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Kopfkarussell Haben wir wirklich keine zwei Minuten, um einer älteren Dame zu helfen?

Schwarz-weiß-Zeichnungen von Menschen
© vectorbox / Adobe Stock
Im Alltagstrott verlieren wir oft das Auge für unsere Mitmenschen. Doch manchmal macht nur eine kleine Geste einen großen Unterschied. Heute Morgen hatte ich eine liebenswerte Begegnung mit einer älteren Dame, die nur ihre richtige Bahn finden wollte. Dass ihr zu helfen aber keine Selbstverständlichkeit für viele Menschen war, beunruhigt mich.

Mit meinen Kopfhörern im Ohr die Geräusche ausblendend, bemerkte ich erst gar nicht, dass sie mich ansprach. Doch dann schob sich der Kopf einer älteren Dame lächelnd in mein Blickfeld. Sie hatte ihren Rollator auf der Suche nach irgendeinem Menschen, der ihr helfen könnte, den Bahnsteig entlang geschoben.

"Es gibt nirgendwo Personal", sagte sie aufgebracht "und alle, die ich frage, sagen: 'Ich komme nicht von hier' und gehen weiter." Die ältere Dame hatte offensichtlich bereits eine Weile versucht, ihren Weg zur richtigen U-Bahn zu finden. Ich selbst bin ebenfalls nur Pendlerin, aber auf die U-Bahn-Karte zu schauen und die richtige Linie herauszusuchen, ist nun wirklich kein Aufwand.

Während ich mich zielstrebig in Richtung Karte umdrehte, kam uns auch schon eine weitere Frau zu Hilfe, die unser Gespräch gehört hatte und erklärte, welche Bahn zu besagter Station fahre. Gut für mich, denn ich hätte erst einmal den ganzen Plan absuchen müssen – oder alternativ hätte ich es eben gegoogelt. So konnten wir ihr direkt die richtige Richtung und die Farbe der U-Bahn, mit der sie fahren musste, mitgeben. Die Antwort hatten wir innerhalb von knapp zwei Minuten – aber für die arme Frau waren wir nicht die ersten Menschen, die sie gefragt hatte. Haben wir wirklich keine zwei Minuten Zeit für Menschen, die unsere Hilfe benötigen? 

Hilfe anbieten und erhalten: eine Win-Win-Situation

Ich fand es erstaunlich, dass niemand dieser Frau zuvor geholfen hatte. Natürlich wollten alle zur Arbeit, zur Schule, zur Uni – was auch immer – aber die Bahnen in Hamburg fahren so regelmäßig, dass man in den meisten Fällen problemlos eine spätere Bahn nehmen kann. Die ältere Frau war, bevor sie auf das falsche Gleis kam (nämlich meins) bereits eine Weile durch die Gegend geirrt – und hatte oben bereits bei anderen Personen ihr Glück versucht. Das war für sie vermutlich auch sehr anstrengend, da sie bereits auf eine Gehhilfe angewiesen war. Sie habe einen Arzttermin und sei schon spät dran, erklärte sie mir. Die Schrift des Fahrplans könne sie mit ihrer Brille nicht lesen. Was für eine stressige und blöde Situation.

Kleine Momente der Freundlichkeit und Zugewandtheit

Sich kurz Zeit nehmen und einer Person bestätigen, dass sie im richtigen Zug ist oder ihr erklären, welche Bahn korrekt ist. Das ist doch kein Aufwand. Es ist etwas, dass einem Menschen hilft, sich sicherer zu fühlen und weniger gestresst zu sein und es gibt der helfenden Person ebenfalls ein gutes Gefühl. Auch ich laufe oft mit Scheuklappen durch die Gegend, höre meine Umgebung meist nicht und versuche nur von A nach B zu kommen. Aber ich halte an, wenn mich jemand anspricht – und wenn uns jemand ganz nett und sichtlich verzweifelt um Hilfe bittet, können wir dann bitte das Handy zücken und nach der gewünschten Adresse und Bahnrichtung suchen? Mehr braucht es doch gar nicht.

Ich hoffe, die ältere Dame hat es zu ihrem Termin geschafft und vor allem auch wieder zurück. Durch sie hatte ich heute ein schönes Erlebnis, da ihr charmantes Fluchen über die Situation mit dem Anflug eines Lächelns mich an mich selbst in solchen Momenten erinnert hat. Sie war genervt, aber hat es trotzdem mit Humor genommen. Eine liebenswerte Interaktion mit Vorbildfunktion. Und ihre Dankbarkeit freut mich auch noch Stunden später, während ich hier darüber schreibe.

Ein Wunsch nach mehr Menschlichkeit und Empathie

Es gibt viele Momente, in denen ich mich frage, warum Menschen teilnahmslos sind. Beispielsweise wenn eine Frau mit Kinderwagen in den Bus einsteigt und Personen an der vorgesehenen Stelle sitzenbleiben, in der Hoffnung, dass sie nichts sagen wird. Wenn niemand Platz macht, obwohl eine ältere Person oder ein Elternteil mit kleinen Kindern stehen muss – wobei das Festhalten für die Kleinen wirklich schwierig sein kann. Wenn ein Mensch allein versucht, etwas Schweres die Treppe runter- oder hochzutragen und niemand hilft.

Wir alle waren selbst schon in diesen Situationen. Wir waren die Person, die schwere Koffer irgendwo hochtragen musste und unendlich dankbar für den Menschen war, der uns einen davon abgenommen hat. Wir waren die Person, für die jemand in letzter Sekunde die Tür in der Bahn geöffnet hat, weil sie uns rennen sah – oder der Mensch, der den Weg gesucht hat und ihn allein nicht finden konnte.

Wie schön es sich anfühlt, Hilfe zu bekommen, wissen wir alle – und je öfter wir mit offenen Augen und etwas Geduld durch unseren Alltag gehen, desto öfter können wir sie auch geben. Natürlich gelingt uns das nicht immer und in stressigen Situationen mag uns selbst das Leben gerade einfach zu viel sein. Ich möchte manchmal eben auch nur meine Ruhe und versuche, alles um mich herum zu ignorieren. Das muss manchmal sein. Aber denken wir doch bitte daran, was für einen großen Unterschied eine kleine Veränderung für einen anderen Menschen bereits machen kann. Das kann auch ein Kompliment zu einer spannenden Brille oder einem coolen Outfit sein, um jemandem den Tag zu versüßen.

Brigitte

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