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Schulen für Afrika: Julia Karnick setzt Zeichen

Bis 2015 soll sichergestellt werden, dass jedes Kind auf der Welt zumindest die Grundschule abschließen kann. Deshalb gibt es die Aktion "Schulen für Afrika" und die Kampagne "2015 Zeichen setzen". Bekannte Autorinnen und Autoren erzählen in exakt 2.015 Zeichen eine ganz persönliche Geschichte zum Thema "Bildung". BRIGITTE-Kolumnistin Julia Karnick ist dabei. Lesen Sie hier Ihre Geschichte.

Der New Yorker UN-Milleniums-Gipfel ist vorbei, die Milleniums-Entwicklungsziele bleiben. Ziel Nr. 2: Bis 2015 soll sichergestellt werden, dass jedes Kind zumindest die Grundschule abschließen kann. Leider immer noch keine Selbstverständlichkeit. So geht in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara etwa jedes drittes Kind nicht zur Schule. UNICEF, die "Nelson-Mandela Stiftung" und die "Hamburger Gesellschaft zur Förderung der Demokratie und des Völkerrechts" haben darum die Aktion "Schulen für Afrika" ins Leben gerufen. In elf afrikanischen Ländern sollen neue Schulen gebaut, Schulmaterial bereitgestellt und ausreichend Lehrer ausgebildet werden. Die Aktion wird begleitet von der Kampagne "2015 Zeichen setzen": Bekannte Autorinnen und Autoren erzählen in exakt 2.015 Zeichen eine ganz persönliche Geschichte zum Thema "Bildung". Den Anfang macht BRIGITTE-Kolumnistin Julia Karnick. Ihre Geschichte lesen Sie hier.

Herr Glüsing und der Rohrstock

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Eines Morgens vor fast 70 Jahren saß ein fremdes Kind in der Schule eines Dorfes in Dithmarschen: ein siebenjähriges Mädchen aus Hamburg. Eine Bombe hatte das Haus zerstört, in dem es mit der Mutter gelebt hatte. In dem Dorf hatten sie Zuflucht gefunden bei der Familie des Vaters, eines Bauernsohnes.

Der Vater, ein Beamter, war früh an einer Herzerkrankung verstorben, die Pension war klein. Die Mutter, Tochter eines Droschkenunternehmers und einer Schneiderin, hatte mit 15 eine Hauswirtschaftslehre gemacht. Nun half sie auf dem Hof, das Mädchen ging zur Dorfschule. Der Lehrer hieß Herr Glüsing. Er hatte dunkle Locken, eine Hornbrille und einen Rohrstock. Mit dem Stock strafte er die Kinder, die keine Fragen stellten: "Ihr sollt sagen, wenn ihr etwas nicht versteht! Wer nicht nachfragt, bekommt zehn Schläge!" Das Mädchen musste nur ein einziges Mal die Hände ausstrecken.

Die Dorfschule bestand aus einem großen Raum, in dem die Erst- bis Achtklässler zusammen saßen. Jede Stufe hatte eine eigene Bankreihe, die Stufenbesten saßen am Mittelgang. Das Mädchen saß fast immer am Gang. Neben ihm saß meist Hildegard, die beste Freundin, eine Bauerntochter. Wenn Herr Glüsing den Älteren etwas erklärte, mussten die Jüngeren still arbeiten. Wenn sie fertig waren, durften sie zuhören. Mit Zehn lernte das Mädchen den Satz des Pythagoras.

Nach fünf Jahren sagte Herr Glüsing zur Mutter: "Die gehört auf's Gymnasium!" Die Bauern sagten: "Dien Vadder wollt ook immer wat Bederes sin!" Die Mutter sagte: "Dein Vater wäre gerne länger zur Schule gegangen, aber er musste Geld verdienen. Er wollte, dass du werden kannst, was du willst!" Das Mädchen wollte zum Gymnasium. Im Sommer fuhr es auf dem Rad - sieben Kilometer zur Schule und zurück. Im Winter nahm es den Bus, das kostete Fahrgeld, manchmal war die Haushaltskasse schon vor Monatsende leer. Hildegard, die Bauerntochter, wollte auch zum Gymnasium. Sie durfte nicht. Aus dem Mädchen wurde eine Frau, sie machte Abitur. Sie wurde Lehrerin, heiratete einen Lehrer und bekam drei Töchter. Den Töchtern erzählte sie sehr oft von Herrn Glüsing, seinem Rohrstock und davon, was für ein Glück es ist, fragen und lernen zu dürfen. Die älteste Tochter wurde Ärztin, die Schwester PR-Beraterin. Ich, die Jüngste, bin Journalistin.

Hildegard, die Bauerntochter, hat sehr jung geheiratet. Bei der Geburt des zweiten Kindes ist sie gestorben.

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