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Pratima Joshi Als IT-Pionierin gibt sie indischen Slums eine Adresse

Pratima Joshi
Wer in einem Slum wohnt, bleibt unsichtbar. Das will Pratima Joshi ändern.
© Privat
Ihre Leidenschaft: Daten
Ihre Mission: Den Menschen in den Slums eine Adresse geben
Was ihr dabei hilft: Humor und Meditieren

Früher habe sie sich nie für Computer oder digitale Programme interessiert, sagt Pratima Joshi. Im Grunde tue sie das bis heute nicht, allen Auszeichnungen zum Trotz. "Ich war als Kind kein Techie, sondern habe gerne gesungen und gezeichnet, außerdem hat mich Forschen fasziniert", erzählt sie. Nach der Schule in Chennai, im Südosten Indiens, studierte die heute 59-Jährige deshalb Architektur ("die perfekte Mischung aus Kunst und Wissenschaft"), erhielt ihr Abschlusszeugnis an der renommierten Bartlett School in London und ging zurück nach Indien, um dort Häuser für arme Familien zu bauen.

Dabei entdeckte sie die Macht von Daten, denn die legen Missstände schonungslos offen. Und schon bald wurden die zu ihrem Lebensthema. Denn um ihre zahlreichen Bauprojekte in den Slums, von der einfachen Toilette bis zum Mehrfamilienhaus, besser planen zu können, hatte Pratima Joshi früh angefangen, die Viertel zu kartografieren – und damit hat sie bis heute nicht aufgehört. Seit inzwischen 30 Jahren sammelt sie mit ihrer Organisation Shelter Associates auf diese Weise Informationen über die Elendsviertel in Indiens Metropolen.

Sie nutzt die Daten auch, um Slumbewohner:innen endlich eine Adresse zu geben: Dafür wandelt sie die Angabe des Längen- und Breitengrads eines Ortes um in einen sogenannten Plus Code, eine Kombination aus Buchstaben und Zahlen. FRV5+2X Pune etwa markiert einen Lebensmittelladen in Laxmi Nagar, einem Slum in der Stadt Pune im Westen Indiens. Dort teilten sich bislang 5400 Menschen eine einzige Adresse, die Straßen des Viertels tragen keine Namen. Einzelne Häuser, Geschäfte und Familien waren deshalb nicht einfach zu erreichen – weder für Freundinnen und Lieferanten, noch für Hebammen, Rettungsdienste oder die Feuerwehr. Briefe, Pakete und Waren wurden am zentralen Sammelplatz der Siedlung abgelegt, einem mächtigen Banyanbaum.

Den Unsichtbaren eine Stimme geben

Ohne Adresse können Menschen aber auch kein Konto eröffnen oder Wahlunterlagen erhalten. Sie waren für den Staat unsichtbar. Eine politisch bequeme Lösung, denn Beschwerden einzureichen, staatliche Hilfen zu beantragen oder eine Bürgermeisterin zu wählen, die ihre Interessen vertritt, war für die Bewohner so unmöglich. Offiziell ist nicht einmal bekannt, wie viele Menschen in den Slums wohnen. So können die stark wachsenden Elendsviertel keinen Schatten werfen auf den Aufstieg der neuen Wirtschaftsmacht Indien unter konservativ-autokratischer Führung.

Durch ihre Arbeit setzt Pratima Joshi diese Menschen zurück auf die Agenda: Etwa 65 Millionen leben in den Slums des Landes, ohne sie würden viele Großstädte zusammenbrechen – davon ist die Aktivistin überzeugt. "Die Armen brauchen die Stadt genauso, wie die Stadt sie braucht." Denn sie arbeiten als Straßenverkäufer:innen, Boten und Müllsammler:innen – und halten so die Metropolen am Laufen.

Viele offizielle Stadtpläne aber zeigen ihre Viertel nur als weiße Flecken. Die Behörden wüssten kaum, wo Wasser- und Stromleitungen verlaufen, welche Wege durch die Slums führen, wie viele Menschen darin leben, kritisiert Joshi.

Eine wichtige Hilfe für Frauen und Mädchen

Shelter Associates wertet deshalb zunächst Satellitenaufnahmen aus, etwa von Google Earth. Dann beginnt die Arbeit vor Ort: Mitarbeitende der Organisation verzeichnen Grundstücksgrenzen und die Lage von Abwasserkanälen oder Müllhalden. Sie befragen auch die Bewohner:innen der einzelnen Häuser: Ist jemand in der Nachbarschaft besonders hilfsbedürftig, etwa eine alleinerziehende Mutter oder ein gehbehinderter alter Mann? Wo immer möglich, versucht die Initiative dann zu helfen: 27 000 Toiletten hat sie zum Beispiel schon in den Häusern von Armenvierteln errichtet – vor allem für Frauen und Mädchen eine wichtige Hilfe. Denn die mussten zuvor fürchten, auf dem Weg zur öffentlichen Toilette belästigt oder überfallen zu werden. Die Dankbarkeit dieser Frauen für das eigene einfache Bad sei schön und bedrückend zugleich, erzählt Joshi: "Viele erklären mir, sie würden sich jetzt abends endlich satt essen und auch genug trinken." Darauf hätten sie zuvor verzichtet, um nachts nicht raus zu müssen. Auch Häuser für besonders arme Familien baut die spendenfinanzierte Initiative – in enger Abstimmung mit den Bewohner:innen.

Längst gilt Joshi als IT-Pionierin in der Entwicklungshilfe, ausgezeichnet von der Uno, das Wirtschaftsmagazin "Forbes" zählt sie zu den 20 wichtigsten Frauen Indiens. Behörden nervt sie so lange, bis sie Vorschriften und Zusagen einhalten, ihre Daten stellt sie den Ämtern ohnehin zur Verfügung. Ihr habe im Kampf mit der Bürokratie stets ihr Sinn für Humor geholfen, sagt sie. "Und meine tägliche Meditation."

650 Armutsviertel Indiens hat sie bislang online kartografiert. Und noch immer schieße ihr das Adrenalin ins Blut, wenn sie neue digitale Technologien teste: "Das ist die pure Aufregung", sagt Pratima Joshi. Die Frau, die keine Daten mochte. Und jetzt so viel mit ihnen bewegt.

Brigitte

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