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Aids-Waisen in Uganda: Irene ist jetzt Mutter für ihre drei Geschwister

Arbeitet hart, bleibt beisammen - das ist das Vermächtnis von Irenes Eltern für ihre Kinder. Seit drei Jahren sorgt sie ganz allein für ihre Familie. Mit einem festen Vorsatz: Sie will sie vor dem Abstieg retten.

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Irene Naku fischt eine Pappschachtel mit Fotos aus dem Gefrierfach, in dem es schon lange keine Eisschicht mehr gibt; der Kühlschrank ist nicht angeschlossen, der Strom ist zu teuer. "Da", sagt sie, "das ist mein Lieblingsfoto", dann streicht sie mit den Fingerspitzen über die Aufnahme: ein Paar in Abendgarderobe, der Mann muskulös mit schmalem Oberlippenbart, die Frau mit strahlenden Augen, als habe sie soeben die beste Nachricht ihres Lebens erhalten. Ihre Haare sind kunstvoll hochgesteckt, und um ihr Kleid aus pfirsichfarbenem Satin hat sie eine üppige Schärpe geschlungen. "So schön wie meine Mutter wäre ich auch gern", sagt Irene. Irenes Eltern, Hanifa und Gerald, sind seit fast drei Jahren tot, nacheinander innerhalb eines Monats an Aids gestorben, Gerald war 45, Hanifa 35. Zwei Menschen, die es am Stadtrand von Kampala zu bescheidenem Wohlstand gebracht hatten - er mit seinen handwerklichen Fähigkeiten rund ums Fliesenlegen und Häuserbauen, sie als Friseurin und Kosmetikerin in den besseren Bezirken der ugandischen Millionenstadt am Viktoriasee.

Zurück blieben ihre vier Kinder: Irene, heute 16. Alex, 14. Alexa, 13. Viviane, 4. Wer in Zukunft Haushaltsvorstand sein würde, war keine Frage: Irene, die Älteste, die schon vorher die Schule aufgegeben hatte, um die sterbenden Eltern zu pflegen, obwohl sie eine so gute Schülerin war. Ihre Stimme wird dünn, wenn sie schildert, wie das war, als die Eltern immer schwächer wurden. "Papa hat auf dem Bau gearbeitet, er war immer so stark", sagt sie und kämpft mit den Tränen. "Aber auf einmal konnte er nicht einmal mehr einen Ziegelstein heben. Als dann auch Mama sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, wollten wir immer noch nicht glauben, dass die beiden nie wieder gesund werden." Dass sich ihre Eltern mit dem HIV-Virus infiziert hatten und an Aids starben, darüber sprach niemand offen. "Wir dachten, sie haben eine Lungenentzündung", sagt Irene. "Woher sollten wir wissen, dass das Aids war? Niemand hat uns die Wahrheit gesagt. Einen Arzt konnten wir uns nicht leisten."

Vielleicht ahnten die Nachbarn, was los war. Gesagt haben sie nichts. Die Immunschwächekrankheit ist in Uganda allgegenwärtig, doch die meisten Menschen verhalten sich so, als könnten sie die Seuche durch Schweigen zum Verschwinden bringen. Alex ist als einziges der vier Kinder HIV-positiv zur Welt gekommen. Die Eltern hielten es geheim, was nicht schwer ist in Uganda. In der Schule dürfen Lehrer nicht danach fragen, auch wenn sie sehen, dass es einem Kind nicht gutgeht. Und auch in der Familie spricht man nicht darüber. Aids ist ein Tabu. Wenn Alex zu Hause seine Krankheit erwähnt, flüstert er.

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Alex ist Irenes größte Sorge. Gesunde Lebensmittel und Medikamente, die ihn körperlich stabilisieren könnten, kann sie sich nicht leisten. Bis auf ein paar Kochbananen hat sie ohnehin nichts Essbares im Haus. Ein Junge wie Alex hat kaum eine Chance, in eins der Aids-Hilfsprogramme aufgenommen zu werden, die internationalen Organisationen kümmern sich vorwiegend um junge Mütter und deren Babys. Alex ist zwar auf der Warteliste in einem der großen staatlichen Krankenhäuser als HIV-positiv registriert, aber es kann lange dauern, bis er an die Reihe kommt, um dann regelmäßig Medikamente zu bekommen. Auch Irene erwähnt die tödliche Immunschwäche-Krankheit so selten wie möglich. Sie hat gesehen, wie es ihren Nachbarinnen erging: den Schwestern Gloria, 17, und Sarah, 10, die ebenfalls ihre Eltern durch Aids verloren haben. Beide sind von Geburt an HIV-positiv. Früher haben sie offen darüber geredet, doch seit dem Tod der Eltern gehen ihnen Verwandte und Nachbarn aus dem Weg, Freunde haben sie auch nicht mehr. HIV und Aids gelten als Schande, egal, wie es zu der Ansteckung kam. Niemand will mit Gloria und der kleinen Sarah etwas zu tun haben. Dieses Schicksal will Irene sich und ihren Geschwistern ersparen. "Auch wir würden sofort ausgegrenzt, wenn jemand Bescheid wüsste", sagt sie.

Die Siedlung Naweru ist kein Slum, aber auch kein wohlhabendes Viertel. Es gibt ein paar Lädchen, in denen Reis, Tomaten und Waschpulver verkauft werden. Die Wege sind vom tropischen Regen zu halsbrecherischen Furchen ausgewaschen - für Autos weitgehend ungeeignet. Frauen fegen die festgestampfte rote Erde vor ihren Haustüren. Die Wasserstelle benutzen Menschen und Vieh gemeinsam. Wer hier wohnt, hat nichts zu verschenken. Elternlose Kinder müssen selbst zusehen, wie sie über die Runden kommen.

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Anfangs kümmerten sich die Nachbarinnen noch um die Geschwister. Wenige Wochen nach der Beerdigung der Eltern war es damit vorbei. Nur die moslemische Gemeinde, die ganz in der Nähe eine Moschee unterhält, bedankt sich einmal im Monat mit Lebensmitteln dafür, dass Irene gelegentlich als Lehrerin in der Koranschule aushilft. Sie ist, obwohl sie selbst die Schule abrechen musste, ein pädagogisches Naturtalent und wird von den islamischen Kindern geradezu verehrt. Sie selbst ist Christin, sieht darin aber keine Probleme. "Wir respektieren uns gegenseitig", sagt sie. Jeden Sonntag gehen die vier Waisen in eine kleine Kirche, deren Pfarrer eine schlichte, aber strenge Auslegung der Bibel predigt. Aids ist für ihn von Gott gesandt, als Strafe für ein sündiges Leben. Von ihm holt sich Irene das moralische Rüstzeug, um durchzuhalten. Sie glaubt, dass Gott ihr helfen wird, wenn sie nur anständig bleibt und fleißig betet. Ihr Rezept, das ihr hilft, sich von ihren Sorgen nicht erdrücken zu lassen, hat sie auch vom Pfarrer: "Ich will jeden Tag etwas finden, worüber ich mich freuen kann", sagt sie mit großem Ernst. Ein unerwarteter Besuch, ein freundliches Gespräch, eine geschenkte Tomate.

Eng kuscheln sich die vier Geschwister auf dem Kunstledersofa aneinander. Es ist eines ihrer letzten Möbelstücke, nach dem Tod der Eltern haben sie fast alles verkauft, auch Radio und Fernseher. Sie brauchten Geld, die Krankheit der Eltern hatte die Ersparnisse aufgezehrt. Ein leerer Bilderrahmen aus grünem Glas ist der einzige Luxusgegenstand, von dem sich die Geschwister nicht trennen wollten.

Immerhin haben sie ein Dach über dem Kopf, das Häuschen aus unverputzten Ziegeln, das wie ein Vogelnest am Hang klebt, macht ihnen niemand streitig: Ihre Eltern stammten aus dem weit entfernten Norden Ugandas, Angehörige hatten sie in Kampala nicht. Viele Aids-Waisen haben weniger Glück, oft reißen sich Verwandte ihr Haus unter den Nagel und setzen die Kinder auf die Straße. Andere werden an Onkel und Tanten verteilt, wo sie nicht immer willkommen sind. Keine Statistik weist aus, wie viele Kinderhaushalte es in Uganda gibt. Aber in der wuchernden Millionenstadt kennt fast jeder solche tapferen Kinder, die sich jahrelang irgendwie allein durchs Leben schlagen.

Irene setzt ihre kleine Schwester Viviane auf den Fußboden, den Vater Gerald noch eigenhändig gefliest hat. Kein Fleck, kein Staub stört die Vierjährige beim Spielen. "Als Mama noch lebte, war auch immer alles sauber", sagt sie. Dann geht sie vor die Tür, gießt Wasser aus einem gelben Kanister in eine Plastikschüssel. Erst schrubbt sie darin eine Handvoll welker Bohnen, die ihr jemand geschenkt hat. Dann wäscht sie in dem Wasser ein paar Tassen ab, und anschließend setzt sie die vierjährige Viviane in die Schüssel. Ganz zum Schluss schleppt Irene die Schüssel ins Haus zurück und wischt mit dem restlichen Wasser den Fußboden noch sauberer. "Wir müssen sparsam mit dem Wasser umgehen, denn der Weg zum Brunnen ist weit", sagt sie.

Für ihre Geschwister würde sie alles tun. Sie nimmt jede Arbeit an, die auch nur ein bisschen Geld bringt. Sie putzt, wäscht, kocht sechs Tage die Woche für fremde Leute. Trotzdem bringt sie nach zehn Stunden Schufterei oft nicht viel mehr als zwei US-Dollar nach Hause. Das reicht gerade für die eine Mahlzeit am Tag, Matooke etwa, einen klebrigen ungewürzten Brei aus Kochbananen. Oder Posho, den blassgrauen Maisbrei ohne Salz, der ebenfalls zur ugandischen Standardnahrung gehört. Jede zerrissene Hose, jedes Stück Seife, das gebraucht wird, ist eine Herausforderung. Alex müsste neue Bleistifte für den Unterricht haben - woher nehmen? Die 13-jährige Alexa wächst so schnell, dass ihre Schuluniform nicht mehr passt - wer kann helfen? Aber Schule muss sein, da kennt Irene, die selbst sehr gern Lehrerin geworden wäre, kein Pardon.

Bevor die Eltern starben, gaben Gerald und Hanifa ihren Kindern ein paar wichtige Botschaften mit auf den Lebensweg. Arbeitet hart, seid bescheiden, bleibt beisammen. "Ich muss es den Kleinen vorleben. Wenn ich das nicht tue, haben sie überhaupt keinen Halt im Leben", sagt Irene.

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Zerbrechlich wirkt die 16-Jährige, in ihrem engen langen Rock sieht sie so zart aus wie ein Windhauch. Aber sie hat einen entschlossenen Gesichtsausdruck. Für Alex, Alexa und Viviane ist sie das Familienoberhaupt. "Sie weiß immer, was richtig ist", sagt Alex. Auch über Sexualität sprechen die Geschwister miteinander, Irene gibt dann weiter, was sie sonntags in ihrer Kirche hört: Ein keusches Leben und eheliche Treue sind der sicherste Schutz vor Aids. "Manchmal bin ich so müde, dass die Kleinen von sich aus anbieten, mir Arbeit abzunehmen", sagt sie. Aber meistens lehnt sie ab. Alex mit seiner Infektion soll sich körperlich nicht zu sehr anstrengen. Und bei Alexa, die ein bisschen pummelig und schüchtern ist, möchte Irene nicht, dass sie in fremden Haushalten arbeitet. "Sie ist noch Jungfrau, und wer weiß, auf welche Ideen die Männer kommen..."

Lieber rafft sich Irene auf und packt sich noch einen Auftrag auf ihre schmalen Schultern. "Madam" nennen die Leute im Viertel die 16-Jährige, und dabei schwingt nicht nur Bewunderung für so viel Pflichtgefühl und Fleiß mit. "Ein junges Mädchen muss doch auch einmal Spaß haben", findet Nachbarin Aisha Nassozi. "Wie will sie sonst jemals einen Mann zum Heiraten finden?" Aber so weit denkt Irene selten. Eigene Visionen vom Lebensglück hat sie tief in sich vergraben. "Solange ich für die Kleine sorgen muss, wird mich kein anständiger Mann wollen. Ugandische Männer kümmern sich kaum um ihre eigenen Kinder und noch viel weniger um ein fremdes Kind", sagt sie. "Und für einen Mann werde ich meine Geschwister auf keinen Fall im Stich lassen."

Kinder als Familienoberhaupt

20 Prozent aller Kinder im ostafrikanischen Uganda sind Aids-Waisen und schlagen sich irgendwie allein durch. Von den 32 Millionen Menschen in Uganda sind etwa eine Million mit Aids infiziert, seit 1982 sind über 1,6 Millionen an den Folgen gestorben. Dabei verzeichnete das Land am Äquator bis 2004 deutliche Erfolge bei der Bekämpfung der Krankheit: Die Zahl der Infizierten ging von 15 Prozent im Jahr 1992 auf etwa sechs Prozent zurück. Dann verfügte der ehemalige US-Präsident George W. Bush, dass amerikanische Entwicklungshilfe nur noch bekommen sollte, wer sich im Gegenzug verpflichtete, auf Familienplanung, Aufklärung und moderne Verhütungsmittel zu verzichten. Für Ugandas fortschrittliche Aids-Politik war das ein herber Rückschlag.

Die Deutsche Stiftung Weltbevölkerung kümmert sich um Waisen in Uganda: Konto 383 83 80, Commerzbank Hannover, BLZ 250 400 66, Stichwort "Aids-Waisen"

Gemeinsam mit der ugandischen Organisation Kitovu Mobile hilft die Kindernothilfe traumatisierten Aids-Waisen im südlichen Uganda: Konto 45 45 40, KD-Bank eG, BLZ 350 601 90, Stichwort "Kitovu Mobile"

Aids-Aufklärung und Projekte für positiv getestete Frauen unterstützt Plan International Deutschland, Konto 061 2812 02, Deutsche Bank, BLZ 200 700 00, Stichwort "HIV-Projekt in Uganda"

Text: Angelika Gardiner Fotos: Andrea Künzig Ein Artikel aus der BRIGITTE, Heft 11/2011

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