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Schlagen erwünscht

Nachts alleine nach Hause zu gehen, ist für Frauen oft unangenehm. Sich nach jedem Kinoabend ein Taxi zu nehmen, ist teuer. Was tun? Ob ein Selbstverteidigungskurs hilft? Brigitte.de hat es ausprobiert.

Es ist wie im Freitagabend-Krimi. Ich bin auf dem Heimweg vom Kino. Ein normaler Wochentag, gegen halb elf. Auf dem Weg zur U-Bahn muss ich durch eine gekachelte Unterführung. Neonlicht. Meine Schritte hallen. Es ist niemand zu sehen. Plötzlich höre ich, dass hinter mir jemand geht. Dann eine männliche Stimme, die mehrfach "hallo" ruft. Er lallt und macht komische Schmatzgeräusche. Ich versuchte, ihn zu ignorieren und gehe weiter. Für einen Betrunkenen klingen seine Schritte erstaunlich fest. Er ist dicht hinter mir.

Ich bekomme Angst. Was, wenn er mich gleich von hinten packt? Ich bin alleine mit ihm. Es ist lange vor Mitternacht. In einer Großstadt wie Hamburg müssen doch um diese Zeit noch mehr Menschen unterwegs sein? Eigentlich. Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Weglaufen? Lieber nicht, vielleicht bringt ihn das erst auf dumme Ideen. Der Weg durch die Unterführung kommt mir endlos vor. Wahrscheinlich wäre es am besten gewesen, sich umzudrehen und ihn einfach anzusprechen, aber dazu fehlt mir der Mut. Ich gehe weiter. Selten habe ich mich so hilflos gefühlt.

Der Mann geht an mir vorbei, als wäre nichts gewesen. Er beachtet mich gar nicht. Ein Glück. Die Geschichte hätte auch anders ausgehen können.

Ich hasse es, nachts alleine unterwegs zu sein. Ständig bilde ich mir ein, dass jemand hinter mir her ist. Mich nervt diese Hilflosigkeit, ich will mich wehren können, falls ich wirklich mal in eine brenzlige Situation komme. Ich beschließe, einen Selbstverteidigungskurs zu machen.

1. Kurstag: Wehren lohnt sich

Ich sitze mit acht weiteren Frauen in einem Raum. Sie sind zwischen Ende 20 und Anfang 40. Manche blicken ein wenig scheu, andere wirken sehr selbstbewusst, fast provokant. Was uns eint: Wir wollen lernen, wie wir uns selbst verteidigen.

Die Gründe sind verschieden: Die Freundinnen, die sich gemeinsam angemeldet haben, wollen vor allem Spaß haben. Eine Frau, Anfang 40, wurde von ihrem Chef gemobbt und will sich künftig besser zur Wehr setzen. Andere wollen einfach ein besseres Gefühl haben - nachts, allein in der U-Bahn oder auf dem Nachhauseweg.

Dabei kommt die Gefahr meist aus einer anderen Richtung: Die Täter seien häufig Bekannte oder Verwandte, erklärt der Kursleiter. Er sagt, dass die wenigsten Übergriffe dort passieren, wo wir sie erwarten: in dunklen Parks, in Tiefgaragen und in öffentlichen Verkehrsmitteln.

Wir werden nach den sechs Abenden keine Kampfsport-Profis sein, die jeden Angreifer locker abwehren können. Das Ziel ist ein anderes: Wir sollen Gefahrensituationen erkennen können. Und wir sollen uns unserer eigenen Kräfte bewusst werden, so dass wir uns selbst zur Wehr setzen können. Aber setzt man sich bei einem Angriff nicht automatisch zur Wehr?

Frauen falle es meist schwer, handgreiflich zu werden, erklärt der Referent. Ein Verhalten, das Folgen hat: Wird eine Frau belästigt oder angegriffen, fällt sie leicht in eine Opferrolle und lässt alles über sich ergehen. Schuld sei der gesellschaftliche Konsens, Frauen sollten zurückhaltend sein, sich nicht streiten und vor allem nicht zuschlagen.

"Oje, was für ein veraltetes Frauenbild", ist mein erster Gedanke. Dann fällt mir die Situation in der Unterführung wieder ein. Ich hätte dem Mann einfach sagen können, dass er mich in Ruhe lassen soll. Habe ich aber nicht. Vielleicht ist doch was dran an der These.

Dabei lohnt es sich, sich zu wehren, auch wenn der Mann stärker ist. Die Polizeistatistiken sind eindeutig: In 84 Prozent der Fälle, haben die Täter von ihren Opfern abgelassen, wenn diese sich massiv gewehrt haben. Ohne Gegenwehr der Opfer lag die Quote bei nur 25 Prozent.

2. Kurstag: "Komm, lass uns Spaß haben!"

Er torkelt auf die Frau zu, streckt die Hand nach ihr aus: "Komm, lass uns Spaß haben!", lallt er. "Stopp", sagt sie und hebt die Hand zur Abwehr auf Brusthöhe. Er kommt näher. Die Frau wird lauter: "Stopp, habe ich gesagt". Dann schlägt sie mit der flachen Hand auf seinen Brustkorb. Trainer Christian (50) ist zufrieden - er hat den Betrunkenen gespielt. Der Polizeibeamte trainiert seit 40 Jahren Ju Jutsu.

Vom anderen Ende des Raumes sind laute Schreie zu hören. Eine große, blonde Frau schlägt auf einen Mann ein. Ihre Arme fliegen durch die Luft. "Fass mich nicht an", schreit sie. Dem Beobachter wird sofort klar, dass etwas nicht stimmt. Die Frau, Kirstin, trägt ein rotes T-shirt mit der Aufschrift "Respect". Den hat sie sich verschafft. Diese eine kurze Szene macht klar, warum wir hier sind. Ihre Abwehr ist eindeutig und sie schreckt ab. Als Mann hätte ich auch keine Lust, mich mit ihr anzulegen. Ich würde mir ein leichteres Opfer suchen.

Anfangs ist es tatsächlich gar nicht so einfach, zuzuschlagen. Ich muss mich überwinden. Unsere Trainer amüsiert es, dass wir uns für jeden Schlag entschuldigen. Bei Männern sei das anders, erklären sie. Die würden bei den Selbstverteidigungskursen einfach los hauen.

Christian hält sich ein Schlagpolster, eine Pratze, vor den Bauch. Ich packe ihn an der Schulter, ziehe seinen Oberkörper nach unten und ziele mit aller Kraft mit dem Knie gegen das Polster. "Du musst den Gegner richtig dicht ranziehen, bevor du mit dem Knie trittst", erklärt er. Es hilft, wenn ich mir einen echten Angreifer vorstelle. Mit Wut im Bauch klappt das mit dem Schlagen ganz gut.

Selbstverteidigung ist richtig anstrengend. Nach den ersten Tritten schnellt mein Puls nach oben, ich ringe nach Luft.

Die Stimmung ist aufgekratzt: Auf dem Weg nach draußen tritt eine Teilnehmerin gegen die Tür. "Geh weg du blöde Tür", ruft sie laut. Wir haben schnell gelernt.

3. Kurstag: Kiloschwere Zahnbürste

Diesmal wurden wir verprügelt. Christian hat zur Verstärkung gleich zwei "Dummies" mitgebracht. So nennt er unsere Angreifer, Teilnehmer aus seinem Ju-Jutsu-Kurs, die an ihrem Feierabend nichts Besseres zu tun haben, als sich von uns treten und schlagen lassen. Zumindest normalerweise - denn wie gesagt, heute werden wir verprügelt und die Jungs haben ihren Spaß.

Wir sollen unseren Kopf zwischen die Hände nehmen, als Schutz vor den Schlägen, die auf uns einprasseln, so lange, bis wir eine Chance sehen, uns durch einen gezielten Tritt in den Genitalbereich des Angreifers zu wehren. Während ich die Schläge einstecke und versuche, das unangenehme Vibrieren im Kopf zu ignorieren, wächst meine Wut. Die Wut motiviert. Als die Schläge kurz aussetzen, gebe ich meine ganze Kraft in den einen Tritt - ich glaube, mein Angreifer war ganz froh über seinen Genitalschutz.

Mit einem freundlichen Lächeln kommt "Dummie" Glenn auf mich zu. "Wir beide haben doch schon lange nicht mehr... Wie heißt du eigentlich?" Ich zögere. Meint er das jetzt ernst? Oder gehört das schon zum nächsten Angriff? Er kommt einen Schritt näher - zu nah. Fast schon reflexartig schlage ich mit der flachen Hand auf seine Brust, rufe "stopp" - und freue mich riesig, dass es so gut klappt.

"Was hast du denn?" "Ich tu dir doch nichts" - mit solchen Sprüchen versuchen uns die Jungs zu verunsichern, aber so leicht geben wir unsere Verteidigungshaltung inzwischen nicht mehr auf.

Die "Dummies" bekommen nicht alles ab. Zwischendurch ersetzt auch mal ein Medizinball den Kopf des Angreifers. Christian macht die Übung vor: Er streckt die Arme aus und schlägt mit den Händen kräftig rechts und links auf einen Ball, den Glenn ihn hinhält - an die Stelle, an der beim Menschen die Ohren wären. Das Trommelfell platzt durch den entstehenden Druck, erklärt Christian, aber so genau will ich das gar nicht wissen.

Von wegen, Frauen prügeln sich nicht gerne: Ich beobachte die verzerrten Gesichter. Kirstin zum Beispiel: Sie klatscht mit voller Wucht ihre Hände auf den Ball, zieht den Ball nach unten und rammt ihn mit den Knien. Autsch.

Auf dem Heimweg komme ich am Hamburger Dom vorbei (für Nichthamburger: das ist ein riesiges Volksfest). Hm, ich muss an unseren Trainer denken, der gerne mal angetrunkene Volksfest-Besucher als Beispiel für potentielle Angreifer nimmt. Ob ich mal alleine über den Dom bummeln soll, jetzt, um 22.30 Uhr, und ausprobieren, ob das ohne Angst geht? Es regnet und ich habe keine Jacke mit - der Test muss warten. Ist wahrscheinlich auch besser so, meine Hände zittern noch von der Anstrengung. Selbst die Zahnbürste kommt mir kiloschwer vor.

4. Kurstag: Darth Vader greift an

Den anderen geht es ähnlich: Beim nächsten Treffen vergleichen wir unsere blau gefärbten Knie und erzählen uns von dem Muskelkater in den Unterarmen.

Der Medizinball hat ausgedient: Christian hat eine schwarze Maske mitgebracht. Damit sieht er mindestens so brutal aus wie Darth Vader aus "Krieg der Sterne". Dank der Maske können wir die "Trommelfell-Übung" jetzt direkt bei ihm ausprobieren.

Christian wankt auf mich zu, legt die Hände um meinen Hals und drückt zu. Ich hänge mich mit aller Kraft in seine Arme, um den Druck raus zu nehmen. Noch ein Tritt an die entscheidende Stelle und ich kann mich aus der Umklammerung befreien. Im Ernstfall wäre das wahrscheinlich nicht so einfach, aber zumindest bekomme ich eine Vorstellung davon, wie man sich aus einem Würgegriff befreien kann.

Die Stimmung ist gut, inzwischen treten auch alle richtig zu - während es anfangs auch schon mal passierte, dass sich jemand durch einen unauffälligen Fluchtversuch aus der Affäre ziehen wollte.

Wir streiten uns schon fast, wer als nächster mit "Darth Vader" kämpfen darf. Christian strahlt. Dabei hatten wir ohnehin ordentlich zu tun - acht Frauen und vier "Dummies" standen sich gegenüber.

5. Kurstag: Die Beißtechnik

Diana ist einen Kopf kleiner als ich, aber sie boxt seit fünf Jahren. Wir sind beim Aufwärmen ein Team. Wir sollen uns gegenseitig attackieren, auf Kopf, Arme oder Beine zielen und gleichzeitig versuchen, den Schlägen der Partnerin auszuweichen. Dianas Schläge kommen konzentriert und schnell. Zum Glück nimmt sie mich als Kampfpartnerin nicht so ernst - Glenn holt sich später eine blutige Nase bei ihr. Er hat es nicht geschafft, ihrem Ellbogen rechtzeitig auszuweichen.

Ein Angreifer schnappt sich eine Teilnehmerin, wirft sie zu Boden und legt sich zwischen ihre Beine. Kein schöner Anblick. Es sieht ziemlich realistisch aus und ich denke kurz darüber nach, unauffällig zu verschwinden und mich dadurch vor der Übung zu drücken.

Christian beruhigt uns. Die Chancen, sich aus dieser Position zu befreien, sind relativ groß. Der Angreifer kann uns nicht dauerhaft mit beiden Händen festhalten, er wird irgendwann loslassen, um seine Hose zu öffnen. Und dann können wir ihm ins Gesicht und gegen die Ohren schlagen und mit dem Fuß sein Knie wegschieben und uns befreien.

Es klappt tatsächlich ganz gut. Bis Ju-Jutsu-Schwarzgurt Glenn anfängt, ernsthaft zu ringen. Alle Schlag- und Wegschiebe-Versuche laufen ins Leere. Er liegt wie eine Klette auf mir und ich bekomme nicht mal so viel Abstand zwischen uns, um ihn mit der Hand oder dem Fuß irgendwie wegzudrücken oder eine der gelernten Techniken anzuwenden. Und jetzt? Langsam geht mir die Kraft aus. Da fällt mir ein, wie ich mich früher gegen meinen großen Bruder gewehrt habe: Ich beiße ihn in die Brust - und bin frei. Hm, wofür lernen wir eigentlich die ganzen Techniken?

Während des Kampfes denke ich nur daran, mich zu wehren. Es ist ein bisschen wie früher das Kräftemessen mit den Nachbarjungs. Anstrengend, aber lustig. Beim Zugucken ist es dagegen schwierig, den Gedanken an die Ernstsituation zu verdrängen.

6. Kurstag: Der Ernstfall

Beinahe hätte ich meine Kenntnisse aus dem Kurs tatsächlich auf der Straße angewendet. Es passiert an einem Abend, an dem es noch nicht ganz dunkel ist. Ich bin auf dem Nachhauseweg. An der Kreuzung, etwa 100 Meter entfernt, steht ein Mann. Er blickt immer wieder in meine Richtung. Was will der denn?

Ich ziehe meine Schultern zurück und gehe zielstrebig weiter in seine Richtung. Der soll mir mal blöd kommen. Ich schaue ihn direkt an. In Gedanken gehe ich die ersten Verteidigungstechniken durch. Soll ich versuchen, ihn mit dem Ellbogen im Gesicht zu treffen? Oder doch lieber ein Kick mit dem Fuß in seine empfindlichste Stelle? Tatsächlich, er spricht mich an. Na warte. Ich brauche einen Moment, bis seine Worte zu mir durchdringen und sich die Anspannung löst: Er erkundigte sich höflich nach dem nächsten Internetcafé.

Gut, dass Christian uns immer wieder eingebläut hat, dass wir nicht sofort losschlagen sollen. Es könnte ja sein, dass ER nur wissen will, wie spät es ist. "Jetzt lass mich dich doch wenigstens vorher dumm anmachen, bevor du losschlägst", beschwert sich auch prompt einer der "Dummies". Es ist der letzte Abend: Auf Trainer Christian und "Dummie" Glenn wartet zwei Pokale. "Für den besten Angreifer" und "Für die besten Nehmerqualitäten". Schade, dass der Kurs vorbei ist. Die Fortsetzung ist fest geplant.

Fazit

Ich fühle mich nach dem Kurs auf jeden Fall sicherer. Das Bild von Kirstin, wie sie wild auf ihren Angreifer einschlägt und laut brüllt, werde ich im Kopf behalten. Eine so massive Gegenwehr schüchtert jeden Angreifer ein, da bin ich mir sicher.

Ich würde mich bei einem Angriff inzwischen definitiv zur Wehr setzen - auch wenn mir bestimmt nicht mehr alle Techniken einfallen würden. Aber ich weiß jetzt, dass ich zuschlagen kann.

Infos zum Kurs

  • Der beschriebene Selbstverteidigungs-Kurs basiert auf den Techniken des Ju-Jutsu. Ziel des Ju-Jutsu ist es, sich und andere ohne Waffen zu schützen. Enthalten sind Elemente aus Karate, Judo und Aikido. Die Technik wurde mehrmals überarbeitet und um Erfahrungen aus der Praxis ergänzt. Ju-Jutsu ist Pflichtfach bei der Polizei.
  • Der beschriebene Kurs wird angeboten von der Budoabteilung der
  • Sportvereinigung Polizei Hamburg. Die sechs Trainingseinheiten á 1,5 Stunden kosten insgesamt 45 Euro.

Worauf muss ich bei einem guten Selbstverteidigungs-Kurs achten?

  • Wichtig ist, das während des kompletten Kurses mit Männern trainiert wird, um eine möglichst realistische Vorstellung von Kraft, Größe und Körpergewicht des möglichen Gegners zu bekommen.
  • Der Kurs sollte auf maximal 20 Teilnehmerinnen begrenzt sein.
  • Die geübten Techniken sollten möglichst einfach sein.
  • Die Gegenwehr bei bewaffneten Angriffen ist schwierig und hat in einem Selbstverteidigungskurs nichts zu suchen.

Wo findet man Selbstverteidigungs-Kurse?

  • Gute Anlaufstellen sind Vereine, die auch Ju-Jutsu anbieten sowie die Frauenbeauftragten der Ju-Jutsu-Landesverbände (über den Ju-Jutsu-Bundesverband). Auch die Beratungsstellen der Kriminalpolizei können weiterhelfen.
Text und Fotos: Monika Herbst

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