des Statistischen Bundesamts wurden 2023 48 Prozent der Abbrüche operativ mit der Absaugmethode durchgeführt, 39 Prozent medikamentös. Im internationalen Vergleich ist letzterer Wert niedrig – in Schweden erfolgen beispielsweise über 90 Prozent der Abtreibungen mit Medikamenten – und auch innerhalb Deutschlands gibt es regionale Unterschiede. Aufgrund von Zahlen aus Ländern mit freier Methodenwahl schätzt die Kampagne "Mehr als du denkst", dass bei uns jede Woche 350 bis 500 Frauen operiert werden, obwohl sie lieber medikamentös abgebrochen hätten. Die ELSA-Studie zeigte: Fast ein Drittel der Frauen können nicht mit der Methode abbrechen, die sie bevorzugt hätten.

Viele Expert:innen aus der Versorgung wie auch die betroffenen Frauen der CarePreg Studie wünschen sich zudem eine Entkriminalisierung; dass Abbrüche bei uns seit 1871 eine Straftat darstellen, ist Kern sowohl der Stigmatisierung als auch der schlechten Versorgungslage. Dass der Abbruch wie in Skandinavien Teil der normalen Gesundheitsversorgung werden kann, ist mit §218 sicher ausgeschlossen.

Auch eine von der Regierung eingesetzte unabhängige Kommission kam im April zu dem Schluss, die Rechtswidrigkeit des Schwangerschaftsabbruchs in den ersten drei Monaten sei nicht haltbar, und empfahl eine Legalisierung. Bindend ist dies nicht, und die Parteien der Ampel-Koalition reagierten eher zurückhaltend. So sagte die Bundesvorsitzende der Grünen, Ricarda Lang, gegenüber BRIGITTE: "Wir gehen jetzt in die weitere Debatte, auch im Bundestag. Es braucht den Austausch, sowohl im Parlament als auch in der Breite der Gesellschaft. Ich persönlich weiß, wo ich hinwill: dass wir die jetzige Situation auflösen und fürs erste Schwangerschaftsdrittel eine differenzierte Regelung außerhalb des Strafgesetzbuches finden. Damit stärken wir die Versorgungslage und die Rechte von Frauen. Und um das zu erreichen, werden wir auch auf die anderen Parteien zugehen."

Was wir brauchen: Akzeptanz und Offenheit

Gleichzeitig sprach sie sich gegen "Hauruckverfahren" aus: "Es gibt so viele Länder, in denen das Thema von rechts instrumentalisiert wird. Das darf uns nicht passieren." Auch Spahns Nachfolger Karl Lauterbach (SPD) warnte vor einer Spaltung der Gesellschaft. Noch ist also unklar, ob, wie und wann §218 überarbeitet oder gar gestrichen wird.

Jördis Zill ist neben der rechtlichen Regelung noch etwas wichtig: Akzeptanz und Offenheit. In der Studie beschrieben die Frauen des Öfteren ein Gefühl von Alleinsein und den Wunsch nach Austausch. "Wir sollten uns alle mehr trauen, über ungewollte Schwangerschaften als Thema, das alle angeht, zu sprechen und uns gegenseitig unterstützen."

Der Abbruch in Zahlen

106.218

Schwangerschaftsabbrüche wurden 2023 in Deutschland vorgenommen. 96,2 Prozent davon nach der Beratungsregelung, 3,7 Prozent nach medizinischer, 0,03 Prozent nach kriminologischer Indikation.

57,5 %

der Frauen, die sich 2023 zu einem Abbruch entschlossen, hatten bereits mindestens ein Kind. 38 Prozent waren verheiratet.

65 %

der Frauen, die 2023 einen Abbruch vornehmen ließen, waren zwischen 25 und 39 Jahre alt. Rund acht Prozent waren 40 und älter, nur 2,6 Prozent jünger als 18.

Quelle: Statistisches Bundesamt

Die Versorgung in Zahlen

46 %

weniger Meldestellen als 2003 gab es 2023 (1104 im 4. Quartal versus 2050 vor 20 Jahren), also Praxen oder Kliniken, die angeben, Abbrüche vorzunehmen. (1)

85 von 400

Landkreisen erfüllen nicht die Kriterien für eine angemessene Erreichbarkeit. Frauen können dort innerhalb von 40 Minuten keine Einrichtung erreichen, die einen Abbruch vornimmt. Auch in Kreisen, die das Kriterium erfüllen, ist nicht garantiert, dass die Frauen innerhalb dieses Radius auch einen Termin bekommen. (2)

24 %

der Ärztinnen und Ärzte, die Abbrüche vornehmen, wurden schon mal bedroht. 65 Prozent haben privat und/oder beruflich Stigmatisierung erfahren. (2)

Quellen: (1) Statistisches Bundesamt, (2) ELSA-Studie

* Die Ergebnisse der CarePreg Studie werden am 27. Juni im Rahmen eines Abschlusssymposiums vorgestellt (Anmeldung zur Teilnahme in Präsenz oder online: uke.de/carepreg)

Brigitte

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel