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Respektlosigkeit: Haben wir verlernt, freundlich zu sein?

Haben wir verlernt, freundlich zu sein?
© Olena Yakobchuk / Shutterstock
Haben wir verlernt, freundlich zu sein? Auf der Straße, im Supermarkt, im Internet - gefühlt wird überall gepöbelt und beleidigt. Woher kommt diese Welle der Respektlosigkeit? Und wie können wir sie aufhalten?

BERLIN, EIN FREITAGMORGEN. Als Rettungskräfte versuchen, ein Kind zu reanimieren, baut sich ein Mann vor ihnen auf, brüllt "Fahrt die Scheiß-Karre beiseite!" und tritt mit einem "Verpisst euch, ich muss zur Arbeit!" gegen den Außenspiegel des Notarztwagens, der sein Auto zuparkt. In Baden-Württemberg tritt ein Fünftklässler seiner Lehrerin erst gegen das Schienbein, dann in die Magengrube, weil sie ihn im Unterricht zurechtgewiesen hatte. Und in Hamburg beißt ein Schwarzfahrer einer "Bullensau" so herzhaft in die Hand, dass diese ambulant behandelt werden muss.

Respektlosigkeit lähmt, sie macht ohnmächtig. Und sie macht Angst.

Man liest solche Meldungen mit einer Mischung aus Schnappatmung und Kopfschütteln, und wären es nicht so viele, könnte man sie vielleicht in der Schublade "Mal wieder ein Irrer" oder "Mann beißt Hund" wegsortieren.

Doch genau das fällt immer schwerer. Nicht nur, weil Sanitäter und Polizisten, also Menschen, die dazu da sind, uns zu helfen oder zu schützen, angegriffen werden. Weil in Schulen die Hälfte aller Lehrkräfte über Beleidigungen, Bedrohungen und Gewalt von Schülern klagt. Sondern weil jeder aus dem Stegreif eine Rüpel-Anekdote erzählen kann: von dem Kerl, der sich an der Kasse vordrängelt ("Chill mal, Mutti"), dem Fahrradfahrer an der Ampel, der hinter einem "Ist grün, Alter" brüllt, der Frau, die sich in die Bahn quetscht, während man selbst brav an der Tür alle aussteigen lässt.

Vor Kurzem fuhr mir, als ich mit unserem Hund spazieren ging, ein Mann mit einem Bootswagen, auf dem er ein Kanu transportierte, über den Fuß, ich habe heute noch Striemen am Rist. Als ich ihn mit einem Schmerzschrei darauf aufmerksam machte, rief er: "Selbst schuld, wenn du mit der Töle nicht zur Seite gehst." - "Wie bitte?", japste ich irritiert. Antwort: "Alte Fotze." Ich überlegte, ihm nachzulaufen, den Hund auf ihn zu hetzen, ihn anzuspucken, mit dem Ruder zu erschlagen, ihn anzuzeigen, zu heulen, und was tat ich? Ich stand zur Salzsäule erstarrt da und rang nach Luft. Fassungslos, hilflos.

Respektlosigkeit lähmt, sie macht ohnmächtig. Und sie macht Angst. Wir sind mit der Selbstverständlichkeit groß geworden, dass die meisten Menschen ein Gefühl dafür haben, nicht allein auf der Welt zu sein, und wissen, wie man sich verhält, um vernünftig zusammenzuleben. Doch irgendwie scheint dieses Gefühl abhandengekommen zu sein.

Der soziale Schmierstoff, der regelt, wie wir miteinander umgehen wollen, schmiert nicht mehr.

Manchmal hat man den Eindruck, Freundlichkeit und Rücksicht sind Relikte aus einer Zeit, in der es VHS-Kassetten gab, Postleitzahlen vierstellig waren, US-Präsidenten nicht twitterten und deutsche Politiker keine Sätze sagten wie "Ab morgen gibt es in die Fresse" (Andrea Nahles).

Woher kommt diese Rohheit, diese Feindseligkeit?

"Wir leben in einer Ego-Gesellschaft", erklärt der Hamburger Psychologe Hartwig Hansen. "Jeder ist so damit beschäftigt, an seiner eigenen Performance zu basteln, sich zu optimieren, dass wir verlernen, miteinander zu kommunizieren." 

Die Folge: Zwischenmenschliche Kontakte werden anonymer, unverbindlicher, indirekter. All das, was sie anstrengend macht - Verbindlichkeit, auf den anderen eingehen, eigene Bedürfnisse zurückstellen -, vermeiden wir. "Das ist aber genau das, was Beziehung ausmacht", so Hansen. "Hektische Kurznachrichten per Handy sind im Grunde eine Kommunikation mit sich selbst: Was brauche ich vom anderen, und wie kriege ich es möglichst schnell? Wir beziehen uns kaum noch wirklich aufeinander." 

Empathie entsteht aber nicht digital. Denn physische Distanz schafft soziale Distanz. Forscher der Universität Padua zeigten kürzlich, dass empathische Reaktionen bereits nachlassen, wenn man den Abstand zu seinem Gegenüber um zwei Meter vergrößert. Man kann sich dann in etwa ausmalen, wie viel Mitgefühl durch ein Handy kriechen kann.

Die Kommunikation ist schneller geworden - und härter

Die Art, wie wir digital kommunizieren, färbt nicht nur darauf ab, wie wir analog miteinander umgehen, sondern auch auf die Sprache selbst. "Die Kommunikation ist schneller geworden, Sätze sind heute deutlich kürzer als vor 20 Jahren, und die Ansprache ist direkter", bestätigt Sprachwissenschaftler Prof. Dr. Thomas Niehr von der RWTH Universität Aachen.

Akademische Titel, umständliche Höflichkeitsformeln sind in unserer schnellen Welt fehl am Platz. Während Grundschüler früher stramm standen und "Guten Morgen, Herr Schnabelstedt" schmetterten, duzen sie heute ihre Lehrer. "Sprache passt sich immer den Verhältnissen an, in denen wir leben", sagt Niehr. "Das hat weniger mit mangelnder Höflichkeit zu tun als mit flacheren Hierarchien. Da hat die Generation der 68er Spuren hinterlassen."

Oder liegt es doch nur am Altersunterschied?

Fraglich ist, wer die Spuren bei den drei Teenagern hinterlassen hat, denen ich vor Kurzem mit meiner Tochter (ebenfalls Teenager) begegnete. Das Wortgefecht, das sich die Jungs lieferten, ging in etwa so: "Schmier dir mal das Gel aus den Haaren, du schwules Opfer", "Hurensohn, ich besorg’s dir", "Kelek, Digger, soll ich Dir ’n Ding verpassen?" Instinktiv zog ich meine Tochter zur Seite. "Warum?" fragte sie. "Um der Schlägerei zu entgehen, die hier gleich beginnen wird." - "Wieso denn?", fragte sie. "Die unterhalten sich doch bloß." 

"Welches Verhalten, welchen Umgangston eine Generation für angemessen hält, lässt sich nicht automatisch auf die nächste übertragen", sagt Linguist Niehr. Abgesehen davon sei der Konflikt Jung gegen Alt eine ewige Baustelle. Schon Sokrates beschwerte sich über die Jugend: Sie verachte die Autorität, habe schlechte Manieren und keinen Respekt vor älteren Leuten.

Vielleicht wird die Welt um uns herum also gar nicht respektloser, sondern wir einfach nur alt? Christina Mölders, Psychologin und Respektforscherin, lacht. Es klingt jung, ihr Lachen. "Das Empfinden von Respekt oder Respektlosigkeit", sagt sie, "ist immer eine Frage der eigenen Ansprüche." Jeder müsse sich das selbst fragen: Was ist für mich akzeptabel, was überschreitet meine Grenze? Hinzu kommt: "Unser Gehirn hat eine Vorliebe für negative Nachrichten. Beispiel Straßenverkehr: Ich kann sagen: Da sind lauter Rüpel unterwegs. Ich kann aber auch sagen: Da sind eine Menge Autofahrer, die sich bemühen, mich nicht über den Haufen zu fahren." 

Nimmt der Respekt wirklich ab - oder glauben wir das bloß?

Mit einem interdisziplinären Forscherteam hat die Psychologin in der Respect-Research Group der Universität Hamburg Respekt in verschiedenen Sektoren der Gesellschaft beleuchtet. Wenn jemand sagen kann, ob er nicht nur gefühlt, sondern belegbar abnimmt, dann sie. Ihre Antwort: "Ja und nein." 

Es gibt, erklärt sie, mindestens zwei Formen von Respekt: den vertikalen, den ein Mensch ausschließlich aufgrund seiner Fähigkeiten oder Leistung verdient - dieser Respekt führt auch dazu, dass wir jemandem gern und freiwillig folgen. Und es gibt den horizontalen Respekt, der im moralischen Sinn Immanuel Kants auf der Achtung und Gleichwertigkeit der Menschen beruht. "Eine Abnahme beobachten wir nur beim Respekt vor Autoritäten - im Sinne einer Hörigkeit", so Mölders. "Wir folgen jemandem nicht mehr fraglos - bloß weil er eine formale Position hat." Wichtiger für unser Zusammenleben sei jedoch der horizontale Respekt, denn er entscheidet darüber, ob wir anderen auf Augenhöhe begegnen - egal welcher Herkunft, sozialen Schicht, politischen Gesinnung, Religion oder Hautfarbe.

Fest steht: Respekt ist der Grundpfeiler einer jeden Beziehung

Unsere Gesellschaft ist komplexer und heterogener geworden. Aber statt uns damit auseinanderzusetzen, ziehen wir uns in Grüppchen zurück: mit Menschen, die eine ähnliche Herkunft, Bildung, Meinung haben. Dort fühlen wir uns sicher. Der Rest überfordert uns. Wir fühlen uns ausgeliefert in einer Welt, in der alte Werte nicht mehr zu zählen scheinen, in der Politiker und Manager lügen und Investmentbanker vor Gier die Moral vergessen. Während wir die Folgen von Finanzkrise und Dieselskandal tragen, kommen die Verantwortlichen ungeschoren davon. Diese Ohnmacht sucht sich einen Ausdruck: in Form von Hass und Wut.

WIR MÜSSTEN MEHR MITEINANDER REDEN, mahnte Frank-Walter Steinmeier in seiner Weihnachtsansprache. Lernen, unsere Unterschiede auszuhalten. Doch das ist leichter gesagt als getan. "Der erste Impuls ist häufig, andere aufgrund ihrer Haltung, anderen Meinung oder Einstellung abzuwerten", sagt Psychologe Hansen. "Aber damit ist keinem geholfen, im Gegenteil: Der andere macht dann instinktiv dicht, geht in den Kampfmodus." 

Wer sich herabgesetzt fühlt, wird Gegenstrategien entwickeln: beleidigen, provozieren, sich als stark darstellen. Man kann das schön an Donald Trump sehen. Weil er trotz seines Reichtums von der kulturellen Elite immer verhöhnt wurde (und wird), begann er, sie zu beleidigen - mit 280 Zeichen. Es ist leicht, sich über Trump lustig zu machen, aber kontraproduktiv. Denn damit erhebt man sich über ihn, respektiert ihn aber nicht. Würde man ihm auf Augenhöhe begegnen, wäre er vermutlich automatisch offener. Ein Dialog könnte entstehen, im besten Fall gegenseitiges Verständnis. Denn nur wer Respekt erfährt, kann ihn auch anderen entgegenbringen. "Das ist", sagt Hansen, "der Grundpfeiler einer jeden Beziehung."

Theoretisch wissen wir das. Praktisch geht es vielen von uns aber so, dass wir den ganzen Tag mit so viel Anspannung durchs Leben navigieren, dass wir abends in unser Zuhause plumpsen und dort völlig erledigt erst mal alles abladen: den Frust, die Anspannung, die heruntergeschluckte Wut. Höflichkeit, Respekt und Rücksicht bleiben dann zusammen mit den unbequemen Büroschuhen leider vor der Haustür stehen. "Wer seinen Partner verächtlich behandelt, sich über ihn erhebt, beschädigt die gegenseitige Achtung", warnt Hansen. "Und von dort ist es nur ein kleiner Schritt bis zur Verachtung. Dann ist eine Beziehung kaum mehr zu retten."

Soziale Medien begünstigen die Respektlosigkeit

In den sozialen Medien funktioniert Verachtung besonders gut. Da muss man die Reaktion des Gegenübers nämlich nicht aushalten. Sportreporterin Claudia Neumann bekam das zu spüren, als sie es wagte, als Frau ein EM-Fußballspiel live zu kommentieren. Sie wurde so wüst beschimpft, dass das ZDF Anzeige erstattete.

"Ich bin neugierig, wie wir soziale Medien in zehn Jahren betrachten", sagt Psychologin Mölders. "Im digitalen Zeitalter befinden wir uns ja erst in den Anfängen. Die spannende Frage ist: Schaffen wir es, dass soziale Normen, die wir über Jahrtausende in der analogen Welt erarbeitet und etabliert haben, irgendwann auch in den sozialen Medien greifen?"

Wie das gehen könnte, hat gerade der US-Komiker Patton Oswalt demonstriert. Nachdem ihm ein älterer Herr per Twitter den Tod wünschte, reagierte Oswalt mal anders: Er sah sich dessen Timeline an und erkannte, dass es sich um einen frustrierten Schwerkranken handelte, der seine Arztrechnungen nicht zahlen konnte. "Da wäre ich auch sauer", schrieb Oswalt und startete eine Spendenkampagne für den Herrn. Über 30.000 Dollar kamen bisher zusammen. Und der Mann? Bedankte sich bei Oswalt - dafür, dass er ihn Demut gelehrt und zum Nachdenken gebracht hätte. Er werde, schrieb er, seine Worte und Positionen neu überdenken. Na also: geht doch.

Ein Artikel aus BRIGITTE Woman 04/19

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