Anzeige

"Es gibt kein Zurück!" - Die Schriftstellerin Katja Petrowskaja über die Gewalt in der Ukraine

Auf dem Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew, protestieren seit Tagen Tausende Ukrainer gegen die Regierung von Präsident Viktor Janukowitsch.
Auf dem Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew, protestieren seit Tagen Tausende Ukrainer gegen die Regierung von Präsident Viktor Janukowitsch.
© Imago/EST&OST
Die Gewalt in der Ukraine nimmt zu: Aus den friedlichen Protesten gegen die Regierung von Präsident Viktor Janukowitsch sind brutale Straßenschlachten geworden. Wie erlebt die ukrainisch-deutsche Autorin Katja Petrowskaja die Situation in ihrer Heimat?

BRIGITTE: Sie wohnen in Berlin, haben aber Familie und Freunde in der Ukraine. Was geht in Ihnen vor, wenn Sie mit ihnen sprechen, die Bilder der Gewalt sehen?

Katja Petrowskaja: Wir stehen alle unter Schock. Niemand hat die Situation mehr unter Kontrolle. Ich telefoniere mit meinen Eltern, im Hintergrund fallen Schüsse - und es ist kein Film! Seit dem zweiten Weltkrieg gab es keine Schüsse mehr im Zentrum von Kiew, erst recht keine Toten durch Proteste. Ich empfinde tiefe Trauer und habe große Angst, denn es gibt kein Zurück mehr. Der Geist wurde aus der Flasche gelassen: Die Gewalt, die Gekidnappten, die Gefolterten, die Toten sind eine historische Zäsur in unsere Gesellschaft.

Wie informieren Sie sich über die Entwicklungen in Ihrer Heimat?

Vor allem über soziale Medien wie Facebook und Twitter, weil sie schnell reagieren können. Sie sind bei uns viel politischer, die Menschen schreiben, was in den Medien nicht berichtet wird. Allerdings ist es auch schwierig, die Informationen aus diesem großen Topf sinnvoll zu filtern und zu strukturieren. Inzwischen veröffentlichen Medienberater und IT-Menschen sogar Anweisungen, wie man falsche von richtigen Informationen unterscheiden kann. Unabhängige Online-Medien schreiben und analysieren ebenfalls viel.

Katja Petrowskaja
Die ukrainisch-deutsche Schriftstellerin und Journalistin verfolgt die Entwicklungen in ihrer Heimat mit großer Sorge.
© Susanne Schleyer

Beteiligen Sie sich in irgendeiner Form an den Protesten?

In Berlin gibt es viele Initiativen und Demos, auch vor der russischen und ukrainischen Botschaft. Was macht man, wenn so etwas passiert? Fährt man hin? Schreibt man darüber? Wie kommt man mit der eigenen Unruhe zurecht? Ich wollte hinfahren, konnte es aber aus verschiedenen Gründen nicht. Ich wäre sehr gern dort. Nun bin ich hier und versuche, eine Brücke zu schaffen. Das ist schwieriger, aber auch sinnvoller. Eine Freundin von mir ist ebenso zerrissen wie ich. Sie ist Fotografin, lebt auch in Berlin und steht kurz vor einer Fotoausstellung* über die Menschen im Epizentrum der Massenproteste. Sie ist am Rande der Verzweiflung, weil sie eigentlich dort sein möchte und nicht weiß, was wichtiger ist. Ich wurde sogar von einigen beschimpft, dass ich nicht da bin.

Was für Menschen sind auf dem Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew, versammelt?

Ganz unterschiedliche Gruppierungen, auch nationalistische. In den Medien werden die Menschen immer auf Ost und West, auf Pro-Russland und Pro-Europa reduziert, aber das stimmt nicht. Das ist ein rein politisches Konstrukt. Diese Spaltung ist viel komplexer. Es gibt auch junge und alte Menschen im Osten des Landes, die für Europa sind. Die Grenze verläuft vielmehr über den Zugang zu Informationen. Im Osten sind viele arme Menschen, die nur den ersten Regierungskanal empfangen können. Inzwischen hat sich eine Initiative gegründet, die Facebook-Meldungen oder andere Nachrichten über den Widerstand ausdruckt und im eigenen Haus aufhängt, damit auch die anderen das lesen können. Die Demonstranten sind auch nicht alle Oppositionelle. Es ist einfach die ganze Stadt. Keiner kann diese Regierung mehr ertragen, die uns ins Gesicht spuckt. Sie wollen, dass die Regierung sie vertritt und respektiert. Es ist aber das Verdienst der Opposition, dass der Protest so lange friedlich blieb - und dass die Menschen stolz darauf waren.

Wann schlug die Stimmung um?

Der Wahnsinn begann mit dem Erlass der demokratiefeindlichen Gesetze am 16. Januar. Wofür Moskau drei Jahre brauchte, beschloss das Parlament in Kiew innerhalb von Minuten per Handzeichen. Das ist diktatorische Willkür! Neben dem Versammlungsverbot gibt es nun ein Gesetz, das dem Volk das Tragen von Masken und Helmen untersagt - selbst beim Fahrradfahren. Das ist totale Idiotie! Am nächsten Tag spazierten Tausende von Menschen in Kindermasken und mit Töpfen auf dem Kopf durch die Straßen. Ein weiterer Irrsinn ist die Aufforderung an alle Nichtregierungsorganisationen und Stiftungen, sich künftig als ausländische Agenten zu bezeichnen. So werden alle, die mit ausländischem Geld arbeiten, als Spione markiert. Und noch ein anderes Gesetz besagt, dass nicht mehr als fünf Autos hintereinander stehen dürfen. Das soll die Versorgungslogistik für die Demonstranten auf dem Maidan unterbinden.

Protestieren Frauen und Männer gleichermaßen?

Bei den großen Demos waren beide gleich vertreten, schätze ich. Bei Protestaktionen mit Übernachtungen sind die meisten Männer - die Frauen bleiben bei den Kindern. Aber medizinische Hilfe leisten Frauen aus dem ganzen Land. Im vorigen Jahr hat die Miss Ukraine Kaffee serviert. Mich hat die Rolle der alten Frauen beeindruckt: Erst kamen die Studenten, dann ihre Mütter, dann die Großmütter. Auf einem der Bilder sieht man alte Frauen, die mit Metallstangen Steine aus dem Kopfsteinpflaster schlagen und nach vorne tragen - zu den Jungen, die sie dann in Richtung Berkut (eine Spezialeinheit der ukrainischen Miliz) werfen. Das ist absolut unglaublich! Dabei sind alle gegen Gewalt - auch die, die werfen. Sie sehen keinen anderen Ausweg mehr.

Der 20-jährige Sergej Nigojan fiel der Gewalt auf dem Maidan zum Opfer.
Der 20-jährige Sergej Nigojan fiel der Gewalt auf dem Maidan zum Opfer.
© AP Photo/Maxim Dondyuk/dpa

Und inzwischen gibt es sogar Tote.

Der erste Tote, Sergej Nigojan, starb mit gerade mal 20 Jahren. Er stammte aus dem kleinen Dorf Bereznowatiwka, in der Nähe der Millionenmetropole Dnjepropetrowsk im Osten der Ukraine. Seine Eltern flüchteten 1992 aus der Region Berg-Karabach in Armenien vor dem armenisch-aserbaidschanischen Konflikt (einem der ersten in der Sowjetunion). Er selbst ist in der Ukraine geboren und kam nach Kiew, weil auch er mit Präsident Viktor Janukowitsch nicht zufrieden war. Alle haben ihn fotografiert, er war der vielleicht schönste Mann auf dem Maidan. Jetzt ist er tot - obwohl er nichts getan hat, wurde er in den Rücken geschossen. Er ist das Symbol für die eskalierende Gewalt zwischen den Regierungsgegnern und den Sicherheitskräften. Die Situation auf dem Maidan hätte sich schon längst entschärft, wenn die Berkut nicht in der dritten Woche des Widerstands nachts die Studenten auf dem Platz umkreist und geschlagen hätten - auch Frauen waren darunter. Erst danach kamen noch größere Massen.

Bisher hat Präsident Janukowitsch kaum Eingeständnisse gemacht. Haben Sie noch Hoffnung, dass er einlenken wird?

Ehrlich gesagt: kaum. Europa muss mehr Druck machen und sich klar positionieren. Es geht nicht um Einmischung, aber um ein Zeichen, eine Reaktion - direkte Verhandlungen der Außenminister mit Janukowitsch. Er hat sich selbst in eine Sackgasse getrieben. Ich weiß nicht, wie er da wieder rauskommen will. Wenn er nicht gewinnt, steht er vor Gericht. Diese Regierung sollte zurücktreten, am besten vollständig.

*(Yevgenia Belorusets, Fotoausstellung "Euromaidan. Besetzte Räume", vom 31.1. - 15.2. im Projektraum OKK in Berlin 13359, Prinzenallee 29)

Interview: Nicole Wehr Porträt: Susanne Schleyer/Suhrkamp Verlag

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel