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Portrait Ricarda Lang: "Lass dir von keinem sagen, wer du sein sollst"

Ricarda Lang: Ricarda Lang
© Paulina Hildesheim
Diesen Satz gab ihr die Mutter mit. Heute ist Ricarda Lang, 29, die jüngste Chefin, die eine deutsche Regierungspartei je hatte. BRIGITTE-Redakteurin Kristina Maroldt hat die Politikerin durch ihr erstes Jahr im Amt begleitet.

Als Ricarda Lang zu ahnen beginnt, dass es wohl mal wieder länger dauern wird mit Aufbruch und Neuanfang, liegt sie gerade im Bett. Es ist der Morgen des 24. Februar 2022, am Abend zuvor hat sie das "Erste Entlastungspaket" der Koalition mitbeschlossen, "stolz und zufrieden" sei sie danach eingeschlafen, erzählt sie.

Die jüngste Vorsitzende, die eine Regierungspartei je hatte

Doch dann blickt sie gegen halb fünf aufs Handy: Russland hat die Ukraine angegriffen. Sie hängt sich ans Smartphone, ruft Parteikolleg:innen an, saugt auf, was Twitter, Medien, Chats ausspucken. Die Welt ist von nun an im Schleudergang – und Lang dort, wo es besonders heftig rüttelt. Erst knapp vier Wochen zuvor ist sie mit 76 Prozent der Stimmen zur Co-Chefin der Grünen gewählt worden, mit 28, als jüngste Vorsitzende, die eine deutsche Regierungspartei je hatte. Sie kann gut reden, weiß, wie man Mehrheiten organisiert, mit Klimaschutz und sozialer Gerechtigkeit hat sie sich Themen auf die Fahne geschrieben, die für den Erfolg der Koalition entscheidend sein könnten.

Und doch kennen die meisten sie zu diesem Zeitpunkt nicht wegen ihrer Politik, sondern wegen eines Tweets, den sie 2018 als Grüne-Jugend-Chefin postete: "Pummelchen, abstoßend, fette Sau. Ich will, dass alle, die mir so was schreiben, wissen, dass ihre Beleidigungen für mich Ansporn sind, jeden Tag weiterzukämpfen für eine Welt, in der Frauen selbstbestimmt leben können!", darunter Lang, lächelnd, mit Eis und Stinkefingerkarte.

Eine junge Frau, die ihren Hatern den Mittelfinger zeigt: Das imponierte damals vielen. Sie stieg rasch auf, ist jetzt Parteichefin. Doch es gibt auch viele Grüne, die sich schwer mit ihr tun: zu jung sei sie, zu links. Lang könnte das bremsen. Doch wie bei den Hatern im Netz scheint sie der Gegenwind auch hier eher zu beflügeln. Woher kommt das? Und wohin wird sie das noch bringen?

Die Macht

Berlin, Grünen-Zentrale, April 2022: Ricarda Lang, grünes Kleid, weiße Sneaker, eilt in den Besprechungsraum wie auf einen Bahnsteig, von dem der Zug gleich abfährt. Es sind wilde Tage: Impfpflicht-Hickhack, Waffenlieferungsdebatte. Doch als Lang erst mal sitzt, wirkt sie geradezu gut gelaunt. Als stellvertretende Vorsitzende habe sie es oft frustrierend gefunden, bei wichtigen Entscheidungen anderen den Vortritt lassen zu müssen, sagt sie. "Jetzt ist jede Krise meine Krise, und ich merke, wie ich daran wachse."

Ricarda Lang: Ricarda Lang mit Lars Klingbeil und Christian Lindner
In der Koalition hat sich Ricarda Lang Respekt erarbeitet – etwa von SPD-Chef Lars Klingbeil und FDP-Chef Christian Lindner.
© Future Image / imago images

Macht, findet Lang, sei ja erst mal etwas Gutes. Nur wer Macht habe, könne Dinge verändern. Schon als Grüne-Jugend-Chefin dachte sie so, arbeitete daran, den Verband relevanter zu machen. Als Vorsitzende wird sie ihre Partei in den nächsten Monaten immer wieder beschwören, die Plätze am Kabinettstisch als Chance zu sehen, für die man auch Kompromisse eingehen kann. Zumal in Kriegszeiten.

Doch wie weit dürfen die gehen? Sind Waffenlieferungen in die Ukraine okay? Kohle- und Atomkraftwerke, die weiterlaufen? Das mit sich und ihrer Partei auszuhandeln, ist die eine Nuss, die Lang dieses Jahr knacken muss.

Die andere betrifft die Rolle, die sie als Politikerin künftig spielen will. Die Schubladen, in die sie bislang einsortiert wurde ("Body-Positivity-Ikone", "Queer-Feministin") sind ihr längst zu eng geworden. Doch Schubladenwechsel in der Politik sind mühsam, erst recht, wenn die alten Kisten so gut ins Bild passen, das sich die Welt von jungen Frauen macht.

Das Hadern

"Solche Augenringe!", ruft Lang und lacht. Während eine Visagistin sie abpudert, witzelt sie darüber, welche Spuren ihr Amt wohl an ihr hinterlassen wird. Es ist Juli, sie sitzt im Backstagebereich eines Events der "Zeit" in Hamburg, gleich soll sie über "Die Utopie des Sozialstaats" sprechen.

Statt Video-Calls sind nun wieder Vor-Ort-Termine möglich, und man merkt, wie Lang das genießt. Schon als Jugendliche habe sie den steten Austausch mit anderen gebraucht, sagt sie, das Quatschen, Streiten, Diskutieren. Mindestens drei Ricardas lassen sich bei solchen Gelegenheiten beobachten: Da ist die angriffslustige Talkshow-Gästin, die ihre Gegner:innen mit Argumentationssalven und ironischen Spitzen an die Wand drängt. Die überschwängliche Parteifreundin, die Mitstreitende herzt und drückt und zwischen Wortkaskaden gern in explosives Gelächter ausbricht. Ziemlich oft, so hört man aus Grünen-Kreisen, nehme sich Lang im Beisein von anderen aber auch bewusst zurück, beobachte, höre zu, frage nach.

Vor allem diese eher besonnene Seite hilft ihr bei den vielen Gesprächen, die ihr Co-Vorsitzender Omid Nouripour und sie seit Kriegsbeginn mit der Parteibasis führen. "Das eigene Hadern transparent machen, Entscheidungen erklären", beschreibt sie ihre Strategie, wenn sie in solchen Runden versucht, etwa Ex-Brokdorf-Aktivist:innen klarzumachen, warum man AKWs am Netz lassen muss. Nicht jede Entscheidung in diesem Jahr sei schmerzfrei gewesen, sagt sie, doch: "Ich halte diese Entscheidungen für richtig."

Ricarda Lang: Ricarda Lang und Aminata Touré
Im Landtagswahlkampf 2022 mit Aminata Touré, heute Schleswig-Holsteins Sozialministerin.
© penofoto / imago images

"Glatt nach oben", lautet der Titel eines "Spiegel"-Porträts über sie im Sommer, Tenor: Die will mit ihrem Pragmatismus nur Karriere machen. Spricht man Lang darauf an, ist sie spürbar angefasst. "Ich mach das doch nicht für mich", sagt sie. "Sondern weil wir endlich da sind, wo wir was verändern können. Dafür braucht es Geduld, gegenseitigen Respekt und den Willen zum Kompromiss, der auch trägt."

Die Mutter

Dass Lang der Abschied von manchen urgrünen Prinzipien vergleichsweise leichtfällt, hat viel mit ihrem Weg in die Politik zu tun: Weder Friedens- noch Anti-Atomkraftbewegung trieben sie in die Partei. Ihre Oma väterlicherseits habe noch gegen die Stationierung von Pershing-Raketen protestiert, erzählt sie. Doch die Oma starb, als Lang klein war, ihren Vater, den 2019 verstorbenen Bildhauer Eckhart Dietz, sah sie nur am Wochenende, sie wuchs bei ihrer Mutter und der anderen Oma auf, in Nürtingen, einer Kleinstadt nahe Stuttgart.

Über ihre Mutter spricht Lang sehr liebevoll, ihre Stimme, sonst oft kratzig-kühl, wird dann ganz warm: Feministin sei die bis heute und als alleinerziehende Sozialarbeiterin oft zerrissen gewesen zwischen Vollzeitjob und Muttersein. "Ich hatte eine sehr schöne Kindheit. Eben weil meine Mutter immer so für uns gekämpft hat." Lang selbst konnte mit Feminismus und Politik erst wenig anfangen. Doch dann verlor die Mutter ihren Job, weil dem Frauenhaus, in dem sie arbeitete, die Gelder gestrichen wurden. Lang war empört, wollte etwas verändern, mit 18 landete sie bei der Grünen Jugend.

Wenn Menschen arm sind, liegt das nicht an ihnen, sondern an den Strukturen: Davon ist sie seitdem überzeugt. "Armut ist kein Naturgesetz, sondern eine politische Entscheidung", ruft sie an diesem Abend in Hamburg ins Publikum. Eine typische Lang-Botschaft: bisschen Pathos, bisschen Provokation, und so prägnant, dass sie sich gut auf einer Instagram-Kachel machen würde, die auch Leute teilen, die von den Grünen mit ihrem Akademiker:innen-Image eher Abstand halten.

Für sie will Lang die Partei öffnen. Denn über Menschen am unteren Ende der Lohnskala spricht man in Grünen-Runden nach wie vor oft wie über bedauernswerte Abgehängte – statt mit ihnen. "Paternalistisch" findet Lang das. Wie es sich anfühlt, weiß sie. "Die Ricarda hat’s ja auch nicht einfach", hätten die Leute in Nürtingen oft geseufzt, wenn sie über ihre Mutter und sie sprachen, sagte sie in einem Podcast. "Das fand ich unerträglich, weil es so herablassend war gegenüber meiner Mutter. Als würden Kinder von Alleinerziehenden unter ihren Eltern leiden und nicht unter der Gesellschaft, die dafür sorgt, dass ihre Eltern es verdammt schwer haben."

"Lass dir von keinem sagen, wer du sein sollst", gab ihre Mutter ihr damals mit. Sucht man nach einem Satz, der Langs Machtbewusstsein erklärt und auch die Vehemenz, mit der sie sich gegen Stempel von außen wehrt, ist es wohl dieser.

Die Wandlung

Eigentlich finde sie den Zwang, sich ständig ums eigene Image zu kümmern, ja nervig, hat sie im April noch gesagt: "Interessanter ist doch: Was will ich, was wollen wir politisch erreichen?"

Ihren Schubladenwechsel packt sie dennoch sehr entschieden an: Sie übt mit einem Stimmtrainer, langsamer zu sprechen, zähmt ihre Gestik. Zum Thema Hate Speech äußert sie sich kaum noch. "Es war wichtig, darüber geredet zu haben. Um mir die Deutungsmacht zurückzuholen, anderen zu zeigen: Du bist nicht allein. Aber es frisst viel Zeit. Und ich bin nicht in die Politik gegangen, um mich gegen Hate Speech zu wehren. Sondern weil ich bestimmte Themen wie Klimaschutz und Gerechtigkeit vorantreiben will."

Der Krieg, so zynisch das klingt, hilft ihr dabei. Weil er genau diese Themen in die Debatte spült. Auch früher hat sie dazu gearbeitet, aber die Shitstorms um ihren Körper übertönten das oft. Kaum eine Woche, in der sie 2022 nicht in einer Talkrunde sitzt, zusätzlich wird sie ihre Forderungen per Twitter los. 130 000 Follower hat sie dort, ihr Co-Vorsitzender hat nicht halb so viele. Über ihren weiteren Weg wird unterdes immer wieder getuschelt, man traut ihr so einiges zu: Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Erbin von Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Lang sagt: Sie sei momentan genau richtig, wo sie ist.

Die Zeit

Luisa Neubauers Stimme bebt. Was die Regierung gegen den Klimawandel tue, reiche nicht, ruft die "Fridays for Future"-Aktivistin und Grüne im Oktober 2022 von der Bühne des Grünen-Bundesparteitags. "Lässt man die Klimakrise nur eine Sekunde aus den Augen, kommt sie in zehnfacher Wucht auf uns zurück!" Lang sitzt im Publikum, klatscht. Die Kritik gilt auch ihr. Doch den Druck der Zeit spürt sie selbst. Nicht nur der Krieg werfe sie bei vielem zurück, hat sie einige Wochen zuvor in ihrem Abgeordnetenbüro gesagt. Auch die Behäbigkeit des Politikbetriebs. Sie habe das unterschätzt.

Lang wirkte erschöpft bei diesem Treffen. Am Wochenende hatte sie wieder durchgearbeitet, Nachtsitzung, "Drittes Entlastungspaket". Wie bei allen Spitzenpolitiker:innen ist auch ihr Privatleben 2022 aufs Minimum geschrumpft. Statt zu lesen, spielt sie jetzt abends zum Runterkommen höchstens "Zelda" auf der "Nintendo Switch". Ab und zu ein Treffen mit ihrem Freund, der außerhalb Berlins arbeitet, im Sommer eine Woche Italienurlaub. Selbst da saß sie in Online-Runden.

Langs wahre Herausforderung als Parteichefin, das wird Ende 2022 klar, sind weder Trolle noch Stempel. Es ist das Dranbleiben an den großen Zielen. Sie mache es nun so, sagte sie in ihrem Büro: "Ich identifiziere die Schritte, die zum Ziel führen, und kämpfe für jeden davon.“ So bleibt man wenigsten nicht stehen.

Mit dieser Botschaft tritt sie im Oktober nach Neubauers Rede zu ihr auf die Bühne: "Wenn die Entscheidung ist zwischen etwas zu tun, was nicht perfekt ist, und gar nichts zu tun, werden wir uns für die nicht perfekte Lösung entscheiden."

Lang und Neubauer sind befreundet, seit sie 2018 bei der ersten "Fridays for Future"-Demo zusammen vorm Bundestag standen. Der Auftritt der beiden ist daher auch ein wohlkalkulierter Schulterschluss. "Wir sind unterschiedliche Wege gegangen, haben heute unterschiedliche Rollen", ruft Lang. Doch um das Klima zu retten, müsse man weiter zusammenarbeiten. Beim Gang von der Bühne legt sie Neubauer die Hand auf den Rücken.

Drei Monate später, Mitte Januar, sitzen die beiden bei "Anne Will". Neubauer erklärt, wieso sie gerade mit Tausenden gegen die Räumung von Lützerath protestiert hat. Lang erklärt, wieso die Grünen den Kompromiss mit dem Energiekonzern RWE eingegangen sind, der das Abbaggern der Kohle unter dem Weiler ermöglicht. Es ist eine Situation, die Lang inzwischen gut kennt: Sie verteidigt eine Entscheidung, mit der sie hadert, die sie aber grundsätzlich richtig findet – schließlich steige RWE nun früher aus der Kohle aus, fünf Dörfer würden gerettet. Und wieder richtet sie den Blick aus dem Dilemma nach vorn. Man müsse jetzt auf die nächsten Jahre schauen, sagt sie zu Anne Will: erneuerbare Energien ausbauen, Kohle teurer machen, den Ausstieg überall schaffen.

Es sind viele Ziele – für eine Partei, die es gerade fast zerreißt. Lang wirkt trotzdem schon fast wieder zuversichtlich. Die Schritte sind klar. Der Gegenwind bläst. Und mit Stürmen, da kennt sie sich aus.

Steiler Aufstieg: Ricarda Lang, 1994 in Filderstadt geboren, wächst als Kind einer alleinerziehenden Sozialarbeiterin auf. 2012 tritt sie der Grünen Jugend bei, 2017 wird sie deren Sprecherin, 2019 stellvertretende Parteivorsitzende, ihr Jurastudium bricht sie daraufhin ab. Neben ihrem Kampf gegen Hassrede im Netz macht Lang vor allem ihr Einsatz für LSBTIQ*-Rechte bekannt, 2021 zieht sie als erste offen bisexuelle Abgeordnete in den Bundestag ein. Seit Februar 2022 führt sie die Grünen zusammen mit Omid Nouripour.

Brigitte

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